Alles andere als kalt ist die
wunderschöne, intime Atmosphäre. Die liebevoll gestaltete
Restauration beherbergt die Besucher bis zum Beginn der
Vorstellung. Gegensätze lassen sich im Hauptzelt finden: die
aufwendige, umfangreiche Lichtanlage und die bombastische
Plattform, die die zahlreichen Auftritte der Farfadais möglich
macht, finden sich zwischen traditionellen Sturmstangen und
Bankreihen in den hinteren Bereichen wieder. Über dem samtroten,
breiten Artisteneingang sitzt das mitreißend spielende Orchester
unter Sylvain Rolland. Die Rahmenhandlung von „Quintessence“ ist
schnell erzählt und spielt in beiden Programmteilen eine eher
untergeordnete Rolle. Die kleine Gloria (Tochter von
Maud und Tony Florees) soll das ungestüme, wilde Pferd Pegasus
retten. Dafür benötigt sie vier Gegenstände, die mit den
Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde assoziiert werden. Die
Einführung und die weitere Erzählung in diese kleine Geschichte
übernimmt Sängerin Rachel Gardner-Smith. Sie begleitet
hauptsächlich die Auftritte der Farfadais mit mitreißend
gesungenen und gespielten Pop-Hits der letzten Jahre. Dass diese
Form der musikalischen Begleitung dank des Wiedererkennungseffekts durchaus Freude bei der jüngeren
Generation auslöst, ist anhand begeistert mitgehenden
Jugendlichen zu erkennen. „Quintessence“ beginnt mit einem
eindrucksvollen Bild: Auf einem metallenen Ei sitzen die sechs
Farfadais-Akrobaten, während acht Reiter der Familie Gruss in
die Manege kommen. Prinzipal Alexis Gruss bleibt dort auch und
hält vom Pferd aus mithilfe eines Seils das Gestell in Bewegung.
Die Arbeit der Farfadais hingegen ist an diesem Gerät wie
auch an den anderen verwendeten Requisiten technisch eher
unspektakulär und beruht auf verschiedensten Posen. Im starken
Kontrast dazu steht der technische Aufwand, der die großen
Gruppenbilder möglich macht. In der Kuppel des schneeweißen Chapiteaus hängt die riesige Plattform, die je nach
Notwendigkeit herabgelassen und heraufgezogen werden kann.
Darüber befindet sich eine weitere Aufhängung für sechs
Luftringe sowie eine Anlage, die vor dem Finale Regen
ermöglicht.
Alexis Gruss
Mit deutlich weniger Drumherum
kommt die Familie Gruss daher. Dafür haben aber alle
Familienmitglieder eine großartige Ausstrahlung, die sie zu
wahren Manegenpersönlichkeiten macht. Kombiniert mit dem enormen
Sachverstand im Umgang mit Tieren und großem artistischen Können
entstehen wahre Sternstunden der Manege. Und das ab dem ersten
Block an, der mit den ohne Sattel reitenden Brüdern Stephan und
Firmin Gruss beginnt. Alsbald übernimmt Alexis Gruss mit
Steigern verschiedenster Couleur. Es ist einfach faszinierend,
wenn die Pferde sich nur nach stimmlichen Kommandos auf die
Hinterbeine erheben. Chapeau! Ebenso selten und anspruchsvoll
ist das Pas de Trois von Maud, Stephan und Firmin Gruss, bei der
sie unter anderem mehrere Umschwünge um eine Stange auf den
Schultern ihrer Brüder zeigt. Im Anschluss tritt der Prinzipal
nochmals mit drei flechtenden und steigenden Füchsen in das
Rund.
Alexis Gruss, Les Farfadais
Am Boden unterstützt durch einige
Mitglieder der Familie Gruss stürzen sich die Farfadais von der
großen Plattform aus in verschiedenen Formationen an langen
Bungee-Seilen in die Tiefe. Hier steht der Schauwert deutlich im
Vordergrund. Auf schweren Kaltblütern zeigt die Familie Gruss
eine schöne Jockey-Reiterei, deren Höhepunkt ein Salto zu Pferd
ist. Auf die ganz hohen Schwierigkeitsgrade wird jedoch
verzichtet. Dass man sich auch im fortgeschrittenen Alter auf moderne
choreographische Experimente einlassen kann, beweist Alexis Gruss nicht nur mit der gesamten Zusammenstellung des Programms,
sondern auch mit seiner Hohen Schule. Bei dieser tanzt und singt
Rachel Gardner-Smith, während der Direktor perfekt
herausgearbeitete Lektionen wie Piaffe, Passage und Kompliment
reitet. Und das im Alter von 73 Jahren!
Les Farfadais und
Rachel Gardner-Smith,
Maud
Florees
Ebenfalls zu den prägenden
Gesichtern im elterlichen Unternehmen gehört seit vielen Jahren
die charmante Maud Florees, geborene Gruss. Auf dem Drahtseil fährt sie Einrad, springt Seil und gleitet in den
Spagat. Richtig spektakulär und jedenfalls von mir so noch nie
gesehen ist ihr Schlusstrick. Während Florees im Spitzentanz auf
dem Draht steht, gleitet dieser herab und wird zu einem
Schlappseil. Durchgängig verharrt sie auf ihren Zehenspitzen und
bringt das Schlappseil schließlich auch noch zum Schwingen. Ihr
Ehemann Tony ist direkt danach bei der Gruppenjonglage mit vier Gruss-Männern dabei. Neben parallel gearbeiteten Tricks
jonglieren die Universal-Talente auch in unterschiedlichen
Passings. Auf viel Ästhetik setzen die Farfadais-Artisten,
wenn sie nur mit weißer Unterwäsche bekleidet auf der
heruntergelassenen Plattform jeweils zu zweit Partnerakrobatik
zeigen. Dabei beziehen sie auf dem Boden liegendes Mehl ein. Zur
Pause zeigt Firmin Gruss dann die Nummer, die seine Familie
beherrscht wie keine andere: die große ungarische Post mit
insgesamt 17 Pferden. Sicher und routiniert nimmt er alle Leinen
auf. Bei den letzten drei Vierbeinern sind nur noch
Trommelklänge zu hören. Wenn dann aber das Gespann komplett ist,
spielt das Orchester dermaßen mitreißend, ist das Bild in der
Manege so großartig, dass es einen kaum mehr auf den Sitzen
hält. Zusammengenommen ist dieser erste Teil ein wenig dichter
und stärker als der darauffolgende zweite.
Stephan Gruss
Dieser beginnt mit der
Präsentation des Elements „Feuer“. Unzählige Fackelträger kommen
in die Manege und stellen sich auf die Piste, um Alexis Gruss zu
empfangen, der auf einem von zwei Rappen gezogenen Streitwagen
in das Rund prescht. In dazu passenden Kostümen produzieren sich
die Farfadais relativ unspektakulär an Vertikalseilen. 2016 mit
dem Schweizer National-Circus Knie auf Tournee waren Charles und
Alexandre Gruss. Gemeinsam mit Vater Stephan und Onkel Firmin
haben sie eine neue Variante der Jonglagen zu Pferd einstudiert,
bei der neben Keulen auch mit Äxten und brennenden Fackeln
gearbeitet wird. Zusätzlich schießen sie während des
Stehendreiten mit Pfeilen beziehungsweise werfen mit Äxten auf
eine Scheibe in der Manegenmitte. Ihr Talent hat Gypsy Gruss
offensichtlich an ihre Tochter Maud vererbt. Bei der gemeinsamen
Hohen Schule harmonieren die prägenden Frauen im Gruss-Kosmos
prächtig. Schwierigste Figuren werden auf Friesen, Palominos und
Lusitanos perfekt geritten. „Love me like you do“ von Ellie
Goulding bietet den musikalischen Rahmen für den abermals auf
Posen beruhenden Auftritt der Farfadais am Luftring. Zuerst
einzeln, dann zu zweit an einem Gerät werden die wenigen Tricks
gezeigt. Auf der freistehenden Leiter klettert Firmin Gruss.
Dabei zeigt er neben einem Handstand auch den Rückwärtssalto auf
den Boden.
Alexis Gruss
In den letzten Jahren gab es im
Grunde nur noch den Circus Knie, der regelmäßig ein großes
Pferdekarussell zeigte. In „Quintessence“ gibt es dieses große
Bild auch erstmals seit längerer Zeit wieder im französischen
Nationalcircus zu sehen. Dafür vereint Alexis Gruss insgesamt 22
Pferde auf drei Bahnen. Gelang dies im letzten Jahr nach
Augenzeugen nur mit
einigen Helfern, läuft nun alles reibungslos ab. Eine charmante
Idee steht zu Beginn der Hundedressur von Gypsy Gruss. Sie kommt
in einem weiten Überrock in die Manege. Kaum legt sie diesen ab,
springen zwei kleine Hunde hervor, die einige sehenswerte Tricks
auf Lager haben. Gewaltig ist der Aufwand, den die Schlussnummer
erfordert. In der Plattform sind nun Waterbowls eingebaut, in
denen sich die Farfadais räkeln. Dann zeigen sie
unter anderem Abfaller an Schlaufentüchern, ehe wiederum an die
Strapaten gewechselt wird. Dazu regnet es aus der Kuppel, aus
der Piste schießen Fontänen. Rachel Gardner-Smith singt „Euphoria“.
Wie schon zuvor arbeiten diese französischen Artisten in
knappster Bekleidung und beginnen sich lasziv zu „duschen“. Es
ist fraglich, ob die durchaus zahlreichen Kinder im Publikum
damit etwas anfangen können. Im anschließenden Finale erscheint
das erlöste Pferd Pegasus. Schnell erheben sich die Zuschauer zu
geschlossenen Standing Ovations. |