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Wiesbaden, 1.-4. November 2012:
Hoch
hinaus auf der Karriereleiter wollen sie alle, die Teilnehmer des
European Youth Circus. Das Wiesbadener Festival, welches 2012 abermals
in professioneller, aber trotzdem familiärer Atmosphäre mitten im
Herzen der Stadt stattfand, kann ein optimales Sprungbrett sein.
Das beweisen nicht zuletzt die Gewinner der vergangenen Ausgaben. Für
das Duo Elja (Gold 2008) ging es anschließend zum Cirque du Soleil, das
Duo Viro (Gold 2010) wird 2013 mit dem Circus Roncalli auf
Tournee sein. Dass es den aktuellen Gewinnern anders ergehen sollte,
würde schon verwundern. |
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Da
spricht schon die gebotene Qualität dieses „Nachwuchses“ für sich.
Hinzu kommen Sympathie und Ausstrahlung, die die Artisten in Zukunft zu
wirklichen Bühnen- und Manegenpersönlichkeiten werden lassen könnten.
Lisa Rinne, Passe-Pieds, Elisabeth Schmidt
Hoch
hinaus ging es dabei schon diesmal für alle Gewinner der Hauptpreise.
Durchgängig hatten sie sich (mehr oder weniger) dem Element Luft
verschrieben. Das Stichwort „Leiter“ wörtlich nahm gar die Gewinnerin
der Goldmedaille in der Altersgruppe II (18 bis 25 Jahre): Lisa Rinne
kombinierte auf eindrucksvolle Weise und mit einem ungekünstelten
Lächeln garniert originelle Tricks an einer Strickleiter und
atemberaubende Salti sowie Pirouetten am Schwungtrapez. Die
Oldenburgerin hatte schon auf den Festivals in Paris und Moskau mit
dieser Nummer für eine Überraschung gesorgt. Für eine solche sorgte dann auch
die Wiesbadener Jury bei der Preisvergabe und verlieh eine weitere
Goldmedaille – ein Novum in der Wiesbadener Festival-Geschichte – an das
belgisch-französische Trio DAC, das sich auf dem Schleuderbrett gen
Luft katapultierte. Neben spektakulären Sprüngen kommt hier auch die
Komik nicht zu kurz. Auf Humor setzte ebenfalls das weibliche Duo
Passe-Pieds (Eva Schubach und Yolaine Dooms), welches für seinen
Auftritt am Trapez die Silbermedaille bekam. Beide verzichteten auf
Musikbegleitung und ersetzten diese durch erklärenden Sprachwitz. Ihre
sehenswerten Kapriolen erhielten so eine besondere Note. Die
Bronze-Medaille ging an Elisabeth Schmidt, die im Sommer die Berliner
Artistenschule abgeschlossen hat. Zu wunderbarer Musik hatte sie ihre
Tücher-Darbietung um Schwungelemente und diverse Abfaller ergänzt.
Michael Betrian, Svaytoslav Rasshivkin, Adele Fame
In
der Kategorie der jüngeren Teilnehmer (10 bis 17 Jahre, Altersgruppe I)
gewann mit Michael Betrian zwar keine Luftnummer im klassischen
Sinne die Goldmedaille, seine wirbelnden Diabolos erreichten aber
ebenfalls locker die Zeltkuppel. Der niederländische Jungspund sprühte
vor Energie, und dieses Tempo übertrug sich auch auf Jury und Publikum.
Betrian darf sich außerdem auf ein Engagement beim Tigerpalast Frankfurt
freuen. Die beiden weiteren Hauptpreise in der Altersgruppe I erhielten
zwei Strapaten-Darbietungen. Silber ging an den mit elf Jahren jüngsten
Teilnehmer des Festivals, Svaytoslav Rasshivkin, der eine nahezu
perfekte Darbietung präsentierte. Musik, Kostüm, unglaubliche
Leistungen und ein einnehmender Charme ergaben eine perfekte Symbiose.
Wilder in der Aufmachung und mit interessanten Spagat-Tricks zum
Schluss der Nummer zeigte sich Adèle Fame (Elodie Weiser). Sie bekam
die Bronzemedaille.
Charlotte & Saphorine, Andre Stykan, Daniel Golla
Mit
dem „Preis der Herzen“ zeichnete das Publikum die komische
Vertikalseilnummer von Charlotte de la Breteque und Saphorine Petermann
aus. Beide hatten die Darbietung, in der sich wunderbar Slapstick mit
Akrobatik vermischt, für das Monti-Programm 2012 erarbeitet.
Atemberaubend waren auch die kraftstrotzenden Handstände des
Tschechen André Stykan. Dass er anders als noch beim „New
Generation“-Festival in Monte Carlo keinen der Hauptpreise abräumte,
zeigte wieder einmal, dass die Wiesbadener Jury besonders auf
Ausstrahlung sowie Originalität und weniger auf artistische Leistung
achtet. Stykans Auftritt zu epochalen Klängen aber hatte kaum eigenes
Profil und wirkte vielmehr wie die Reinkarnation eines Encho Keryazov.
Zum Trost gab es immerhin die Einladung zum Festival in Latina. Für den
ungewöhnlichsten Auftritt des Festivals sorgte Daniel Golla. Der
23-Jährige steuerte Modellflugzeuge durch das wieder von Sarrasani
gestellte Zelt und erzielte auch aufgrund der Schlagermusik-Begleitung
eine enorme Publikumsresonanz. Die Jury allerdings berücksichtigte ihn
nicht. Im Winter wird er bei Flic Flac in Dortmund zu sehen sein.
Amaury Vanderborght, Georgio, Julietta & Anna
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Auffallend
war, dass die Auswahlkommission diesmal kaum reine „Nouveau Cirque“-Darbietungen ausgesucht hatte. Am ehesten passt diese Beschreibungen
(neben Passe-Pieds) noch auf Amoury Vanderborght am Vertikalseil und
die Partnerakrobaten Julietta & Anna, die trotz starker Tricks
keinen Anklang bei der Jury fanden. Oder auf Alba Faivre, die als Clou
ihren Chinesischen Mast auch in Schrägstellung beherrschte. Sie bekam
den Sonderpreis der Schweizer Circusfreunde. Vielmehr dominierten heuer
klassische Nummern, die problemlos in jedem Circus oder Varieté
arbeiten könnten und dies zum Teil auch schon gemacht haben, denn
erneut war viel Circusnachwuchs zum Festival eingeladen
worden. Etwa Diabolo-Virtuose Georgio (Jirì Hromàdko) oder David
Larible Junior, der unter den vier Jonglage-Darbietungen, die am
Festival teilnahmen, besonders auffiel. Er zeigte eine technisch
hochwertige und fehlerfreie Vorführung mit Keulen, Ringen und Hüten und
erhielt dafür den Sonderpreis der GCD. Lokalmatador John Pathic hat
eine moderne Variante der Gentlemen-Jonglage mit Hüten einstudiert,
übertrieb es aber zuweilen mit seinen Tanzschritten. Weniger
überzeugend waren hingegen das finnische Trio Passaus und der Moldawier
Gussar.
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Black Roses, Alesya
Laverycheva, Momento di Passione
Auch
in der Sparte Hula-Hoop gab es gleich mehrere Bewerber. Den größten
Anklang fand dabei der 13-jährige Husik aus der Ukraine, der mit Tempo,
Ausstrahlung und seltenem Schlusstrick (Hula Hoop um die Nase)
aufwartete. Daria & Polina sowie die „drei Grazien“ konnten da nicht
mithalten. Ganz klassisch arbeiteten auch die vier „Black Roses“ auf
dem Einrad, „Momento di Passione“ (Partnerequilibristik), Elizaveta
Reznichenko an Tüchern und Handstandequilibristin Alesya Laverycheva.
Sie alle wurden an Circusschulen ausgebildet, ebenso wie die
Gerasymenko Brothers mit eher konventionellen Kaskaden rund um einen
Tisch. Immerhin setzten sie wie Charlotte & Saphorine und Juras
Pratusevicíus auf Live-Musik. Gerade letzterer punktete auf dem Einrad
zu den fetzigen Klängen der Band. Daneben spielten die sieben Musiker
nur noch bei Opening und Finale. Man hätte ihnen mehr Einsätze
gewünscht.
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Natascha Berg,
animierter Artisteneingang
Über
reichlich Festival-Erfahrung verfügt mittlerweile Moderatorin Natascha
Berg. Nach ihrer Premiere beim EYC vor zwei Jahren, führte sie danach
auch in Latina durchs Programm. Auch heuer machte sie ihre Sache
ausgesprochen gut, überbrückte die Umbaupausen mit Informationen und
fieberte mit den Artisten mit. Selbiges galt auch für die Jury, diesmal
bestehend aus Rebecca Siemoneit-Barum, Anastasia Voladas (Artistin),
Rocco Liguori (Festival Latina), Alfred Reichle (Präsident Schweizer
Circusfreunde) und Frans Cuijpers (ECA). Sprecher der Jury war erneut
Tigerpalast-Chef Johnny Klinke.
Einen richtigen Glücksgriff hatten die Festival-Macher auch mit
Regisseur Sebastiano Toma gemacht. Der gebürtige Italiener, jahrelang
in den Hamburger „Fliegenden Bauten“ beschäftigt und zuletzt als freier
Theatermacher unterwegs, hatte zusammen mit Choreografin Sofia Spyratou
für das wunderbare, wenn auch etwas zu lang geratene Opening der
Auswahl- und Galashows gesorgt. Die teilnehmenden Artisten fanden sich
in einer Schule wieder, lernten gemeinsam und hatten zusammen Spaß.
Aber jeder von ihnen träumte auch von der eigenen Zukunft, und so
deuteten sich die (nachher folgenden) Darbietungen an. Das Ganze
erinnerte ein wenig an Trockenschwimmübungen für Artisten, ließ aber
erahnen, was später kommen würde. Das Schulmotiv wurde dann zur Pause
noch mal mit Papierfliegern und im Finale mit einem gemeinsamen Tanz
aufgenommen. Richtig genial war Tomas Idee der wechselnden
Hintergrundprojektionen. Zeichnungen oder auch kleine Installationen
wurden live in der Regie-Loge erstellt und dann via Beamer auf den
Artisteneingang projiziert. Jeder Künstler erhielt so seine
persönliche, dem Charakter der Nummer angepasste visuelle Begleitung.
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Text: Benedikt Ricken; Fotos: Stefan Gierisch
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