Diese Vielfalt von
Tierdarbietungen war noch vor wenigen Jahrzehnten ein Standard
in großen Manegen, sie hat unseren zirzensischen Geschmack,
unsere Sehgewohnheiten geprägt. Der tierreiche Circus war das,
was uns in jungen Jahren zu glühenden Circusfans gemacht hat. In
Dresden lebt er noch einmal auf. Dafür gebührt unser Dank dem
Direktor Müller-Milano, der den Weihnachts-Circus übernahm,
nachdem der Circus Busch-Roland nach den ersten 14 Ausgaben in
eine schwere Krise geraten war und den Betrieb einstellen
musste. Der letzte Direktor Filip Kaiser blieb dem Unternehmen
bis zum 24. Dresdner Weihnachts-Circus als technischer und
künstlerischer Leiter verbunden.

Außenansicht
Auf dem Volksfestplatz ist das große 50-Meter-Chapiteau
aufgeschlagen. Als Vorzelt mit reich ausgestatteter Restauration
dient das frühere Spielzelt des ostdeutschen Zirkus Probst.
Davor komplettiert ein kleineres Durchgangszelt das Ensemble.
Drei Vorstellungen werden an diesem Tag gegeben, alle drei sind komplett oder nahezu ausverkauft. Und dies bei einer
Kapazität von 2444 Plätzen. Die lange Show mit einer Spieldauer
von dreieinhalb Stunden und der Besucheransturm führen dazu,
dass die Abendveranstaltung an diesem Tag erst mit nahezu einer
Stunde Verspätung beginnt. Nachdem das bewährte Orchester aus
der Ukraine kriegsbedingt nicht zur Verfügung steht, wurde eine
hochklassige Formation aus elf deutschen, niederländischen und
ungarischen Musikerinnen und Musikern exklusiv für Dresden
zusammengestellt. Auf dem großen Podium über dem Artisteneingang
begleiten sie das Geschehen unter dem Dirigat von Lukas Proske
durchgängig mit Livemusik. Im Opening tanzen die fünf im Verlauf
der Show in nur homöopathischer Dosierung eingesetzten „Elite
Showgirls“, Sängerin Anynka Palduson versucht sich am Filmsong „Greatest
Show“, und das Ensemble versammelt sich zum Charivari in der
Manege.
  
Totti Alexis, Jozsef
Richter jun., Josue Marinelli
Bereits aufgebaut ist das große
Todesrad der amerikanischen Brüder Patrick und Josue Marinelli
vom Circus Vargas. Als einige der wenigen Vertreter des Genres
wagen sich zeitweise beide gleichzeitig auf die Außenseiten der
Laufkessel. Der dunkelhaarige Patrick präsentiert den Blindlauf
und einen Aufschwung außen am Rad, der blond gefärbte Josue
klettert auf der Achse des Rades und beeindruckt mit
Seilspringen und hohen Sprüngen. Mehrere Darbietungen in Dresden
wurden aus dem Saisonprogramm 2022 des Ungarischen
Nationalcircus übernommen, darunter der wunderbare Achterzug aus
jeweils vier weißen und schwarzen Pferden, den Direktor Jozsef
Richter jun. feurig präsentiert. Als Einleitung dirigiert er ein
Schulpferd am Zügel, dann folgen mannigfaltige Lauffiguren der
gesamten Tiergruppe. Außergewöhnlich sind beispielsweise die
Pirouetten, bei denen weiße und schwarze Pferde in
entgegengesetzte Richtungen drehen. Mit Steigern in
verschiedenen Varianten – mit einem, zwei und vier Pferden –
findet die Nummer ihren Abschluss. Schlicht eine Fehlbesetzung
in diesem ganz großen Rahmen ist Sprechstallmeister Freddie Rutz,
der mit seinen Moderationen im Plauderton das Publikum
jedenfalls in den hinteren Reihen nicht erreicht. Wie es
gelingen kann, auch ein solch großes Auditorium mit Präsenz und
Ausstrahlung, Stimme und Gestik sofort für sich einzunehmen,
beweist dagegen Clown Totti Alexis. Nachdem er beim
Trompetenspiel scheinbar eine Fliege verschluckt, verwandelt er
sich selbst in ein solches Insekt, ihm wachsen in kürzester Zeit
Flügel, Fühler und große Augen. Kein anderer Künstler stand in
den vergangenen Jahren häufiger in der Manege des Dresdner
Weihnachts-Circus als er.
  
Daniella Arata, Alexandro
Jostmann, Truppe Jozsef Richter
Ebenfalls vom Circus Vargas ist Daniella Arata
angereist. Auf ihrem hohen Podium kommen ihre klassischen
Handstände und Kontorsionen optimal zur Geltung. Mit strahlendem
Lächeln und im mit glitzernden Pailletten besetzten Kostüm
zelebriert sie ihre Kunst. Abschließend löst sie mit den Füßen
einen Bogenschuss aus und lässt auf diese Weise zielsicher einen
Luftballon platzen. Schwarz-weiß wie die Pferdefreiheit ist auch
die zweite Tiernummer im Programm, die Hundedressur von
Alexandro Jostmann und seiner Ehefrau mit ihren Pudeln. Das
Seilspringen sowie der Lauf auf den Hinterbeinen und auf einer
Tonne sind nur drei Elemente der Trickfolge. Sie war 2022 im
Saisonprogramm des Ungarischen Nationalcircus zu sehen, während
das hauseigene Schleuderbrett pausierte. Nun wurde dieses
akrobatische Highlight für
Dresden neu aufgelegt. Zu der mit viel Temperament verkauften
Trickfolge gehören beispielsweise Sprünge in den Spagat zwischen
zwei Menschentürmen, in den Sessel und zum Vier-Personen-Hoch,
wobei Fänger Jozsef Richter dabei auf einer Perchestange steht.

Robles
Zum Training in ihre „Kung
Fu-Schule“ entführen uns Totti und Charlotte Alexis mit ihren
beiden Söhnen Charlie und Maxim. Auch ein Zuschauer darf
mitmachen und sich an der „Kraftmaschine“ dieser äußerst
sympathischen Familie stählen. Für einen Höhepunkt im Wortsinn
sorgen schließlich die Robles auf dem Hochseil. Sprünge über
zwei auf dem Seil kauernde Partner, Dreierpyramide auf zwei
Fahrrädern, Zwei-Personen-Hoch und eine sicher zelebrierte
Sieben-Personen-Pyramide sind längst nicht alle Bestandteile
dieser starken Darbietung. Damit geht es in die Pause.
 
Alexander Lacey
Unter den ungezählten
Circusnummern, die wir kennen, gehört die großartige gemischte
Raubtierdressur von Alexander Lacey zu unseren Allzeit-Favoriten.
Stets absolvieren seine Tiger und Löwen Tricks von höchster
Schwierigkeit mit bestechender Präzision. Der Stil der
Präsentation ist jederzeit elegant, und die großen Katzen
befinden sich offenkundig in besten Händen. Alexander Laceys
Name ist – anders als bei den allermeisten Circuskünstlern –
tatsächlich einem breiten Publikum ein Begriff. Der Circus
unserer Zeit hat wenige echte Stars, er ist einer von ihnen. Die
Entwicklung der Branche bringt es gleichwohl mit sich, dass es
genügend Auftrittsmöglichkeiten realistischerweise nicht mehr
gibt. Alex Lacey hat die Konsequenzen gezogen und seine Karriere
in der Circusmanege mit einem Engagement in Dresden beendet.
Seine fünf Tiger und vier Löwen formieren sich zunächst zur
Pyramide. Es folgen ein vierfacher Rollover sowie ein weiter
Sprung über zwei Artgenossen. Die Tiere liegen gemeinsam zum
Teppich ab und lagern sich dann noch jeweils auf die Seite, sacht
legt sich der Tierlehrer auf seine Schützlinge – der „Signature
Trick“ der Darbietung in ihrer Fassung nach der Rückkehr aus den
USA. Dazwischen findet Lacey noch Zeit, augenzwinkernd das
Smartphone einer Zuschauerin in der ersten Logenreihe zu
übernehmen und im Zentralkäfig ein Selfie mit den Raubkatzen zu
machen. Mit fünffachem Hochsitzer, Schmuseeinheiten mit einem
Tiger und der Fahrt mit einem prächtigen Mähnenlöwen auf der
Spiegelkugel findet die Nummer ihren Abschluss. Wir verneigen
uns vor der herausragenden Karriere von Alexander Lacey
im Zentralkäfig und wünschen seiner Familie und ihm alles Gute. Er wird mit
seinen Tieren zunächst weiter auf dem Gestüt Wessling des Circus
Krone leben.
  
Michael Ferreri, Scott und
Muriel, Totti Alexis
Nachdem das umfangreiche Programm
gekürzt werden musste, erleben wir Clown Totti in der zweiten
Hälfte leider nur noch mit der Interpretation seines
„interaktiven Dschungel-Lieds“, dies auf der Tribüne während des
Käfigabbaus. Nun reiht sich in der Jubiläumsshow weiter
Höhepunkt an Höhepunkt. Ein solcher sind zweifellos die
Jonglagen von Michael Ferreri. In raffinierten Kombinationen
schickt er bis zu zehn Bälle in die Luft und fängt sie wieder
auf; mit seiner tollen Ausstrahlung nimmt er das Publikum
vollends für sich ein. Magisch geht es weiter mit Scott und
Muriel. Er gibt den Zauberer, der nur scheinbar an der Tücke des
Objekts scheitert, sie die herrlich überdrehte und zugleich
unendlich sympathische Assistentin. Es ist zum Brüllen komisch,
wie hier dem Klassiker der „zersägten Jungfrau“ eine völlig neue
und undurchschaubare Wendung gegeben wird. Spitzenklasse ist
auch der Trick, bei dem Muriel einer komplett flach
zusammenklappenden Kiste unversehrt entkommt und letztlich aus
dem Publikum wieder erscheint.
  
Patrick Marinelli, Cvetomira Kirova-Errani und
Guendalina Biasini, Truppe Jozsef Richter jun.
Nach der großartigen
Raubtiernummer wartet der Dresdner Weihnachts-Circus auch
mit der besten Elefantennummer auf, die es heute in Europa noch
gibt. Elvis Errani leitet seine drei Tiere durch die bekannte,
umfassende Trickfolge. Zu den Höhepunkten gehört das
Überschreiten seiner Mutter Guendalina Biasini, seiner Frau
Cvetomira Kirova-Errani und einer weiteren Partnerin, die am
Boden liegen, durch einen Elefanten. Die Kommandos gibt Elvis Errani per Mikrofon aus
dem Publikum. Nochmals einen ruhigen Kontrapunkt setzt Patrick
Marinelli mit seinen kraftvollen Flügen an den Strapaten zu
zurückhaltender Musik. Zum Abschluss der Show dürfen wir die
große Jockeyreiterei aus dem Ungarischen Nationalcircus erleben.
Alexandro Jostmann führt die Peitsche in der Manegenmitte.
Verschiedene Salti von Pferd zu Pferd, das Drei-Personen-Hoch mit einem longierten Kind an der Spitze und fünf
Personen auf einem Ross bleiben markante Eckpunkte des
Repertoires. Ein Fest ist der Anblick, wie der stehend reitende Jozsef Richter jun. die ungarische und die deutsche Flagge
über die Köpfe der Logengäste streichen lässt. |