Für die eigentliche
Revolution sorgte der älteste Sohn Johnny. Von seiner
Artistenausbildung in Montréal hatte er neuartige Ideen
mitgebracht. Und so zeigte der Cirque Starlight in der Saison
2002 erstmals eine Produktion im Stile des Cirque Nouveau
kanadischer Prägung. Mit jungen Artisten auf einer Bühne statt
in der Manege, mit speziell entworfenen Bühnenbildern und
Kostümen, mit individuellem Musik- und Lichtkonzept sowie mit
einem Thema, einer Handlung. Dabei ist es bis heute geblieben,
bei Jahr für Jahr völlig neu kreierten Programmen. Auch als
Jonny Gasser den elterlichen Circus verließ und als Artist mit
der Stangenwurf-Nummer „The White Crow“ Weltkarriere machte.
„Johnny ist gegangen, seine Ideen hat er uns dagelassen“, fasste
es seine Mutter Jocelyne gegenüber Chapiteau.de einmal
charmant zusammen. Inzwischen entfällt bereits mehr als die
Hälfte der Unternehmensgeschichte auf die Phase „Cirque
Nouveau“.

Martin Orchessi und
Christopher Gasser
Zum Jahrtausendwechsel hat
sich die Familie Gasser auf ihren neuen Weg gemacht, und von
Menschen unterwegs erzählt auch die neue Produktion „D‘ici là“ ("Bis
dahin"). Das Bühnenbild besteht aus einem Wohnwagen, dem ein
buntes Völkchen entspringt. Es sind Träumende und
Reisende zugleich, die gemeinsam einen verrückten Tag erleben
und dabei auf der Suche nach der eigenen Bestimmung sind. Da
sind etwa die intellektuelle Tänzerin, der Liebhaber klassischer
Musik oder aber die royale Dame. An der Grenze zur Fantasie
erleben sie viele Situationen, die dem Zuschauer aus seinem
eigenen Leben bekannt vorkommen und oft zum Schmunzeln anregen
mögen. Eine durchgehende Geschichte erzählt Regisseur Emiliano
Sanchez Alessi in seiner vierten Arbeit für den Cirque Starlight
allerdings bewusst nicht. Zu den prägenden Gesichtern gehören
der jüngere Gasser-Sohn Christopher und sein aktueller
Bühnenpartner Martin Orchessi als Clownfiguren.
Die beiden kennen sich
bereits aus früheren Starlight-Saisons und haben im vergangenen
Jahr in Argentinien damit begonnen, die clownesken Szenen der
diesjährigen Show einzustudieren. Dabei verfügen die beiden auch
über pantomimische Fähigkeiten. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Christopher Gasser im vergangenen Jahr die bekannte
Clownschule Jacques Lecoq in Paris abgeschlossen hat. Martin
Orchessi wiederum weiß mit einer ausgeprägten Mimik zu gefallen.
  
Sofia Speratti, Taiyo
Kishi, Janine Eggenberger
Die Artisten wirken in
unterschiedlichen Rollen mit und zeigen darin eingebunden ihre
eigentlichen Darbietungen. So wie Sofia Speratti. Bei ihren
Handständen deponiert sie bis zu vier Bälle an unterschiedlichen
Stellen ihres Körpers – im Nacken, auf den Füßen oder in den
Kniekehlen zum Beispiel. Taiyo Kishi lässt in seinem ersten
Auftritt einen langen Speer über seinen Körper tanzen, ähnlich
wie bei der Jonglage mit einem Twirlingstab. Dabei erinnert er
mit seinen Bewegungen an einen fernöstlichen Krieger. Aus der
Schweiz kommt dagegen Janine Eggenberger. Die junge Künstlerin
betreibt eine Schule für Luftartistik in Dübendorf bei Zürich
und hat nun die Gelegenheit, sich einem großen Publikum in ihrem
Heimatland zu präsentieren. Wenn sie sich in ihr Tanztrapez
geradezu verstrickt, zahllose Rückwärtsumschwünge schlägt und
ekstatisch in der Luft kreiselt, ist ihr starker Applaus gewiss.
 
Cirque La
Compagnie, Lain Velasco, Taiyo Kishi
Eine originelle und
attraktive Pausennummer wurde mit der Truppe „Cirque La
Compagnie“ gefunden. Die vier Herren aus Frankreich und der
Schweiz kombinieren ein Schleuderbrett mit einem Chinesischen
Masten. So katapultieren sie sich mithilfe des Schleuderbretts
an den Masten oder springen nach Posen an der Vertikalstange
zurück auf die Wippe, um wiederum einen Partner in die Luft zu
befördern. Aus der überraschenden Verbindung zweier bekannter
und völlig verschiedener Genres entsteht hier etwas ganz Neues,
das beim Pariser "Cirque de Demain" mit der Goldmedaille
ausgezeichnet wurde. Längst nicht mehr innovativ, sondern
inzwischen fast schon ein Standard-Genre des Neuen Circus ist
das Cyrrad. Hier kreist Lain Velasco in ihrem roten Kleid über
die Bühne. Taiyo Kishi jongliert bei seinem zweiten Auftritt sieben Bälle
nicht nur hoch in die Luft, sondern lässt
sie als Kontaktjonglage auch über seinen Körper rollen oder nur
knapp darüber fliegen. Er wirft seine Bälle auch hinter dem
Rücken, katapultiert einen mit dem Fuß unter sich durch und
fängt ihn wieder, dreht Pirouetten während seiner Wurfmuster.
Begeistert wird er gefeiert.
  
Janine Eggenberger, Emma
Stones, Duo Vladimir
So etwas wie das
Lieblingsgenre der Direktorin Jocelyne Gasser dürfte das
Schwungtrapez sein. Schließlich sah man ihre Tochter Jessica
während einiger Saison an diesem Requisit. Es darf in fast
keiner Starlight-Saison fehlen. Nunmehr ist es Emma Stones, die
daran Pirouettesprünge und Abfaller präsentiert. Die dritte
Luftnummer im Programm und der zweite Auftritt von Janine
Eggenberger lenken die Blicke an ihre Tuch-Schlaufe. Sie
zelebriert einen starken Auftritt mit Genickhang, Überschlägen,
Abfallern und rasantem Kreiseln. Während mehrerer Wochen hat
Regisseur Emiliano Sanchez Alessi aus den verschiedenen
Künstlern ein Ensemble und aus ihren Nummern eine Show geformt.
Die Ausnahme bildet das Duo Vladimir. Die beiden ukrainischen
Artisten kamen quasi direkt von ihrem Engagement im GOP München
zur Premiere des Cirque Starlight angereist. Man kann fast schon
sagen, dass ihr Auftritt an eine geschlossene, fertige
Ensemble-Produktion hinten angehängt wurde. Und so arbeiten sie
als einzige zu ihrer gewohnten, reichlich dramatischen Musik
ihre Darbietung. Doch diese hat es in sich. Nach einer geradezu
klassischen, sehr starken Hand-auf-Hand-Kür folgt ein
Schlusstrick, den wir so oder auch so ähnlich noch nicht gesehen
haben. Der Untermann hält mit den Zähnen ein Schwert. Darin
steckt, Spitze auf Spitze, ein weiteres Schwert, an dem sich der
Obermann ebenfalls nur mit den Zähnen hält. Und das ist schlicht
sensationell. Nach all den starken artistischen Leistungen und
hervorragender Stimmung im fast ausverkauften Chapiteau liegen
Standing Ovations an diesem Abend in Delémont fast in der Luft.
Verhindert werden sie wohl nur durch ein allzu kurzes Finale,
das dazu keine Gelegenheit bietet. Schnell ziehen die Artisten
von der Bühne ins Vorzelt und bilden dort ein Spalier, während
im Chapiteau noch heftig geklatscht wird. Schade, dass sie nicht
noch einmal auf die Bühne zurückkehren, um sich feiern zu
lassen. |