Gezeigt werden
soll das Leben in der Wagenburg, die Vorbereitung auf den Auftritt am
Abend. Die Ausstattung, die Auswahl der Künstler, die in das Konzept
passen, die Gestaltung der Show: Ralph Sun gelingt es wirklich, ein
authentisch wirkendes Bild des „fahrenden Volkes“ am Beginn des 20.
Jahrhunderts, einer Sideshow, zu zeichnen.
Wir erinnern uns: Im
Winter hatte Sun eine Art „Roadmovie“ durch die USA mit heißem
Rock’n’Roll und burlesken Striptease-Szenen kreiert, als nächstes folgt
eine Hommage an Edith Piaf: Das herkömmliche Nummernvarieté mit einer
Reihe von artistischen Darbietungen, durch eine Conférence lose
zusammengefügt, hat der Friedrichsbau unter seiner Ägide hinter sich
gelassen. Suns Themenshows bieten alle Chancen auf begeisternde
Show-Abende – und gehen damit aber auch nicht auf Nummer sicher, wie es
herkömmliches Varieté tut. Sie bergen ein höheres Risiko. Und so müssen
wir bekennen, dass uns „Nostalgia“ am Vorpremieren-Abend nicht so sehr begeistern konnte wie etwa das
furiose Vorgänger-Programm „Sugar Blue“ und andere Kreationen des
Hauses. Mehrere Gründe machen wir aus: Wenn man eine Varieté-Vorstellung
beflügelt und beschwingt verlässt, dann hat es oft damit zu tun, dass es
ein atemberaubend lustiger Abend war. „Nostalgia“ bietet aber eher
bittersüßen, melancholischen Humor der leisen Töne als Clownerie und
Comedy zum Kugeln. Zweitens ist die erste Hälfte des Programms doch sehr
kleinteilig gestrickt; hier reiht sich eine Fülle von kurzen Einlagen
und Auftritten aneinander, anstatt mit „größeren“, „kompletten“ Nummern
aufzutrumpfen. Das mag zur Authentizität des „Sideshow“- oder auch „Zigeunercircus“-Charmes
gehören – wir hatten eine solche Kleinteiligkeit, eine solche Abfolge
von Kurzauftritten im Dezember auch bei Romanès, dem echten
Zigeunercircus in Paris, bemerkt. Zur Begeisterung trägt dies aber auch
hier nicht bei. Nicht zuletzt war das Gesamtprogramm auch ein wenig kurz
– knapp 45 Minuten dauerte jede der beiden Showhälften.
  
Ensemble, Silea,
Marcello Mastropietro
Die
Wandercircus-Truppe betritt die Bühne aus dem Zuschauerraum, angeführt
vom „größten Mensch, der je gelebt“, dem rekommandierenden
„Circusdirektor“ Marcelo Pivoto. Fee Hübner, die „Musikdirectrice“ singt
– wie mehrfach im Programm – mit voller Stimme und voller Melancholie:
„Wenn ich mir was wünschen dürfte…“ Der erste artistische Auftritt ist
gleich ein kleines Highlight des Programms. Marcello Mastropietro
jongliert mit bis zu fünf Hüten gleichzeitig, von denen er zwischendurch
auch immer wieder welche auf den angewinkelten Ellenbogen oder Knien
parkt. Nicht nur durch seine Tricks, auch durch sein Auftreten – mit
irrem Blick – hebt er sich doch deutlich ab von anderen Hutjongleuren,
die ja in der Regel im „Gentleman“-Stil arbeiten. Eher ratlos blicken
wir auf Amélie Soleil, die einer engen Glasröhre entsteigt, auf dem
Bühnenlaufsteg tanzt und sich wieder in das Glas versenkt. Der
Peitschenkünstler trifft zielgenau eine Blume in ihrem Mund, der Riese
schluckt ein Schwert, eine Künstlerin schüttet Wasser in ein schwebendes
Glas, ein Mann wird scheinbar zum Zwerg, ein kurzbeiniger Hund soll
durch einen Reifen springen – Gauklertrick reiht sich an Gauklertrick.
Silea schluckt, mit unbeteiligter Miene, Rasierklingen und zieht diese
später wieder – aufgefädelt an ein Stück Schnur – aus ihrem Mund. Dabei
topft das Kunstblut aus ihrem Mund, auf ihr Kleid - man mag kaum
hinsehen. Dann doch wieder eine „komplette“
Nummer: Evgenia Panina präsentiert am Luftring eine äußerst
akrobatische, kraftvolle Kür. Sie ist gewiss eine der stärkeren Vertreterinnen
dieses verbreiteten Genres. Wie schon in der ersten Burlesque-Show des
Friedrichsbaus, „Miss Evi’s Company“ im Winter 2008/2009, entspinnt der
kleinwüchsige Oleg Djachuk wieder sein poetische Performance um einen
„Lebensfaden“, in der er verschiedene Stationen des menschlichen Lebens
– Kindheit, Karriere, große Liebe – pantomimisch darstellt. Gesang über
einen Mann, der nach vielen Abenteuern aus seinem Leben erzählt. Ein
kurzer Jonglagetrick mit einem Apfel, der aufgespießt auf einem Messer
landet. Eine Marionette, die sich von ihren Schnüren befreit, woraufhin
alles befreit tanzt und feiert. Dann ist Pause.
  
Mann/Frau, Silea, Andrey Silchev
Die erste Hälfte des
Programms ruft – an dieser Vorpremiere – nur sehr verhaltene
Publikumsreaktionen hervor. Vieles kann sich wohl – in dieser
aufwendigen Produktion mit vielen Spielszenen – noch einpendeln, wenn
das Ensemble sich erst richtig warmgespielt hat. Sei’s drum. Die zweite
Programmhälfte kann den Saal doch stärker mitreißen. Mit der
Kleinteiligkeit ist es nun auch weitgehend vorbei, es folgen „komplette“
Darbietungen: Circusunternehmer Jules präsentiert den großen (und
menschlichen) Affen Gaspard. Silea präsentiert eine außergewöhnliche
Luftnummer, das Requisit ist eine Art doppeltes Schwungseil aus
Eisenketten. Tatsächlich schwingt sie, so dicht über den Köpfen des
Publikums im Mittelblock, dass man sie mit Händen greifen könnte. Ohne
aufzustehen. Dann wieder zeigt die Artistin ihre Kraft, wenn sie die
Ketten erklimmt bis hoch unter die Kuppel des Theatersaals. Der Applaus
steigert sich jetzt von Nummer zu Nummer – nun endlich kommt sie auf,
die echte Friedrichsbau-Stimmung. Gleich noch mal geht es hoch hinaus:
bei der kraftvollen Arbeit von Edd Muir am Chinesischen Mast. Und wieder
Kuriositäten: ein Mann in einer Kostümierung halb Mann halb Frau, eine
drahtdurchbohrte Zunge. Und dann kommt er, der „stärkste Mann der Welt“,
Andrey Silchev, der mit schweren Eisenhanteln jongliert und mit ihnen
den „Stuhltrick“ zeigt, den wir aus Hand-auf-Hand-Nummern kennen. Statt
eines Partners werden die Hanteln gestemmt.

Noch einmal singt, voll
Melancholie an der Harfe, die stimmgewaltige Fee Hübner: „Send in the
Clown“. Die Artisten brechen auf zu ihrem Auftritt im Circuszelt. Das
Spiel beginnt – die Show endet. Fröhliches Finale.
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