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Alexis Gruss 2017 - "Quintessence"
www.alexis-gruss.com

Paris, 10. Februar 2018: Ist das noch Alexis Gruss? Diese Frage haben sich wohl viele der Stammbesucher des „Cirque National“ in den letzten Jahren gefragt. Aus dem „Cirque à l‘ancien“ (Circus nach alter Art) wurde gemeinsam mit der Akrobatentruppe „Les Farfadais“ das „Spectacle équestre et aérien“ (Reit- und Luftspektakel). Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: keine Ahnung. Denn „Quintessence“ ist das erste Programm der Familie Gruss, das ich sehe. Im kalten Wintertreiben im Bois de Boulogne passen die schneeweißen Zeltanlagen wunderbar ins tolle landschaftliche Bild.

Alles andere als kalt ist die wunderschöne, intime Atmosphäre. Die liebevoll gestaltete Restauration beherbergt die Besucher bis zum Beginn der Vorstellung. Gegensätze lassen sich im Hauptzelt finden: die aufwendige, umfangreiche Lichtanlage und die bombastische Plattform, die die zahlreichen Auftritte der Farfadais möglich macht, finden sich zwischen traditionellen Sturmstangen und Bankreihen in den hinteren Bereichen wieder. Über dem samtroten, breiten Artisteneingang sitzt das mitreißend spielende Orchester unter Sylvain Rolland. Die Rahmenhandlung von „Quintessence“ ist schnell erzählt und spielt in beiden Programmteilen eine eher untergeordnete Rolle. Die kleine Gloria (Tochter von Maud und Tony Florees) soll das ungestüme, wilde Pferd Pegasus retten. Dafür benötigt sie vier Gegenstände, die mit den Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde assoziiert werden. Die Einführung und die weitere Erzählung in diese kleine Geschichte übernimmt Sängerin Rachel Gardner-Smith. Sie begleitet hauptsächlich die Auftritte der Farfadais mit mitreißend gesungenen und gespielten Pop-Hits der letzten Jahre. Dass diese Form der musikalischen Begleitung dank des Wiedererkennungseffekts durchaus Freude bei der jüngeren Generation auslöst, ist anhand begeistert mitgehenden Jugendlichen zu erkennen. „Quintessence“ beginnt mit einem eindrucksvollen Bild: Auf einem metallenen Ei sitzen die sechs Farfadais-Akrobaten, während acht Reiter der Familie Gruss in die Manege kommen. Prinzipal Alexis Gruss bleibt dort auch und hält vom Pferd aus mithilfe eines Seils das Gestell in Bewegung. Die Arbeit der Farfadais hingegen ist an diesem Gerät wie auch an den anderen verwendeten Requisiten technisch eher unspektakulär und beruht auf verschiedensten Posen. Im starken Kontrast dazu steht der technische Aufwand, der die großen Gruppenbilder möglich macht. In der Kuppel des schneeweißen Chapiteaus hängt die riesige Plattform, die je nach Notwendigkeit herabgelassen und heraufgezogen werden kann. Darüber befindet sich eine weitere Aufhängung für sechs Luftringe sowie eine Anlage, die vor dem Finale Regen ermöglicht.


Alexis Gruss

Mit deutlich weniger Drumherum kommt die Familie Gruss daher. Dafür haben aber alle Familienmitglieder eine großartige Ausstrahlung, die sie zu wahren Manegenpersönlichkeiten macht. Kombiniert mit dem enormen Sachverstand im Umgang mit Tieren und großem artistischen Können entstehen wahre Sternstunden der Manege. Und das ab dem ersten Block an, der mit den ohne Sattel reitenden Brüdern Stephan und Firmin Gruss beginnt. Alsbald übernimmt Alexis Gruss mit Steigern verschiedenster Couleur. Es ist einfach faszinierend, wenn die Pferde sich nur nach stimmlichen Kommandos auf die Hinterbeine erheben. Chapeau! Ebenso selten und anspruchsvoll ist das Pas de Trois von Maud, Stephan und Firmin Gruss, bei der sie unter anderem mehrere Umschwünge um eine Stange auf den Schultern ihrer Brüder zeigt. Im Anschluss tritt der Prinzipal nochmals mit drei flechtenden und steigenden Füchsen in das Rund.


Alexis Gruss, Les Farfadais

Am Boden unterstützt durch einige Mitglieder der Familie Gruss stürzen sich die Farfadais von der großen Plattform aus in verschiedenen Formationen an langen Bungee-Seilen in die Tiefe. Hier steht der Schauwert deutlich im Vordergrund. Auf schweren Kaltblütern zeigt die Familie Gruss eine schöne Jockey-Reiterei, deren Höhepunkt ein Salto zu Pferd ist. Auf die ganz hohen Schwierigkeitsgrade wird jedoch verzichtet. Dass man sich auch im fortgeschrittenen Alter auf moderne choreographische Experimente einlassen kann, beweist Alexis Gruss nicht nur mit der gesamten Zusammenstellung des Programms, sondern auch mit seiner Hohen Schule. Bei dieser tanzt und singt Rachel Gardner-Smith, während der Direktor perfekt herausgearbeitete Lektionen wie Piaffe, Passage und Kompliment reitet. Und das im Alter von 73 Jahren!


Les Farfadais und Rachel Gardner-Smith, Maud Florees

Ebenfalls zu den prägenden Gesichtern im elterlichen Unternehmen gehört seit vielen Jahren die charmante Maud Florees, geborene Gruss. Auf dem Drahtseil fährt sie Einrad, springt Seil und gleitet in den Spagat. Richtig spektakulär und jedenfalls von mir so noch nie gesehen ist ihr Schlusstrick. Während Florees im Spitzentanz auf dem Draht steht, gleitet dieser herab und wird zu einem Schlappseil. Durchgängig verharrt sie auf ihren Zehenspitzen und bringt das Schlappseil schließlich auch noch zum Schwingen. Ihr Ehemann Tony ist direkt danach bei der Gruppenjonglage mit vier Gruss-Männern dabei. Neben parallel gearbeiteten Tricks jonglieren die Universal-Talente auch in unterschiedlichen Passings. Auf viel Ästhetik setzen die Farfadais-Artisten, wenn sie nur mit weißer Unterwäsche bekleidet auf der heruntergelassenen Plattform jeweils zu zweit Partnerakrobatik zeigen. Dabei beziehen sie auf dem Boden liegendes Mehl ein. Zur Pause zeigt Firmin Gruss dann die Nummer, die seine Familie beherrscht wie keine andere: die große ungarische Post mit insgesamt 17 Pferden. Sicher und routiniert nimmt er alle Leinen auf. Bei den letzten drei Vierbeinern sind nur noch Trommelklänge zu hören. Wenn dann aber das Gespann komplett ist, spielt das Orchester dermaßen mitreißend, ist das Bild in der Manege so großartig, dass es einen kaum mehr auf den Sitzen hält. Zusammengenommen ist dieser erste Teil ein wenig dichter und stärker als der darauffolgende zweite.


Stephan Gruss

Dieser beginnt mit der Präsentation des Elements „Feuer“. Unzählige Fackelträger kommen in die Manege und stellen sich auf die Piste, um Alexis Gruss zu empfangen, der auf einem von zwei Rappen gezogenen Streitwagen in das Rund prescht. In dazu passenden Kostümen produzieren sich die Farfadais relativ unspektakulär an Vertikalseilen. 2016 mit dem Schweizer National-Circus Knie auf Tournee waren Charles und Alexandre Gruss. Gemeinsam mit Vater Stephan und Onkel Firmin haben sie eine neue Variante der Jonglagen zu Pferd einstudiert, bei der neben Keulen auch mit Äxten und brennenden Fackeln gearbeitet wird. Zusätzlich schießen sie während des Stehendreiten mit Pfeilen beziehungsweise werfen mit Äxten auf eine Scheibe in der Manegenmitte. Ihr Talent hat Gypsy Gruss offensichtlich an ihre Tochter Maud vererbt. Bei der gemeinsamen Hohen Schule harmonieren die prägenden Frauen im Gruss-Kosmos prächtig. Schwierigste Figuren werden auf Friesen, Palominos und Lusitanos perfekt geritten. „Love me like you do“ von Ellie Goulding bietet den musikalischen Rahmen für den abermals auf Posen beruhenden Auftritt der Farfadais am Luftring. Zuerst einzeln, dann zu zweit an einem Gerät werden die wenigen Tricks gezeigt. Auf der freistehenden Leiter klettert Firmin Gruss. Dabei zeigt er neben einem Handstand auch den Rückwärtssalto auf den Boden.


Alexis Gruss

In den letzten Jahren gab es im Grunde nur noch den Circus Knie, der regelmäßig ein großes Pferdekarussell zeigte. In „Quintessence“ gibt es dieses große Bild auch erstmals seit längerer Zeit wieder im französischen Nationalcircus zu sehen. Dafür vereint Alexis Gruss insgesamt 22 Pferde auf drei Bahnen. Gelang dies im letzten Jahr nach Augenzeugen nur mit einigen Helfern, läuft nun alles reibungslos ab. Eine charmante Idee steht zu Beginn der Hundedressur von Gypsy Gruss. Sie kommt in einem weiten Überrock in die Manege. Kaum legt sie diesen ab, springen zwei kleine Hunde hervor, die einige sehenswerte Tricks auf Lager haben. Gewaltig ist der Aufwand, den die Schlussnummer erfordert. In der Plattform sind nun Waterbowls eingebaut, in denen sich die Farfadais räkeln. Dann zeigen sie unter anderem Abfaller an Schlaufentüchern, ehe wiederum an die Strapaten gewechselt wird. Dazu regnet es aus der Kuppel, aus der Piste schießen Fontänen. Rachel Gardner-Smith singt „Euphoria“. Wie schon zuvor arbeiten diese französischen Artisten in knappster Bekleidung und beginnen sich lasziv zu „duschen“. Es ist fraglich, ob die durchaus zahlreichen Kinder im Publikum damit etwas anfangen können. Im anschließenden Finale erscheint das erlöste Pferd Pegasus. Schnell erheben sich die Zuschauer zu geschlossenen Standing Ovations.

„Quintessence“ ist eine Produktion der Kontraste. Auf der einen Seite „Les Farfadais“ mit modernen, dank der musikalischen Seite und überwiegend sympathischen Akteuren durchaus gefälligen, aber leistungsschwachen und sich ähnelnden Auftritten. Auf der anderen Seite die Familie Gruss, die aus einer völlig anderen Sparte des circensischen Schaffens kommt und mit Vielseitigkeit, Ausstrahlung und Leistung überzeugt. Insgesamt hat mich mein Erstbesuch im „Cirque National“ durchaus begeistert. Im nächsten Jahr kehrt der Cirque Alexis Gruss mit der neuen Show „Origines“ zu seinen Ursprünge zurück. Ich freue mich also auf meinen „zweiten Erstbesuch“, dann also wieder im „Cirque à l‘ancien“.

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Text: Jonas Haaß; Fotos: Time to Fly / Cirque Alexis Gruss