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Festival der Artisten Kassel 2024/25
www.flicflac.de ; 110 Showfotos

Kassel, 3. Januar 2025: René Casselly ist das prägende Gesicht der 15. Ausgabe des Festival der Artisten, der Kasseler Weihnachtsproduktion von Flic Flac. Gemeinsam mit Tanzpartnerin Kathrin Menzinger grüßt der Artist, Ninja Warrior, Tänzer und neuerdings Profi-Wrestler von den Plakaten. Natürlich bekommt er auch in der Show selbst einen prominenten Part. Mindestens genauso spannend, zumindest für Circusfans, ist die Innenausstattung des Chapiteaus. Hier hat der für diesen Standort verantwortliche Benno Kastein einmal mehr seine ganze Kreativität ausgelebt. Ganz so, wie wir das vom Flic Flac-Gründer gewohnt sind. Von außen ergibt sich das vertraute Bild.

Der schwarz-gelb-gestreifte Viermaster mit den außenliegenden Rundbögen und das Vorzelt stehen auf dem Friedrichsplatz mitten in der Kasseler Innenstadt, quasi auf dem Präsentierteller. Vor dem Entree verläuft die Shoppingmeile Königsstraße, an einer Seite steht das Kunstmuseum Fridericianum. Bis Ende Dezember ist zudem der Weihnachtsmarkt mit seinen Ausläufern unmittelbarer Nachbar.


Flic Flac auf dem Friedrichsplatz in Kassel

Alles neu dann aber im Inneren. Einen Artisteneingang gibt es nicht, dafür geht das Gradin rundherum. Die Rundbühne ist also komplett mit Zuschauern umgeben, die auf Einzelstühlen mit Kopfstütze Platz nehmen dürfen. Beim Einlass ist die Spielfläche von einem schwarzen Vorhang verhüllt. Wenn dieser verschwunden ist, wird klar, wo die großen Requisiten aufbewahrt werden: die beiden Schaukeln und das Todesrad hängen unter der Kuppel. Bei der Höhe des Raums und der geschickten Ausleuchtung der Show fällt das nicht weiter auf und stört schon gar nicht.


Blick in den Innenraum

Die Bühne selbst ist in mehreren Segmenten drehbar. Das wird gleich zum Opening genutzt, welches die Mitwirkenden in Straßenkleidung gemeinsam mit einer Band bestreiten, die in der Mitte spielt. Von den Treppen des Gradins kommen die Artisten herein und stellen sich dem Publikum vor. Zuvor werden auf den Monitoren an den Aufgängen sowie über Lautsprecher die wichtigsten Infos vorab gegeben. Das im gewohnten Flic-Flac-Stil, also mit mehr als einem Augenzwinkern.


René Casselly und Kathrin Menzinger

René Casselly und Kathrin Menzinger gehört sozusagen der erste Tanz. Mit einer mitreißenden Choreografie in schwarzen Outfits machen sie den Auftakt. Akrobatische Sprünge und ein Feuerwerk setzen zusätzliche Highlights. Danach begrüßt René Casselly das Publikum mit einer kurzen Moderation. Gegen Ende der Show gibt es dann den nächsten Tanz, diesmal ganz klassisch: Kathrin Menzinger in einem langen weißen Kleid, René Casselly im schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege. Dabei ist über den beiden schon ein Sicherheitsnetz gespannt. Denn für Casselly geht es direkt weiter ans Todesrad. Dies mit einem kleinen Umweg über eine Traverse mit Griffen daran und ein Trapez, die über dem großen Rad hängen. Das hat nur einen Kessel, dessen Außenseite der jugendliche Alleskönner nutzt. Für flotte Touren, Seilspringen, hohe Sätze und den Salto. Dabei geht es äußerst waghalsig zu und man ist froh, dass ein Netz darunter im Fall der Fälle für eine sanfte Landung sorgt.


Mongolian Angels, David Erikson, Duo Rock'n Rollers

Die beiden TV-Stars laufen außerhalb der Wertung, womit der Wettbewerb durch die Mongolian Angels eröffnet wird. Fünf Artistinnen in schwarz-goldenen Kostümen beweisen die Biegsamkeit ihrer Körper. In seiner Kontorsions-Kür zaubert das Quintett anmutige Bilder. Eine Darbietung, die in jedes klassische Circusprogramm passt. Anders sieht es da bei David Erikson aus. Der Schwede mit der bestens rasierten Glatze trägt gerne pink und kommt auch mit wenig Stoff gut aus. Bei seinem ersten Auftritt hat er pinke Gummistiefel, Shorts und eine schwarze Weste an. Später läuft er etwa in Highheels über die Bühne. Nicht nur seine Aufmachung ist eigenständig, seine Ideen und sein Stil als Comedian sind es ebenfalls. Wo hat man schonmal Bouncing-Jonglagen mit dem Mund gesehen? David Erikson zeigt sie im Handstand mit einem umgedrehten Eimer als Podest. Einen Ring lässt er mithilfe eines auf dem Kopf angesaugten Pümpels rotieren. Wir erleben ihn über den Nachmittag verteilt immer wieder in neuen Szenen. Einen von einem Zuschauer zugeworfenen Apfel fängt er mit einer Vorrichtung mit Stacheln dran, die an verschiedenen Körperteilen montiert wird, eine Stoffkatze wird mal eben auseinandergenommen, die Einzelteile ergeben Jonglierrequisiten. Herrlich auch, wenn Erikson in die Rolle des weihnachtlichen Amor schlüpft. An einer langen Angel hat er einen Mistelzweig befestigt, unter dem sich auch fremde Menschen küssen dürfen. Damit beglückt er verschiedene Gäste der Show. In dem auf den Displays im Zuschauerraum gezeigten Video, mit dem sich jeder Act vorstellt, berichtet das Duo Rock'n Rollers, wie es zu seiner Rollschuhakrobatik gekommen ist – über YouTube-Filme. Die beide Ukrainer sind also offensichtlich Autodidakten, die ganz augenscheinlich Talent und die richtigen Vorbilder gewählt haben. Denn wir erleben das vollständige Programm des Genres. Das Ganze wild und erotisch präsentiert, was wunderbar zu den rasanten Touren passt. Diese enden mit dem Genickhangwirbel.


Duo Requiem, Marianna de Sanctis, BarTigerzZ

Das Duo Requiem verpackt starke Akrobatik an den Strapaten in eine durchgehende Geschichte. Leider geht durch das rote Licht und die wummernde Musik zumindest für mich die eigentliche Arbeit etwas unter. Insbesondere die mit den Zähnen gehaltenen Tricks sind spektakulär. Inmitten des Publikums beginnt Marianna de Sanctis ihre Performance mit Reifen. Das ist vermutlich die treffendste Beschreibung ihrer Nummer, die mit einer herkömmlichen Hula-Hoop-Darbietung wenig gemein hat. Zunächst „leiht“ sie einzelnen Zuschauern ihre langen Haare. Diese nutzt sie wenig später, um einen der Ringe daran rotieren zu lassen. Auch sonst hat sie viele skurrile Kabinettstückchen in petto, die die Italienerin auf ihre ganz eigene Art vorführt. Marianna de Sanctis ist in vielerlei Hinsicht eine Inspiration. Dass diese vier Herren regelmäßig Sport treiben, sieht man den BarTigerzZ sofort an. Diese Körper kommen nicht von ungefähr. Für einige Minuten dürfen wir dem Quartett bei seinem Street Workout zusehen. Dabei steht ein Barren im Mittelpunkt, mithin ein selten in einem Circus genutztes Requisit. Dass man daran kraftvolle Akrobatik vollführen kann, beweisen die BarTigerzZ vortrefflich. Wie sie sich daran in den verschiedensten Varianten festhalten, statisch und in Bewegung, ist einfach enorm stark.


Ukrain Didyk Troupe, Sofia Rolao

Nach der Pause hängen die beiden Schaukeln nicht mehr unter dem Zeltdach, sondern stehen so auf der Bühne, dass von einer zur anderen gesprungen werden kann. Und diese Sätze über eine respektable Distanz beherrschen die Mitglieder der Ukrain Didyk Troupe mit traumwandlerischer Sicherheit. Eine Dame und fünf Herren zeigen beeindruckende Flüge, die nicht nur zur anderen Schaukel sowie zu einer der Matten gehen, sondern auch zu einer kleinen Reckstange, die mittig über den beiden Swings hängt. Ein Sprung „über Kreuz“ beendet diese größte Darbietung der Show. Ganz allein die Rundbühne füllen muss, oder besser darf, Sofia Rolao. Die Portugiesin hat in ihre Kür viele Standards der Equilibristik und Kontorsion vereint. Dank Kostüm, Präsentation und Requisit wirken sie aber neuartig. Sie arbeitet auf einem Gestell, das wie aus einem überdimensionalen Technikbaukasten daherkommt. Dies in einem knappen, modern geschnittenen Outfit. Auf zwei Händen hält sie sich genauso sicher im Gleichgewicht wie auf einer. Derweil hält sie ihren Körper in Positionen, die für unsereins unerreichbar sind. Der mit den Füßen ausgelöste Bogenschuss bildet das Finale.


Joseph Kerr, Trio Engel Acrobats, Rebekka Spiegel

Das Setting für den Auftritt von Joseph Kerr wirkt eher unspektakulär. Ein Tisch mit Tischtuch und Kerzen in Kerzenständern darauf. Wobei die Kerzen genauer gesagt mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte Zylinder sind, in denen ein Docht hängt. Von dort nimmt er das Feuer auf und spielt damit. Er schluckt und spuckt Feuer, wie man es schon des Öfteren gesehen hat. Doch die Kunst von Joseph Kerr geht weit über das Übliche hinaus. So transportiert er das Feuer etwa mit geschlossenem Mund von einem Ort zu einem anderen. Oder er lässt eine Flamme an seinem Mund lodern. Absolut faszinierend. Präsentiert in der passenden geheimnisvollen Aufmachung. Trio Engel Acrobats sind drei junge Frauen, die in ihrer Darbietung akrobatische Türme und Handvoltigen zeigen. Wir erleben etwa ein Hand-auf-Hand, das auf den Schultern der dritten Artistin gestanden wird, welche einen Spagat macht. Kraft, Gleichgewichtssinn und gegenseitiges Vertrauen sind hier gefragt. Letzteres braucht insbesondere das jüngste Mitglied der Formation, wenn es von seinen Partnerinnen in die Luft katapultiert wird, um nach einem gewagten Flug wieder sicher zu landen. Dann tritt die Frau ins Scheinwerferlicht, die schon zuvor im Vorzelt sowie im Rundgang um das Gradin unterwegs war. In ihrem Einkaufswagen sammelt sie Pfandflaschen. Einige davon (aus Plastik) wirft sie nun ins Publikum, um so die Zuschauer zu bestimmen, die Teil der Jury für das Festival werden. Doch das ist nur das Intro zu Rebekka Spiegels Luftnummer an einer Kette. Etliche der Tricks sind vom Vertikalseil bekannt. Wie viel anstrengender muss es sein, diese statt an einem vergleichsweise geschmeidigen Seil an einer Kette aus Stahl zu arbeiten? Wir erleben eine starke Kür, die zudem alles andere als Standard ist. Sogar Abfaller hat Rebekka Spiegel im Repertoire. Beim auf das Todesrad von René Casselly folgenden Finale ist dann neben dem gesamten Ensemble wieder die Liveband dabei.

Bei seinem 15. Festival der Artisten in Kassel beweist Flic Flac mit einem außergewöhnlichen Programm in einem noch außergewöhnlicheren Ambiente einmal mehr viel Innovationsgeist. Wir erleben teilweise recht ausgefallene Auftritte, die aus neuer Perspektive betrachtet werden können. Das Gradin mit seiner erhöhten Sitzplatzkapazität hat auch einen Besucherrekord ermöglicht. Knapp 80.000 Zuschauer sahen die Shows. Die Ukrain Didyk Troupe belegte übrigens im Wettbewerb den ersten Platz, gefolgt von den BarTigerzZ und David Erikson.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch