Doch die
Sache hat auch einen positiven Aspekt: Wir bekommen einige
Nummern zu sehen, die hier noch nicht zu erleben waren. Darunter
durchaus spannende Neuentdeckungen. Insbesondere die Besetzung
im Bereich Clownerie stellt eine echte Novität dar. Hinzu kommt
das Tempodrom als aufgrund seiner rund angelegten Architektur
bestens geeigneten Location für eine Circusshow.

Szene
aus dem Opening
Schon vor
dem Beginn des Spektakels ist der Marktplatz des italienischen
Dorfs, sprich die in
Pflasterstein-Optik ausgelegte und von einer Mauer umgebene
Manege, belebt. Menschen in historischen
Kostümen treffen sich, an Ständen werden Waren angeboten. Die
Zuschauer sind eingeladen, den Platz mit einem Brunnen im
Zentrum zu betreten, Fotos mit den Bewohnern zu machen oder
gebrannte Mandeln zu kaufen. Den Hintergrund bildet neben einer
Häuserzeilen-Kulisse der angepasste mediterrane Artisteneingang,
mit dem Roncalli vor vielen Jahren auf Tournee war.

Circusdirektor Oliver Polak
Mit dem
offiziellen Beginn des Abends fahren zwei Circuswagen auf den
Platz, die Compagnie sitzt darauf oder kommt zu Fuß herein. Es
wird bunt, es wird fröhlich, es wird ausgelassen. In einem
Charivari lässt etwa ein starker Mann seine Muskeln spielen. Das
Orchester, ein von Roncalli-Chefmusiker Georg Pommer
zusammengestelltes Ensemble, spielt wunderbar auf und begleitet
ganz fantastisch das weitere Programm. Die attraktiven Damen und
Herren des Balletts sind dabei. Auch sie erleben wir noch des
Öfteren. Als Circusdirektor fungiert Oliver Polak. Der Autor,
Comedian und Entertainer ist ausgewiesener Circus-Liebhaber.
Optisch gibt er einen Direktor aus dem Bilderbuch. Mit Frack,
Zylinder, Stock und einer ordentlichen Leibesfülle verkörpert er
den Chef der Truppe eindrucksvoll. Mit Hilfe einer Flüstertüte
macht er die ersten Ankündigungen. Seinen folgenden Moderationen
sind mit einem wunderbaren leichten Sarkasmus gewürzt.
Allerdings hätte ich mir, passend zur stattlichen Figur, ein
deutlich lauteres Auftreten gewünscht. Traumhaft, wie immer bei
Roncalli, ist das Lichtdesign. Ein großer Pluspunkt für die
Gesamtwirkung der Vorstellung.
  
Freddy
Nock und Partner, Gabor Vosteen, Duo Adventures
Den
artistischen Auftakt macht, als nahtlosen Übergang aus dem
Charivari, die Truppe Banquinbar aus Kolumbien. Mit Handvoltigen
sorgen die Dame und die fünf Herren weiter für ordentlich
Schwung. Als Don Camillo und Peppone wagen sich Freddy Nock und
Partner auf das Hochseil. Wir sehen etwa das Erklimmen der
Plattformen über das Schrägseil, das gegenseitige Überspringen
und das Zwei-Mann-Hoch. Nach diesem gemeinsam zelebrierten
Nervenkitzel hoch über dem Marktplatz sind die beiden zurück am
Boden weiterhin über Kreuz. Die Versöhnung zwischen Hochwürden
und Bürgermeister gelingt (noch) nicht. Gabor Vosteen macht,
wenn auch dunkelhaarig, mit seiner Frisur Bello Nock Konkurrenz.
Der Blockflöten-Virtuose war bereits mit „Circus Roncalli –
Salto Vitale“ auf Tournee. Er schafft es spielend auf mehreren
seiner Instrumente gleichzeitig zu musizieren. Die Luft dafür
produziert er nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit der Nase.
So entstehen neben wunderbaren Tönen ebenfalls witzige Posen.
Adagio-Akrobatik und Balljonglagen verbindet das Duo Adventures
und schafft so einzigartige Bilder. Etwa wenn Zhenya im Spagat
Bälle auf Finger- sowie Zehenspitzen rotieren lässt und sich auf
den Fingern des hinter ihr stehenden Partners Mikhail zwei
weitere Bälle drehen. Fünf der bunten Bälle jongliert Mikhail im
Solo.
  
Vioris
Zoppis, Pastelito de Chile, Oscarita
In einem
Tanz des Balletts tragen dessen Mitglieder elegante historische
Kostüme zur Schau. Herr Direktor ist ebenfalls dabei. Gefühlt
gibt Vioris Zoppis bei seinen Auftritten immer mehr als 100
Prozent. Seine Darbietung am Boden und an den Strapaten ist
stets voller Intensität, elektrisiert die Zuschauer. Das ist im
Tempodrom nicht anders. Hier tritt er in edler kurzer Hose,
weißem Unterhemd und schwarzen Socken auf. Dazu gibt es
Hosenträger und Sockenhalter. Handstände am Boden wechseln sich
mit trickstarken Sequenzen in der Luft ab. Es ist immer wieder
ein Erlebnis, dem jungen Italiener zuzusehen. In etwa genauso
viel Energie transportiert der nächste Künstler bei seinem
Auftritt in Richtung Zuschauerreihen. Pastelito de Chile ist ein
Vollblut-Clown. Auch er gibt für das Berliner Publikum alles.
Aufgedreht absolviert der Artist, der in seiner Heimat einen
eigenen Circus betreibt und im Fernsehen populär ist, seinen
Auftritt. In Begleitung seines Sohnes Junior, der den (halbwegs)
seriösen Part gibt, spielt er auf den unterschiedlichsten
Instrumenten. Gesang gibt es ebenfalls. Letztendlich ist es eine
deutlich andere Variante der Clownsfigur, wie wir sie kennen.
Sehr extrovertiert, verspielt, ausgelassen-kindlich. Ich habe
diese circensische Horizonterweiterung in jedem Fall in vollen
Zügen genossen. Das Publikum deutlich hörbar auch. Außerdem mit
dabei ist Pastelitos Tochter Oscarita. Wir erleben sie mit
Luftakrobatik an einem prächtigen Kronleuchter sowie an den
Römischen Ringen. Dabei entsteht ein eindrucksvolles Fest für die Augen. Die
musikalische Begleitung übernehmen Vater und Bruder
mit Saxophon sowie Gesang.
  
Duo Cardio, Truppe Banquinbar, Marika Gould
Eine Badeanstalt aus längst vergangener Zeit bildet die Kulisse
für den folgenden Auftritt des Balletts. Wenn die Tänzerinnen
und Tänzer gerade nicht in einer Choreographie zu sehen sind,
nehmen sie auf Liegestühlen sowie in einem Strandkorb Platz.
Modisch begeben wir uns etliche Jahrzehnte zurück. Die
herrliche, mit einem Augenzwinkern gespielte Szene bildet die
Einleitung für das Duo Cardio. Solene und Rodrigo tragen bei
ihrer Perche-Akrobatik ebenfalls historische Bademoden. Zum
Einsatz kommen Stirn- und Schulterperche in unterschiedlichen
Ausführungen. So balanciert Rodrigo seine Partnerin auf der
Stirn über eine Leiter, während sich diese einige Meter weiter
oben im Gleichgewicht hält. Das Ballett der Köchinnen und Köche
läutet zur Pause. Zu Beginn des zweiten Teils erleben wir die
Mitglieder des Balletts dann schon wieder. Gefolgt von der
Truppe Banquinbar. Diesmal begeistert das Sextett aus Kolumbien
mit Stangenwurf sowie Akrobatik am Russischen Barren. Die
waghalsigen Sprünge in luftiger Höhe werden sicher auf kleiner
Fläche gefangen. Während der Saison 2022 war Marika Gould als
Teil der Luna Girls bei Roncalli am Luftring engagiert. Jetzt
arbeitet die Kanadierin eine sinnliche Kür an weißen Tüchern.
Gewagt wickelt sie sich in immer schnelleren Umdrehungen hinab
Richtung Manegenboden. Die Gesichter der Canaval Twins sehen wir
erst beim Schlusskompliment. Ihre Passings mit leuchtenden
Keulen zeigen die Brüder aus Österreich im Dunkeln. Dabei stehen
sie zumeist auf illuminierten Würfeln. Alle Requisiten wechseln
während ihres Auftritts die Farben. Ohne Frage bieten die
Canaval Twins anspruchsvolle Jonglagen, die aufgrund des
fehlenden Lichts noch schwieriger werden. Nichtsdestotrotz wirkt
die Nummer so etwas anonym.
  
Lili Paul-Roncalli, Pastelito de Chile, Nirio
Rodriguez Tejeda
Noch einmal unternimmt Circusdirektor Oliver Polak den Versuch,
Don Camillo und Peppone zu versöhnen. Dafür schickt er Freddy
Nock und Partner auf zwei schwankende Masten. Nachdem sie an
deren Spitzen unter anderem den Platz getauscht haben, liegen
sie sich zurück auf dem Marktplatz in den Armen. Versöhnung
geglückt. Corona-konform bindet Gabor Vosteen mehrere Gäste aus
dem Publikum in sein Musizieren mit Blockflöten ein. Die
Instrumente werden vor Übergabe mit Desinfektionsspray gereinigt
und durch eine verlängerte Hand gereicht. Das Prozedere ist
natürlich Teil eines herrlichen Spaß, den er gemeinsam mit
seinen Musiker-Kollegen ehrenhalber treibt. Es folgt eine
äußerst witzige musikalische Aufführung. Dann haben wir einmal
mehr die Freude, Lili Paul-Roncalli zu erleben. Seit dem Gewinn
der RTL-Show „Let's dance“ genießt sie große Popularität und ist
verstärkt auch außerhalb des Circus der eigenen Familie
unterwegs. Nun also wieder ein Heimspiel, bei dem sie ihren
Körper elegant verbiegt und zusätzlich auf Händen sowie Füßen
Tücher rotieren lässt. Noch einmal gibt es Clownerie aus Chile.
Pastelito motiviert seinen Sohn, sich ebenfalls als Clown zu
kleiden. So wird Junior mit rotem T-Shirt und rothaariger
Perücke zu einer jüngeren Ausgabe seines Vaters. Mit
Unterstützung von Oliver Polak lassen sie einen Jungen aus dem
Publikum schweben. Während hier ganz offensichtlich getrickst
wird, überzeugt Nirio Rodriguez Tejeda mit der Kraft seiner
Muskeln. Der Modellathlet aus Kuba zelebriert eine starke
Handstand-Kür. In nahezu allen denkbaren Varianten hält er sich
auf einem sowie zwei Händen im Gleichgewicht. Im freistehenden
Kopfstand dreht er sich einmal um 360 Grad. Es folgt ein
Roncalli-Finale vom Feinsten. Mit Luftballons, mit bunten
Papierstreifen aus der Kuppel, mit allen Mitwirkenden, mit
traumhaftem Licht, mit herrlicher Musik und mit kleinen
Kabinettstückchen. Und dann fährt einer der beiden Circuswagen
nach mehreren Runden in der Manege durch den roten Vorhang des
Artisteneingangs. Auf seinem Balkon am Ende sitzen Gabor Vosteen,
Oliver Polak und Pastelito. Der Circus verlässt das Dorf wieder,
die Vorstellung ist fertig, die Geschichte ist zu Ende erzählt. |