Anfang
Dezember 1887 fand in dem imposanten Gebäude im Neorenaissance-Stil die
erste Circusvorstellung statt. Circusdirektor Oscar Carré hatte den Bau
errichten lassen, um dort im Winter eine Spielstätte für sein
Unternehmen zu haben.
Königliches Theater Carré
Heute
findet das 2004 geschmackvoll renovierte Haus vor allen Dingen als
Theater Verwendung. Klassische und zeitgenössische Konzerte locken die
Besucher. Von Mitte Dezember bis Anfang Januar wird das Gebäude wieder
gemäß seines ursprünglichen Zwecks verwendet. Dank Stardust Circus
International und Interpresario wird hier Circus gespielt –
Wereldkerstcircus. In diesem Winter bereits zum 32. Mal. Dann werden
die Sitze im Parkett entfernt, um an dieser Stelle eine Manege
einzubauen. Dafür dürfen einige Zuschauer dort Platz nehmen, wo sonst
ihre Stars auftreten. Auf der Bühne. Die steil ansteigenden Ränge
erlauben spannende Blicke auf das Geschehen. Ob unmittelbar an der
Manege, in den erhöhten Logen oder ganz oben unter dem Dach, jede
Perspektive hat ihre eigenen Reize. Das Orchester sitzt in einem „Nest“
über der Bühne. Das wunderbare Lichtdesign schafft zusätzlich
Atmosphäre. Ganz hervorragend in diesem Rahmen passt Tony Wilson. Der
Sprechstallmeister strahlt eine Noblesse aus, die perfekt mit der
gesamten Szenerie harmoniert. In steifer, aber sehr sympathischer Weise
kündigt er die einzelnen Darbietungen an. Die Formulierungen lehnen
sich an jene an, die wir vom Weltweihnachtscircus in Stuttgart kennen.
Fredy Knie Jr.
Dort
konnten wir im Winter 2015/16 auch viele der fantastischen Nummern
erleben, die jetzt in Amsterdam gezeigt werden. Allen voran das groß
herausgestellte Pferdekarussell des Schweizer National-Circus Knie. In
Stuttgart noch von Maycol Errani vorgeführt, steht nun Fredy Knie Jr.
im Mittelpunkt der drei Bahnen mit insgesamt 26 Pferden. Der
Grandseigneur der Pferdedressur und Circusdirektor feierte 2016 seinen
70. Geburtstag. Seit 65 Jahren steht er in der Manege. Schon in seiner
Begrüßung weist Monsieur Loyal Tony Wilson auf seinen Auftritt hin. Das
Programmheft widmet ihm mehrere Seiten. Und natürlich hat Fredy Knie
Jr. einen prominenten Platz im Programm. Direkt vor der Pause
präsentiert er gewohnt gekonnt anspruchsvolle Dressurbilder mit
ausgewählt schönen Pferden. Mittelpunkt ist das Karussell.
Einen zusätzlichen, für mich nicht unbedingt notwendigen, Effekt geben
die beleuchteten Geschirre, die im abgedunkelten Saal zur Wirkung
kommen. Zahlreiche Steiger runden die Vorführungen ab. Das Publikum
feiert Fredy Knie Jr., der schon viele Saisons im Wereldkerstcircus
Carré absolviert hat. Wunderbar unterstützt wird – nicht nur diese –
Nummer durch die Musik des Orchesters. Kein Wunder, spielt doch die
Knie-Formation unter der Leitung von Ruslan Fil.
Jozsef Richter, Diabaolospiele und Reifenspringer vom Chinesischen Staatscircus
Der
einzige Wermutstropfen dieser Show ist, dass es außer Pferden keine
anderen Tierarten zu sehen gibt. Jozsef und Merrylu Casselly verzaubern
uns mit einem Pas de deux zu Pferd. Das seit nicht ganz einem Jahr
verheiratete Paar harmoniert wunderbar. Ihre Kür enthält viele
schwierige Tricks, „You'll be in my heart“ von Phil Collins gehört zur
musikalischen Begleitung. Lebhafter geht es bei der Jockeyreiterei vor
dem Finale zu. Zackige ungarische Folklore gibt den Takt vor und ist
auch stilgebend für die Kostüme. Joszef und Merrylu Richter stehen im
Mittelpunkt. Begleitet werden sie von verwegenen Reitern und
Tänzerinnen. In atemberaubendem Tempo präsentieren sie in Perfektion
all das, was man von solch einer Reiterei erwartet. Zum Schluss lässt
Jozsef die ungarische und die niederländische Fahne auf dem
Pferderücken fliegen. Ein manegenfüllendes Bild, das jeden mitreißt.
Für ein volles Rund sorgen auch die beiden Truppen vom Chinesischen
Staatscircus. Die Damen jonglieren liebreizend mit Diabolos, die Herren
springen elegant durch Reifen. Höchstes artistisches Können ist
garantiert, wurden doch beide Nummern mit einem Goldenen Clown
ausgezeichnet. Dank ausgefeilter Choreographien ergibt sich daraus ein
faszinierendes Gesamterlebnis.
Luftnummer vom Nationalcircus von Pjöngjang
Eine
große Formation hat zudem der Nationalcircus von Pjöngjang nach
Amsterdam entsendet. Die Raumfahrt stand Pate bei der Gestaltung dieser
spektakulären Darbietung. Bis ins Weltall fliegen die tapferen
Astronauten – eine Dame und acht Herren - nicht, dafür aber bis fast
unter die Kuppel des Theaters. Eine Russische Schaukel bildet quasi die
„Abschussrampe“. Ganz oben wartet ein Fänger auf die Flieger. Auf
halber Höhe gibt es zudem zwei nebeneinander stehende Fänger. Dieser
Aufbau lässt viele Flugvarianten zu, die die Nordkoreaner mutig wagen.
Ein Riesensatz über die volle Distanz von 20 Metern gehört
selbstverständlich zum Repertoire. Nicht ganz so hoch hinaus geht es
für die sieben Damen der Truppe Skokov. „Über den Wolken“ haben sie
ihre Nummer an zwei Russischen Schaukeln überschrieben. In einer
durchgehenden Choreographie mit tänzerischen Elementen fliegen sie
durch die Lüfte von Schaukel zu Schaukel oder von der Schaukel auf eine
Matte. Dabei tragen sie lange hellblaue Röcke, wodurch wunderschöne
Effekte erzeugt werden. Abschluss ist hier der doppelte Sprung „über
Kreuz“. Deutlich rauer geht es bei der Kolykhalov-Truppe zu.
Schließlich sind hier handfeste Piraten zugange. Am Reck springen sie
sehr gewandt von Stange zu Stange. Kraftvolle Akrobatik wird hier mit
Seeräuber-Attitüde gepaart. Kreiert hat diese Darbietung Askold
Zapashny, der artistische Direktor des Großen Russischen Staatscircus.
Picaso Jr., Encho Keryazov, Yves und Ambra
Bestens
bekannt von Engagements in hiesigen Unternehmen sind Picaso Jr., Encho
Keryazov sowie Yves und Ambra. Piacaso Jr. fasziniert wie eh und je mit
seinem traumwandlerischen Spiel mit Tischtennisbällen. Zunächst
jongliert er die kleinen Zelluloid-Kugeln mit einem Holzschläger, dann
mit dem Mund. Zu Höchstform läuft der Publikumsliebling auf, wenn er
Plastikteller durch die Luft fliegen lässt. Dann verfolgt er sie quer
durch den Zuschauerraum und bezieht die Gäste in sein Spiel mit ein.
Schon mit seinem eindrucksvollen Körper beeindruckt Encho Keryazov das
Publikum. Souverän lässt er seine Muskeln spielen, um seine perfekt
inszenierte Handstandakrobatik aufzuführen. An den Klötzchentrick
schließt sich ein Einarmer auf einer sehr hohen Stange an. Muskelkraft
benötigen auch Yves und Ambra Nicols. Bei ihrer Artistik an Tüchern
wechseln sie sich beim tragenden Part ab. Mal hält Ambra Yves fest,
mal ist es umgekehrt. Die anspruchsvollen Figuren verpacken sie in
einen sinnlichen Tango; Leidenschaft pur. Hinzu kommt der Livegesang
von Yves. Von jedem Platz ergibt sich eine andere, interessante
Perspektive auf die Flugsequenzen, die in enormer Höhe gearbeitet werden.
Brumbachs, Alexander Batuev, Duo Miracle
Im
wahrsten Sinne des Wortes „heiße“ Action bringen die Brumbachs ins
Theater Carré. Im Lederoutfits kommen sie auf einem schweren Motorrad
in die Manege. Präzise wirft Patrick Brumbach Messer und andere
Requisiten auf ein Brett. Immer knapp am Körper seiner daran stehenden
Partnerin vorbei. Nervenkitzel ist also garantiert. Komplettiert wird
die Show durch spektakuläre Feuerspiele von Henry Gassmann. Ein
ungewöhnliches Outfit für einen Klischnigger hat sich Alexander Batuev
ausgesucht. Seine unglaublichen Verrenkungen arbeitet er als smarter
Business-Manm in schwarzer Hose, weißem Hemd und Krawatte. Der
25-jährige Russe verbiegt seinen Körper so, dass einem schon vom
Zusehen alle Knochen wehtun. Am Ende faltet er sich selbst akkurat in
eine Metallkiste. Der Kontorsion verschrieben haben sich Evgeniya und
Roman. Als Duo Miracle zeigen sie ein Pas de deux am Boden. Bei diesem
sinnlichen Ballett dehnen sie ihre Körper so, als wären sie wirklich
aus Gummi. Es ist eine innovative Präsentation dieser Disziplin, die
spannende Eindrücke vermittelt.
Rob Torres und Tony Wilson
Endgültig
ins Herz geschlossen habe ich Rob Torres. Nachdem ich ihn bereits bei
verschiedenen Produktionen erleben durfte, hat er mich in Amsterdam
vollends für sich gewonnen. Der Clown aus New York gibt den
vermeintlich kleinen Jungen, der die Welt mit kindlichen Augen sieht. Tollpatschig spaziert er durchs Leben. Allerdings hat er es faustdick
hinter den Ohren. Ungeniert lebt er kleine Gemeinheiten aus. Dann
wieder freut er sich wie ein Kleinkind, wenn dem Mädchen aus dem
Publikum die Tricks gelingen, die er ihr gezeigt hat. Zudem hat er ein
beneidenswertes Timing. Und das nicht nur innerhalb seiner Auftritte.
Er betritt immer genau dann die Szenerie, wenn das Programm eine
Auflockerung benötigt. Immer ist er höchst willkommen, nie nervt er,
nie wirkt er zu aufdringlich.
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