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Friedrichsbau-Varieté - Sugar Blue
www.friedrichsbau.de

Stuttgart, 18. Februar 2010: Der Aufwand ist wiederum bemerkenswert: Für die neue Produktion „Nostalgia – The Sideshow“ verzaubert Regisseur Ralph Sun das Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté in einen wundersamen Wandercircus in der Zeit um 1900. Skurrile Gestalten und schräge Charaktere treten auf: die Rasierklingen-Schluckerin, der stärkste Mann der Welt, der Riese, der Kleinwüchsige. Das wiederum komplett neue Bühnenbild schafft mit hölzernen Wohnwägen links und rechts und einem offenen Küchenzelt in der Mitte die passende Atmosphäre eines Gauklerlagers.

Gezeigt werden soll das Leben in der Wagenburg, die Vorbereitung auf den Auftritt am Abend. Die Ausstattung, die Auswahl der Künstler, die in das Konzept passen, die Gestaltung der Show: Ralph Sun gelingt es wirklich, ein authentisch wirkendes Bild des „fahrenden Volkes“ am Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Sideshow, zu zeichnen. Wir erinnern uns: Im Winter hatte Sun eine Art „Roadmovie“ durch die USA mit heißem Rock’n’Roll und burlesken Striptease-Szenen kreiert, als nächstes folgt eine Hommage an Edith Piaf: Das herkömmliche Nummernvarieté mit einer Reihe von artistischen Darbietungen, durch eine Conférence lose zusammengefügt, hat der Friedrichsbau unter seiner Ägide hinter sich gelassen. Suns Themenshows bieten alle Chancen auf begeisternde Show-Abende – und gehen damit aber auch nicht auf Nummer sicher, wie es herkömmliches Varieté tut. Sie bergen ein höheres Risiko. Und so müssen wir bekennen, dass uns „Nostalgia“ am Vorpremieren-Abend nicht so sehr begeistern konnte wie etwa das furiose Vorgänger-Programm „Sugar Blue“ und andere Kreationen des Hauses. Mehrere Gründe machen wir aus: Wenn man eine Varieté-Vorstellung beflügelt und beschwingt verlässt, dann hat es oft damit zu tun, dass es ein atemberaubend lustiger Abend war. „Nostalgia“ bietet aber eher bittersüßen, melancholischen Humor der leisen Töne als Clownerie und Comedy zum Kugeln. Zweitens ist die erste Hälfte des Programms doch sehr kleinteilig gestrickt; hier reiht sich eine Fülle von kurzen Einlagen und Auftritten aneinander, anstatt mit „größeren“, „kompletten“ Nummern aufzutrumpfen. Das mag zur Authentizität des „Sideshow“- oder auch „Zigeunercircus“-Charmes gehören – wir hatten eine solche Kleinteiligkeit, eine solche Abfolge von Kurzauftritten im Dezember auch bei Romanès, dem echten Zigeunercircus in Paris, bemerkt. Zur Begeisterung trägt dies aber auch hier nicht bei. Nicht zuletzt war das Gesamtprogramm auch ein wenig kurz – knapp 45 Minuten dauerte jede der beiden Showhälften.


Ensemble, Silea, Marcello Mastropietro

Die Wandercircus-Truppe betritt die Bühne aus dem Zuschauerraum, angeführt vom „größten Mensch, der je gelebt“, dem rekommandierenden „Circusdirektor“ Marcelo Pivoto. Fee Hübner, die „Musikdirectrice“ singt – wie mehrfach im Programm – mit voller Stimme und voller Melancholie: „Wenn ich mir was wünschen dürfte…“ Der erste artistische Auftritt ist gleich ein kleines Highlight des Programms. Marcello Mastropietro jongliert mit bis zu fünf Hüten gleichzeitig, von denen er zwischendurch auch immer wieder welche auf den angewinkelten Ellenbogen oder Knien parkt. Nicht nur durch seine Tricks, auch durch sein Auftreten – mit irrem Blick – hebt er sich doch deutlich ab von anderen Hutjongleuren, die ja in der Regel im „Gentleman“-Stil arbeiten. Eher ratlos blicken wir auf Amélie Soleil, die einer engen Glasröhre entsteigt, auf dem Bühnenlaufsteg tanzt und sich wieder in das Glas versenkt. Der Peitschenkünstler trifft zielgenau eine Blume in ihrem Mund, der Riese schluckt ein Schwert, eine Künstlerin schüttet Wasser in ein schwebendes Glas, ein Mann wird scheinbar zum Zwerg, ein kurzbeiniger Hund soll durch einen Reifen springen – Gauklertrick reiht sich an Gauklertrick. Silea schluckt, mit unbeteiligter Miene, Rasierklingen und zieht diese später wieder – aufgefädelt an ein Stück Schnur – aus ihrem Mund. Dabei topft das Kunstblut aus ihrem Mund, auf ihr Kleid - man mag kaum hinsehen. Dann doch wieder eine „komplette“ Nummer: Evgenia Panina präsentiert am Luftring eine äußerst akrobatische, kraftvolle Kür. Sie ist gewiss eine der stärkeren Vertreterinnen dieses verbreiteten Genres. Wie schon in der ersten Burlesque-Show des Friedrichsbaus, „Miss Evi’s Company“ im Winter 2008/2009, entspinnt der kleinwüchsige Oleg Djachuk wieder sein poetische Performance um einen „Lebensfaden“, in der er verschiedene Stationen des menschlichen Lebens – Kindheit, Karriere, große Liebe – pantomimisch darstellt. Gesang über einen Mann, der nach vielen Abenteuern aus seinem Leben erzählt. Ein kurzer Jonglagetrick mit einem Apfel, der aufgespießt auf einem Messer landet. Eine Marionette, die sich von ihren Schnüren befreit, woraufhin alles befreit tanzt und feiert. Dann ist Pause.


Mann/Frau, Silea, Andrey Silchev

Die erste Hälfte des Programms ruft – an dieser Vorpremiere – nur sehr verhaltene Publikumsreaktionen hervor. Vieles kann sich wohl – in dieser aufwendigen Produktion mit vielen Spielszenen – noch einpendeln, wenn das Ensemble sich erst richtig warmgespielt hat. Sei’s drum. Die zweite Programmhälfte kann den Saal doch stärker mitreißen. Mit der Kleinteiligkeit ist es nun auch weitgehend vorbei, es folgen „komplette“ Darbietungen: Circusunternehmer Jules präsentiert den großen (und menschlichen) Affen Gaspard. Silea präsentiert eine außergewöhnliche Luftnummer, das Requisit ist eine Art doppeltes Schwungseil aus Eisenketten. Tatsächlich schwingt sie, so dicht über den Köpfen des Publikums im Mittelblock, dass man sie mit Händen greifen könnte. Ohne aufzustehen. Dann wieder zeigt die Artistin ihre Kraft, wenn sie die Ketten erklimmt bis hoch unter die Kuppel des Theatersaals. Der Applaus steigert sich jetzt von Nummer zu Nummer – nun endlich kommt sie auf, die echte Friedrichsbau-Stimmung. Gleich noch mal geht es hoch hinaus: bei der kraftvollen Arbeit von Edd Muir am Chinesischen Mast. Und wieder Kuriositäten: ein Mann in einer Kostümierung halb Mann halb Frau, eine drahtdurchbohrte Zunge. Und dann kommt er, der „stärkste Mann der Welt“, Andrey Silchev, der mit schweren Eisenhanteln jongliert und mit ihnen den „Stuhltrick“ zeigt, den wir aus Hand-auf-Hand-Nummern kennen. Statt eines Partners werden die Hanteln gestemmt.

Noch einmal singt, voll Melancholie an der Harfe, die stimmgewaltige Fee Hübner: „Send in the Clown“. Die Artisten brechen auf zu ihrem Auftritt im Circuszelt. Das Spiel beginnt – die Show endet. Fröhliches Finale.

Hinter „Nostalgia“ steht eine faszinierende Grundidee, die mit bemerkenswerter Treffsicherheit, Liebe zum Detail und Konsequenz auf die Bühne gebracht wird. Ein Abend voller mal schöner, mal skurriler bis verstörender Bilder – nicht durchweg begeisternd oder mitreißend, aber interessant allemal.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber