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Cirque Alexis Gruss 2013 - "Silvia"
www.alexis-gruss.com

Paris, 6. Dezember 2013: „Gruss, dein Circus ist ein Vogel. Aber dieser Vogel setzt sich nicht auf Äste, er setzt sich auf die Wurzeln.“ – Mit diesen wunderbaren Worten beschreibt der verstorbene französische Musiker und Künstler Claude Nougaro wohl am eindringlichsten, was den Cirque National Alexis Gruss so einzigartig macht. Wie niemand anderes sind die drei Generationen der Familie Gruss mit der Tradition des Circus als Stätte der Pferde verwurzelt. Zugleich aber machen sie sich auf den Weg, frei wie die Vögel, offen für Neues. Die oft beschworene Verbindung von Tradition und Moderne, in der Gruss-Manege ist sie greifbar – in einer höchst ästhetischen, poetischen, zauberhaften Reinheit.

Das gilt auch für die aktuelle Produktion „Silvia“, gewidmet der Schauspielerin Silvia Monfort (1923 – 1991). Sie war eng mit dem Unternehmen verbunden und brachte es vor vierzig Jahren zum ersten Mal nach Paris. Aus der Zusammenarbeit mit ihr entstand des Konzept des „Cirque à l'ancienne“ („Circus auf die alte Weise“), welches seitdem erfolgreich umgesetzt wird. Dies beinhaltet, wie Alexis Gruss im Programmheft beschreibt, in jedem Jahr aufs Neue die Umsetzung eines durchgehenden Themas, in der stets das Pferd im Mittelpunkt steht. Viel Wert legt die Familie dabei auf Inszenierung, Choreographie, Kostüme, Musik und Licht. Dafür werden gar externe Profis aus Theater, Oper und Mode engagiert. So arbeitet man bei „Silvia“ bei Inszenierung und Choreographie zum neunten Mal mit Sandrine Diard zusammen, die als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin aktiv ist. Sie bildet die künstlerische Leitung zusammen mit Stephan Gruss, dem ältesten Sohn der Familie, während dessen Bruder Firmin sich um administrative und technische Angelegenheiten kümmert. Schwester Maud Florees (geb. Gruss) ist für die Pferde verantwortlich.


Große Ensembledarbietungen - eine choreographische Herausforderung

Während mindestens fünfzehn Probentagen entsteht im familieneigenen Park, dem „Parc Alexis Gruss“ im südfranzösischen Piolenc, den Sommer über eine neue Show, die dann zunächst dort und anschließend von Oktober bis März in der Hauptstadt Paris zu sehen ist. Eine Besonderheit der Programme und zugleich durchaus schwierig für die Inszenierung ist dabei stets, dass in den meisten Darbietungen gleich zehn bis 15 Personen zusammen in der Manege aktiv sind. Das Ensemble ist weitgehend das bewährte. Neben Alexis Gruss und seiner Frau Gipsy sind auch diesmal ihre Kinder nebst Partnern und eigenem Nachwuchs dabei: Stephan und Nathalie Gruss mit ihren vier Söhnen Alexandre, Charles, Louis und Joseph Gruss, Firmin Gruss sowie Maud Florees mit Ehemann Tony. Ebenfalls bekannt: Tony Florees’ Schwester Sarah sowie Francesco Fratellini, der bereits sein fünftes Gruss-Jahr bestreitet. Neu sind hingegen – nach dem Ballett im letzten Jahr – nun erstmals vier junge Circus- und Sportschulabsolventen. Olga Midrouillet, Célia Milesi, Nicolas Samsoën und Fabien Thévenot verstärken vor allem die artistischen Truppennummern. Zehn Musiker rund um Orchesterchef Sylvain Rolland sorgen für abwechslungsreiche, druckvolle Musik. Sie nehmen auch in diesem Jahr auf einer erhöhten Plattform Platz, unter der sich drehbar der Artisteneingang sowie eine beidseitig bespielbare Leinwand befinden, auf die akzentuiert Impressionen zu den Darbietungen projiziert werden. Wahlweise wird so auch der Aktionsraum der Artisten nach hinten vergrößert, was mehr Möglichkeiten (z.B. für längere Anläufe) zulässt.


Stephan, Firmin, Charles und Alexandre Gruss, Maud Florees, Ensemble 

„Silvia“ erzählt in vier Akten die Geschichte des Cirque National Alexis Gruss und vereint dafür die größten Darbietungen der vergangenen 40 Jahre. Dennoch geht es am Anfang zunächst leider etwas zu behäbig los: In der Manege wärmen sich die Artisten in Trainingsanzügen im Probenlicht auf, nach kurzer Dunkelheit kehren dann alle in ihren bunten Kostümen zurück. Unter den Klängen einer Kapelle, die Musik kommt von Mitgliedern der Familie Gruss, werden kurze akrobatische Kostproben, u.a. auf dem Drahtseil, dargeboten. Alexis Gruss mimt den sonoren Rekommandeur, der die traditionelle Parade anführt. Maud Florees bringt dann das erste Pferd in die Manege, auf dessen Rücken sie verschiedene Panneau-Sprünge ausführt. Der Auftritt endet mit dem Sprung der Ballerina durch den Papierreifen. Nach einer kurzen Reprise – Tony Florees und Francesco Fratellini als verhinderte Hand-auf-Hand-Akrobaten, dennoch mit einigen starken Tricks – geht es mit der Jockeyreiterei weiter. Hier stehen gleich zwei Generationen Gruss in der Manege: neben den Geschwistern Stephan, Firmin und Maud auch Stephans Söhne Alexandre, Charles und Louis. Im Polo-Outfit zeigen sie variantenreiche Sprünge – allerdings ohne ganz große Leistungen wie einen Salto. Damit endet bereits der erste Akt, der sich mit den Anfängen des Unternehmens um 1974 beschäftigt.


Alexis Gruss, Ensemble 

Der zweite Akt beinhaltet daraufhin Darbietungen, die das Unternehmen nach seiner Erhebung zum „Cirque National“ 1981 auch über Frankreich hinaus bekannt machten. In diese Zeit fallen u.a. auch erste Gastspiele im Münchner Krone-Bau. Daran erinnern soll nun ein größerer Western-Block, in dem Gipsy Gruss einige Elemente der Hohen Schule reitet. Fast die gesamte Familie Gruss ist zudem mit Lasso- und Peitschenspielen zu sehen. Alexis Gruss etwa erstickt via Peitsche eine Zigarette, die seine Frau mit dem Mund hält. Auch Tony Florees und Francesco Fratellini versuchen sich als komische Peitschenspieler, bei denen es naturgemäß nicht so klappt, wie angedacht. Pünktlich zur näher rückenden Pause zieht das Programm danach ordentlich an. Erster Glanzpunkt ist die folgende Pferdedressur mit Prinzipal Alexis Gruss, der zunächst sechs Araber zum Flechten bringt. Beeindruckend, wie die Tiere auch ohne großes Zutun des Tierlehrers hinter seinem Rücken die Figuren laufen. Mehrere Steiger runden die Nummer ab. Nach einer weiteren Reprise – Francesco Fratellini als Tennisspieler – kommt es zu einer Neuauflage einer Nummer, die bereits Anfang der 1980er Jahre für Furore gesorgt haben muss. Anders ist es zumindest kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, wie großartig auch die jetzt Inszenierung ausfällt; zugegebenermaßen mit deutlich besseren technischen Effekten. Die komplette Manege ist in Nebel getaucht, auf der Leinwand ist die tobende See zu sehen. Auf einmal erhebt sich die Leinwand, und im Scheinwerferlicht kommt dem Zuschauer ein riesiges Schiff entgegen. Die „Santa Rita“ füllt die ganze Manege aus, beherbergt zudem Trampolin, Mast und Reck für die akrobatischen Leistungen der Matrosen. Das sind in diesem Fall jene erwähnten vier jungen Circus- und Sportschulabsolventen sowie Firmin Gruss, Francesco Fratellini und Tony Florees. Salti und Pirouetten werden hauptsächlich auf dem Trampolin gezeigt, aber auch am Reck und am Mast demonstrieren die Akteure ihre Ausbildung. Man hätte sich noch mehr Tricks gewünscht, die die Turngeräte verbinden. Aber auch so ist der Schauwert dieser Darbietung wohl einzigartig. In Sachen Inszenierung kann hier keiner der Familie Gruss etwas vormachen.


Firmin Gruss, Maud Florees, Nathalie und Stephan Gruss

Nach der Pause, im stärkeren und durchweg überzeugenden zweiten Programmteil, stellt der dritte Akt zunächst die artistischen Fähigkeiten der Familie in den Mittelpunkt. In bunten Harlekin-Kostümen wird auf vielfältige Weise mit Hüten jongliert. Mit Ausnahme von Alexis Gruss und Maud Florees ist dabei das komplette Ensemble vertreten. Letztere überquert nämlich anschließend u.a. mit dem Einrad und im Spitzentanz die kombinierte, diagonal über der Manege angebrachte Schräg-, Hoch- und Schlappseil-Konstruktion. Ohne Frage, der artistische Höhepunkt des Programms. Wunderschön anzusehen ist auch die ganz in Weiß gehaltene Kür an Tüchern von Nathalie Gruss, die ihr Mann Stephan mit einem Trompetensolo in der Manege begleitet. Als Parodie gibt es das Ganze auch noch mal als „romantisches“ Pas de Deux von Tony Florees und Francesco Fratellini. Beide agieren zusammen mit Louis und Alexis Gruss auch in einem Entree, in dem jeder mit einer noch schlimmeren Verletzung aufwartet, um doch auf keinen Fall seiner Arbeit nachgehen zu müssen. Tierisch endet dann aber auch dieser Akt mit der Präsentation der Elefantendame Syndha durch Firmin Gruss. Der Dickhäuter balanciert u.a. über Baumstämme, zeigt den Kopfstand und richtet sich auf.


Firmin Gruss, Ensemble, Charles und Alexandre Gruss 

Was dann im vierten Akt noch folgt, würde man im Sport wohl eine regelrechte Schlussoffensive nennen. „Die Wurzeln und die Flügel“ ist dieser Akt, passend zu den eingangs erwähnten Worten, überschrieben. Es ist die Krönung dieses Programms, und zwar eine, die – zum Glück – ausgiebig zelebriert wird. Vier akrobatisch-equestrische Darbietungen auf allerhöchstem Niveau, die miteinander eine perfekte Klimax bilden. Was bleibt ist Begeisterung. Los gehts gleich mit Alexandre und Charles Gruss als Jongleure auf dem Pferderücken, natürlich in rasantem Tempo. Das ganze Ensemble, in traumhaft edlen Kostümen im Metallic-Look, mischt anschließend mit, als Batoude-Springer über bis zu fünf Pferde hinweg. Jene Pferde dienen dann auch gleich als Basis für die unterschiedlichsten Menschenpyramiden zu Ross. Allein die durchdachte Umsetzung dieses Blockes wäre ein Lob wert, vielmehr sind es aber auch die Leistungen der Akteure. Und, was macht man, wenn es kaum noch besser geht? Genau, man setzt erst Recht noch einen drauf – geradezu en passant, mit einer der besten Circusnummern unserer Zeit. Die Ungarische Post der Familie Gruss ist einfach nicht zu übertreffen. Unglaubliche 15 (!) Voraus-Pferde preschen unter der Anleitung von Alexis Gruss in einem Wahnsinnstempo durch die Manege und unter Maud Florees hindurch. Sicher und elegant nimmt sie die Pferde auf. Keine reitet die Post aktuell besser als sie. Viele Superlative wären wohl passend: sensationell, atemberaubend, grandios… besser geht es nicht. Circus-Kunst in Vollendung!

Es wird nicht leicht sein für die Familie Gruss, dieses Finale im kommenden Jahr zu überbieten. Dass die Familie Gruss trotzdem einen Weg suchen wird, dies zu tun, steht außer Frage – und höchstwahrscheinlich wird es sogar gelingen. Mit dem Pferd als Mittelpunkt und einer Familie, deren Kreativität und Können einfach nur Anerkennung gebührt. Wie ein Vogel, der Neues findet und doch stets zu den Wurzeln zurückkehrt.

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Text: Benedikt Ricken; Fotos: Cirque Alexis Gruss / Karim El Dib (www.image-k.com)