Es stand ganz im Zeichen einer
richtungsweisenden Veränderung der Circusszene in Ungarn. Wieder
einmal war es kurz vor dem Festival zu einem von höherer Instanz
initiierten Wechsel der Leitung von Circusverband und
Hauptstadtcircus gekommen. Peter Fekete ersetzt nun Joszef
Richter senior. Man konnte also gespannt sein, ob erste Ansätze
der neuen Handschrift bereits erkennbar waren – und in der Tat
zeichnete sich doch ein klarer Trend weg vom klassischen Circus
hin zum Variete- und Showgeschäft ab. Die Zusammenstellung der
Nummern in den beiden Auswahlvorstellungen – und auch in der
Nachwuchs-Gala mit überwiegend jungen Künstlern aus der
ungarischen Circusschule – umfasste dennoch ein breites
Repertoire der Genres. Es waren nahezu alle artistischen Fächer
vertreten, dargeboten vom einzelnen Artisten bis hin zur
personalintensiven Truppe. Die
Auswahlvorstellungen wurden eingeleitet mit der Flugshow einer
Drohne, die eine Festivalfahne durch die Höhen des Circusbaus
fliegen ließ. Die Moderation lag in den Händen eines ungarischen
Quintetts, dessen Dame für die Ansage in englischer Sprache
zuständig war.
Flying Farfan, Akos Biritz
Die A-Show begann mit einer
anspruchsvollen Einrad-Artistik auf zwei Postamenten von Paul
Chen aus Deutschland. Totti Alexis ließ in seiner Rolle als
Clown sein ganzes Können aufblitzen und verstand es dank seiner
großartigen Sangeskunst, das Publikum von den Sitzen zu reißen
und den Bau im wahrsten Sinne des Wortes zu rocken. An Können
und Eleganz nicht zu überbieten war die Ikarier-Show der
Fratelli Rossi, in Deutschland bekannt vom Circus Krone. Eine
große Zukunft bevorstehen sollte dem jungen Ungarn Akos Biritz:
An den Strapaten zeigte das Kraftbündel bisher nie gesehene
Wechsel und Drehungen. Mit nicht weniger als zehn Schüsseln
jonglierte Isaac Aborah aus Ghana, der in die Jonglage auch
Elemente der Kontorsionistik einbaute. Den Tanz auf dem
Drahtseil neu erfunden hatte das Duo Phykov. Auf dem in einer
mondsichelförmigen Schaukel gespannten Seil galt es die Balance
in drei Dimensionen zu beherrschen. Zusammen mit der
musikalischen Untermalung durch ihren Partner war diese
Aufführung wohl eine der schönsten und schwierigsten Nummern
zugleich. Sehr langatmig und wenig trickreich kam hingegen
leider die Pferdedressur der Familie Urunov rüber. Absoluter
Höhepunkt in ersten Show war jedoch die Flugtrapezdarbietung der
Flying Farfans. Diese einmalige Luftsensation mit Flügen und
Sprüngen in zwei sich kreuzenden Richtungen bot ein Gros an
Richtungswechseln, Passagen, Salti, Schrauben und dem
Dreifachen. Die Ausstrahlung der Truppenmitglieder sowie die
Kostüme taten ein Übriges, um zu den ganz Großen am Circushimmel
zu zählen. Schade, dass ein zweimal nacheinander missglückter
Sprung wohl den goldenen Preis gekostet hat. Ebenfalls zu
gefallen wusste die Mongolin Heejin Diamond mit Handstandarbeit
auf einem Diamantenstumpf, deren Darbietung im rotierenden
Mundstand ihren Höhepunkt fand. Würdiger Schluss im A-Programm
war dann die Truppe Skokov an der russischen Schaukel, wo sich
Kraft und Präzision mit Tempo und Elegance vereinte.
Gerlings,
X-trem-Brothers
Das B-Programm eröffnete Emil
Faltyny mit Balancen auf freistehenden und schaukelnden Leitern.
Neuer Schlusstrick war der Kick eines Fußballs in den Winkel des
Kubus. Absolut sehenswert! Für die Unterhaltung sorgte
hier Mr. Lorenz aus Italien. Mit überwiegend bekannten, aber
erfrischend gespielten Reprisen kam die Clownerie auch in dieser
Auswahl nicht zu kurz. Viele Diskussionen folgten auf zwei
Darbietungen aus Portugal: Die Familie Dias zeigte zum einen
eine Ikarier-Show der Dias-Boys, zum anderen eine Balance auf
der hohen Leiter durch die Dias-Sisters. Der artistische Wert
beider Darbietungen stand außer Frage, es waren wahrlich
sportliche Höchstleistungen, die hier gezeigt wurden.
Demgegenüber hitzig diskutiert wurde der Aspekt, inwieweit ein
sechs- und ein elfjähriger Junge körperlich derart belastet
werden dürfen bzw. sollten, ohne dass Skelett und Muskulatur
bleibende Schäden nehmen. Aus diesem Blickwinkel sahen viele
Circusbesucher hier die Grenze des Vertretbaren überschritten.
Eine wahre Flut an Kraft-Hebe-Akrobatik wurde geboten durch die
Nummern der X-trem-Brothers aus Rumänien, des Goldmenschen-Trios
Powerline und des Duos Silver Power. Alle drei Darbietungen
wussten gut zu gefallen. Eine Pole-Dance-Einlage auf einem Floß
im Wind zeigte Eones Goncalves aus Frankreich, und das Duo
Nonstop (Ukraine) begeisterte mit einer Rola-Rola-Balance auf
Auto-Felgen.
Gleich zweimal ging es aufs Seil. Bestens bekannt ist Nicol
Nicols. Mit seiner tricksstarken Arbeit kann er auch hier
begeistern. Highlight der B-Show war jedoch der Hochseilauftritt
der Gerlings, welcher seinen Höhepunkt in der
Sieben-Mann-Pyramide auf drei Etagen fand.
Truppe Skokov,
Dias-Boys, Silver Power
Die Jury unter dem Vorsitz von
Eugene Chaplin, Sohn des legendären Charly Chaplin, hatte es
somit nicht leicht, die Preise an die Künstler zuzuteilen, waren
doch die Unterschiede wirklich manchmal nur Nuancen. Der goldene
Preis des 11. Internationalen Circusfestivals von Budapest ging
an die Truppe Gerling für deren Hochseildarbietung. Die
silbernen Preise erhielten die Flying Farfans für deren
Flugtrapez sowie die Truppe Skokov für die russische Schaukel.
Der Preis in Bronze ging gleich an fünf Artisten: Für den Tanz
auf dem Drahtseil erhielt Nicol Nicols den Preis, für die
Ikarier-Arbeit wurden die Dias-Boys belohnt, und weil die
Kraft-Hebe-Nummern der X-trem-Brothers sowie des Trios Powerline
und des Duo Silver Power nahezu gleichwertig waren, erhielten
alle drei Darbietungen einen Preis in Bronze.
Jeton
Besonders hervorzuheben sind aber
zwei Teilnehmer, die jeweils mit einem Sonderpreis ausgezeichnet
wurden: Dies ist zum einen die Gentleman-Jonglage der
Extra-Klasse von Jeton und Carmen. Neben Balljonglagen vor und
hinter dem Körper zeigt Jeton die Balance eines Wandspiegels auf
seiner Stirn sowie die Balance von zwei Billard-Queues und einer
Billardkugel. Untermauert von seinem hervorragenden Wortwitz und
unterstützt durch seine reizende Partnerin Carmen ist diese Show
von Jeton der verdiente Gewinner des Sonderpreises der
Gesellschaft der Circusfreunde e.V. (GCD). Der andere ist Clown
Totti Alexis, der eigens einen Sonderpreis vom Jury-Vorsitzenden
Eugene Chaplin überreicht bekam. Seine musikalischen Entrees
machten Totti zum absoluten Favorit des Publikums. Er weckt
Emotionen und läste die Besucher mitgehen. Sein stetiger Kampf
mit der Tücke des Objekts ist hinreißend; es gibt keine Scherze
auf dem Rücken anderer. Das ist es, was diesen Ausnahmeclown so
liebenswert macht. Es ist schier unbeschreiblich, wie Clown
Totti mit „Johnny be good“ das Circusgebäude rockte, so dass es
keinen Zuschauer auf den Sitzplätzen hielt. Das Publikum stand,
tanzte, rockte und sang. Man fühlte sich fast wie im
Rockkonzert. In der Gunst und in den Herzen der Zuschauer war
Totti Alexis der eigentliche große Gewinner des 11.
Internationalen Circusfestivals. |