Einladend
aufgebaut steht „Der Große Russische Staatscircus“ auf einer
Freifläche im Mainzer Zollhafen, von Wasser umgeben: Der
Frontzaun ist mit Flaggen und großformatigen Programmfotos der
aktuellen und früherer Shows geschmückt. Zwischen den beiden
symmetrisch angeordneten Kassenwagen ein großes Portal,
ebenfalls mit Programmfotos. Ein Tunnel führt ins große, gelbe
Hauptzelt: Zwischen Gradin und Rundleinwand ist noch genügend
Platz für den Restaurationsbereich mit Verkaufsständen und
Bistrotischen. Im Zuschauerraum dann gepolsterte Einzelstühle
auf den besseren Plätzen und Schalensitze in den übrigen
Kategorien. Im „VIP-Bereich“ direkt an der runden Bühne sitzen
die Zuschauer an kleinen Tischchen. Im Hintergrund ein großer
roter Vorhang, links davon das Orchesterpodium, darüber eine
Leuchtschrift: „Der Große Russische Staatscircus“. Anders als in
früheren Jahren gefällt mittlerweile schon das Ambiente – und
bietet den passenden Rahmen für eine große Show.
Anton und Katja Tarbeev, Oleg
Popov,
Shulga und Kiroushenkov
Das Programm
beginnt mit einem ersten Auftritt von Clown Gagik Avetisyan im
Charlie-Chaplin-Outfit und Moderator Thierry Dourin, der das
Rauchverbot im Zelt zum Thema hat. Das Orchester wird extra
vorgestellt, betritt die Bühne durch den Vorhang und begibt sich
auf sein Podium – und spielt zur Ouvertüre. In einer Gitterkugel
zeigt eine junge Artistin Akrobatik und Kontorsion unter der
Circuskuppel, unterstützt von einem ersten Auftritt des
sechsköpfigen Balletts und eingebettet in ein Charivari aller
Artisten. Dann die Diabolokür von Anton und Katja Tarbeev, an
diesem Abend leider mit einigen Patzern – die Jonglage mit drei
Diabolos will Anton Tarbeev nicht gelingen. Ein Ausrufezeichen
setzen die beiden Handstand-Akrobaten Shulga und Kiroushenkov –
unter anderem Kopf-auf-Kopf ohne „Hütchen“ als Hilfsmittel. Als
Clownlegende Oleg Popov zum ersten Mal die Bühne betritt,
brandet bereits Jubel und Applaus auf, als er erst schemenhaft
im Halbdunkel zu erkennen ist – der Mann ist ein Phänomen. Zu
„My Way“ fängt der 78-Jährige seine berühmten Sonnenstrahlen.
Später lässt er unter anderem eine Ratte Fallschirm fliegen und
präsentiert eine lebende Spieluhr, seine Frau Gabriela. Popov,
das Werbe-Zugpferd beim "Großen Russen", ist der ruhige Kontrapunkt dieser
ansonsten durchweg auf modern getrimmten Show – und wirkt
dennoch nicht wie ein Fremdkörper. Für den Humor der derberen
Sorte zuständig ist der bereits erwähnte Gagik Avetisyan, unter
anderem mit der „Motorradfahrt“ und seiner Version der
„Rockband“.
Ekaterina
Markevitch, Markevitchs, Rodion und Juliette Girgenov mit
Ballett
Geschickt und
sinnvoll eingesetzt wird hier das Ballett: Anstatt mit
Auftritten zwischen den Nummern die Show in die Länge zu ziehen,
tanzt es während der Darbietungen – unterstützt damit deren
Wirkung, sorgt für raumfüllende Bilder. Bei der beschriebenen
Programm-Eröffnung, bei den Handvoltigen des Trios Kiroushenkov
mit weiblicher Fliegerin, die in folkloristischen Kostümen zu
klassischer Musik gezeigt werden. Bei der attraktiven,
abwechslungsreichen (aber zum Teil durchschaubaren)
Großillusionsschau von Rodion und Juliette Girgenov. Und in
einem schön gestalteten spanischen Block: Während Antipodistin
Ekaterina Markevitch bis zu vier Teppiche auf Händen und Füßen
gleichzeitig kreisen lässt, tanzen die Ballettdamen um sie herum
den Flamenco – direkt im Anschluss ist die Antipodistin dann die
Tänzerin, die den „Teufelsreiter“ Yuri Voldochenkov begleitet.
Er dirigiert sein Pferd in weiten Teilen der Nummer
„freihändig“, springt die Kapriole gleich zwei Mal – wird aber
großen Teilen seiner Wirkung durch die Konserven-Filmmusik aus
den „Piraten der Karibik“ beraubt, während er in seiner Zeit bei
Roncalli so fantastisch durch das Orchester unterstützt worden
war. Schade, dass in dieser Produktion das Orchester so oft
pausieren muss, zumal es bei seinem Spiel durchaus zu überzeugen
weiß. Anstelle einer Raubtierdressur ist derzeit die trickstarke
Highspeed-Hundedressur der Markevitchs, zuletzt im Dresdner
Weihnachtscircus engagiert, zweite Tierdarbietung im Programm.
Alona Jouravel,
Julia und Sergui, Juliette und Rodion Girgenov
Augenfällig
auch der Akzent auf sinnlich-erotischen Momenten – und dies
sozusagen für jeden Geschmack: Alona Jouravel (ehemals „Flic
Flac“) präsentiert zum Auftakt der zweiten Hälfte, von der
hervorragenden Lichtanlage bestens unterstützt, Kontorsion und
Handstand in und auf einem spektakulären Requisit: zwei
Metallwürfeln ineinander, die auf einer Spitze stehen; der
innere dreht sich um sich selbst – und im zweiten Teil der
Nummer sprühen Regentropfen aus den Metallstreben. Sex pur,
ohne jeden Hauch von Billigkeit. Als Pausennummer nehmen die
vier Muskeltypen der Truppe Koslov – in Anlehnung an den
bekannten Fernsehspot – in Feinripp-Unterhemden erst einmal
einen Schluck aus der Cola-light-Dose, ehe sie zu ihren
spektakulären Reck-Flügen starten. Anstelle des früheren
Quadratrecks sind aktuell drei Reckstangen parallel angeordnet,
wobei die mittlere erhöht ist. Das Zusammenspiel von Mann und
Frau verkörpern Rodion und Juliette Girgenov in einer Melange
von Tanz, Kontorsion und Sinnlichkeit. Sie findet ihren
Höhepunkt darin, dass Rodion sich in eine enge Glaskiste zwängt.
Schön auch die Strapatenarbeit von Julia und Sergui zu
Klaviermusik gegen Ende des Programms, wobei hier viele Tricks
abwechselnd anstatt gemeinsam gearbeitet werden.
Unter dem Motto Großer Russischer Staatscircus „and friends“
haben die Smits in ihren Produktionen vielfach Artisten aus
aller Herren Länder präsentiert – aktuell aber sind die Künstler
aus dem früheren Sowjetreich fast unter sich. Einzige Ausnahmen:
Der omnipräsente deutsch-französische Ringmaster Thierry Dourin
und die Daniel-Diorio-Truppe, die hier in der
Motorradkugel seit vielen Jahren den Schlusspunkt setzt.
Besonders wirkungsvoll ist es natürlich, wenn die Kugel sich
teilt und drei Fahrer in der oberen Hälfte fahren und einer in
der unteren. Nachdem dann vier Fahrer kreuz und quer durch die
enge Kugel gerast sind, applaudieren die ersten Zuschauer
bereits für diese Nummer im Stehen. |