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Neues Theater - Varieté-Frühling 2022
www.neues-theater.de - 81 Showfotos

Frankfurt-Höchst, 8. Juni 2022: Der Frühling kommt in diesem Jahr spät in den Frankfurter Westen. Er beginnt an einem regnerischen Mittwochabend Anfang Juni. Zumindest nach dem Varieté-Kalender des Neuen Theater Höchst. Corona hat diesen einmal mehr durcheinandergewirbelt. Aufgrund des Pandemie-Geschehens haben die Verantwortlichen den Varieté-Frühling um drei Monate nach hinten verschoben. In eine Zeit, in der das Haus für gewöhnlich geschlossen ist. Nun muss sich zeigen, ob das Publikum den ungewohnten Platz annimmt.

Was die Show selbst angeht, so ist keine großartige Umstellung notwendig. Sie folgt dem bewährten Konzept, nach dem die eigenständigen Darbietungen durch einen Conferencier verbunden werden. Zusammengestellt wurde sie von Frank Ruprecht. Dankenswerterweise gibt es wieder Livemusik. Die wunderbare Band Neelah ist zum zweiten Mal dabei und musiziert immer dann, wenn es sinnvoll möglich ist. Eine echte Bereicherung.


Neelah, Jannis Arséne

Das Quartett mit Sängerin Nicole Siegel spielt bereits vor dem Beginn der Show. Die Songs gehen direkt in das Öffnen des Vorhangs über. Es entsteht ein fließender Einstieg in die eigentliche Begrüßung. Diese übernimmt Karl-Heinz Helmschrot, der uns auch durch den Abend begleitet. 1994 sah ich ihn erstmals im Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté. Als „Entertainer der neuen Generation“ bezeichnete ihn das Programmheft damals. Inzwischen verkörpert er den Entertainer klassischen Stils, wie schon seine Bühnengarderobe erahnen lässt. Helmschrot tritt in Hose, Hemd, Krawatte, Weste und Baskenmütze auf. „Ode an den mitgenommenen Mann“ heißt das Gedicht, welches er zu Beginn mit live gespielter Hintergrundmusik vorträgt. Zu seinen Aufgaben gehört es ebenfalls, die Künstlerinnen und Künstler der Show anzukündigen. Das tut er ganz wunderbar und immer sehr wertschätzend für seine Mitstreiter. Den Auftakt macht Jannis Arséne. Sein Requisit bezeichnet er selbst als „Spinning Sticks“. Das sind zwei sehr lange Handstäbe, die auf einer drehbaren Plattform stehen, welche wiederum den Mittelpunkt einer Plattform mit größerem Durchmesser bildet. Darauf zeigt Jannis Arséne sehr effektvolle ein- und zweiarmige Handstände. Als Clou hält er sich seitlich an einer der Stangen fest und rotiert mit ihnen. Das Wort „Moderation“ hat zehn Buchstaben. Für jeden davon hat Karl-Heinz Helmschrot ein Zigarrenkistchen vorbereitet. Mit den Kistchen, aber auch den aus den Lettern zu bildenden Worten lässt sich wunderbar jonglieren. Beides tut Hemlschrot auf sehr amüsante Weise.


Pranay Werner, Tori Boggs, Karl-Heinz Helmschrot

Mit dem Jonglieren bestens vertraut ist natürlich auch Pranay Werner. Sein Metier sind die Diabolospiele. 2015 wurde er damit beim Circusfestival von Monte Carlo ausgezeichnet. In Höchst erlebt nun seine neue Darbietung ihre Weltpremiere. „Eine zeitgenössische Diabolo-Darbietung über das Entdecken einer Leidenschaft, das Spielen und das Sein. Geführt von großem Optimismus und von Naivität. Die Höhen und Tiefen des Lebens, das Herauskämpfen, das Loslassen und das Wachsen. Über das Leben eines Traums, der bis zum jetzigen Zeitpunkt anhält...“, so beschreibt Werner seine Performance selbst. Die meisten der Tricks hat der 30-jährige selbst entwickelt. Es ist eine intensive Arbeit, die einen vollends für sich einnimmt. Befreiendes Lachen auf verschiedene Arten demonstriert sodann Karl-Heinz Helmschrot. Dafür, dass die Show ordentlich Fahrt aufnimmt, sorgt Tori Boggs. Sie ist 31-malige Weltmeisterin in ihrer Disziplin, dem Seilspringen und gehörte bereits zum Ensemble des Cirque du Soleil. Wie ein Wirbelwind fegt sie über die Bühne und fasziniert mit atemberaubenden Sprungkombinationen. Dazu gibt es ein geniales Zusammenspiel mit Neelah. Die Band und Boggs pushen sich gegenseitig, dass es eine wahre Freude ist. Hier wird sportliche Akrobatik auf höchstem Niveau präsentiert, die einen mitreißt. Karl-Heinz Helmschrot jongliert ein weiteres Mal. Nun mit Hut, Ball und einem aufgespannten Regenschirm.


Duo Sienna, Samaki

Dann löst das Duo Sienna seinen mit einem Auftritt verbundenen Preis des Neuen Theaters beim European Youth Circus 2016 ein. In Wiesbaden stellten sich Sina und Vienna am Pole dem Wettbewerb. Nun erleben wir sie am Luftring. Sie überraschen mit ungewöhnlichen, sehr starken Tricks, welche sie zu einer äußerst sinnlichen Kür zusammengestellt haben. Es entstehen traumhafte Bilder, denen man sich nicht entziehen kann. An dieser Stelle ebenfalls ein großes Lob an die Lichtregie. Herrlich gestaltet ist der Einstieg in den zweiten Programmteil. Während das Publikum nach der Pause wieder in den Saal kommt, musizieren dort bereits Karl-Heinz Helmschrot und Neelah gemeinsam. Dieses Zusammenspiel geht über in den Beginn der weiteren Show. Helmschrot tauscht die Gitarre gegen Säge und Bogen. Auch darauf versteht er es, wunderbar zu spielen. Samaki einem Genre zuzuordnen ist schlichtweg unmöglich. Dazu ist die blonde Italienerin einfach zu vielseitig. Sie steppt, sie jongliert mit Hüten, sie schauspielert und sie interagiert wunderbar mit dem Publikum. So erleben wir eine außergewöhnliche Darbietung voller Lebensfreude, die einfach ansteckend ist.


Sheyen Caroli, Kenris Murat und Aurélia, Karl-Heinz Helmschrot

Klassische Circuskunst wiederum hat Sheyen Caroli mit nach Höchst gebracht. Seit ihrer Kindheit hat sie sich der Kontorsion verschrieben. Gekonnt und sehr sympathisch beweist sie die Beweglichkeit ihres Körpers. Extreme Verrenkungen wirken hier ästhetisch. Einen Weltrekord hält die Vertreterin der weit verzweigten italienischen Circusfamilie im Bogenschießen mit den Füßen. Der Rekord bezieht sich auf die Entfernung zur Zielscheibe. Diese Dimensionen bietet die Bühne des Neuen Theaters natürlich nicht. Umso spielender beweist Sheyen Caroli auf kurzer Distanz ihre Treffsicherheit. Vor dieser Nummer erzählt uns Karl-Heinz Helmschrot mit Hilfe von Gitarre und Kerze, wie der Flamenco entstanden ist. Danach dienen ihm Tischtennisbälle dazu, verschiedene Sprachübungen zu vollführen. Illusionen und Tango verbinden Kenris Murat und Aurélia. Er beginnt, sie kommt hinzu. Da werden Karten manipuliert, da wird mit dem Feuer gespielt, da regnet es scheinbar aus dem Nichts Papierschnipsel. Das Ganze verpackt in einen ausdrucksstarken Tanz. Eine alles andere als alltägliche Zusammenstellung. Damit ist der Abend noch nicht zu Ende, denn das Finale wird wieder ganz groß gefeiert. Jedes Ensemblemitglied überzeugt die Gruppe nochmal von seinen Fähigkeiten. Es wird ein kleiner, sehr freundschaftlicher Battle. Bei einem gemeinsamen Bild schließt sich der Vorhang ein letztes Mal.

Das dreimonatige Warten auf den Varieté-Frühling hat sich definitiv gelohnt. Diese Produktion befriedigt den Hunger auf Live-Entertainmet vieler Menschen aufs Beste. Nach langer Entbehrung kann man endlich wieder rausgehen und etwas er-leben. Im Neuen Theater wird reine Lebensfreude zelebriert. Die Show ist vielfältig, kreativ gestaltet und wunderbar besetzt. Mit vielen bis dato unbekannten Gesichtern. Sie hat eine fantastische Begleitung durch die Band Neelah sowie das Lichtdesign. Und im November gibt es schon das nächste Programm.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch