Das gilt auch für die aktuelle
Produktion „Silvia“, gewidmet der Schauspielerin Silvia Monfort
(1923 – 1991). Sie war eng mit dem Unternehmen verbunden und
brachte es vor vierzig Jahren zum ersten Mal nach Paris. Aus der
Zusammenarbeit mit ihr entstand des Konzept des „Cirque à
l'ancienne“ („Circus auf die alte Weise“), welches seitdem
erfolgreich umgesetzt wird. Dies beinhaltet, wie Alexis Gruss im
Programmheft beschreibt, in jedem Jahr aufs Neue die Umsetzung
eines durchgehenden Themas, in der stets das Pferd im
Mittelpunkt steht. Viel Wert legt die Familie dabei auf
Inszenierung, Choreographie, Kostüme, Musik und Licht. Dafür
werden gar externe Profis aus Theater, Oper und Mode engagiert.
So arbeitet man bei „Silvia“ bei Inszenierung und Choreographie
zum neunten Mal mit Sandrine Diard zusammen, die als Tänzerin,
Sängerin und Schauspielerin aktiv ist. Sie bildet die
künstlerische Leitung zusammen mit Stephan Gruss, dem ältesten
Sohn der Familie, während dessen Bruder Firmin sich um
administrative und technische Angelegenheiten kümmert. Schwester
Maud Florees (geb. Gruss) ist für die Pferde verantwortlich.
Große
Ensembledarbietungen - eine choreographische Herausforderung
Während mindestens fünfzehn Probentagen entsteht im
familieneigenen Park, dem „Parc Alexis Gruss“ im
südfranzösischen Piolenc, den Sommer über eine neue Show, die
dann zunächst dort und anschließend von Oktober bis März in der
Hauptstadt Paris zu sehen ist. Eine Besonderheit der Programme
und zugleich durchaus schwierig für die Inszenierung ist dabei
stets, dass in den meisten Darbietungen gleich zehn bis 15
Personen zusammen in der Manege aktiv sind. Das Ensemble ist
weitgehend das bewährte. Neben Alexis Gruss und seiner Frau
Gipsy sind auch diesmal ihre Kinder nebst Partnern und eigenem
Nachwuchs dabei: Stephan und Nathalie Gruss mit ihren vier
Söhnen Alexandre, Charles, Louis und Joseph Gruss, Firmin Gruss
sowie Maud Florees mit Ehemann Tony. Ebenfalls bekannt: Tony
Florees’ Schwester Sarah sowie Francesco Fratellini, der bereits
sein fünftes Gruss-Jahr bestreitet. Neu sind hingegen – nach dem
Ballett im letzten Jahr – nun erstmals vier junge Circus- und
Sportschulabsolventen. Olga Midrouillet, Célia Milesi, Nicolas
Samsoën und Fabien Thévenot verstärken vor allem die
artistischen Truppennummern. Zehn Musiker rund um Orchesterchef
Sylvain Rolland sorgen für abwechslungsreiche, druckvolle Musik.
Sie nehmen auch in diesem Jahr auf einer erhöhten Plattform
Platz, unter der sich drehbar der Artisteneingang sowie eine
beidseitig bespielbare Leinwand befinden, auf die akzentuiert
Impressionen zu den Darbietungen projiziert werden. Wahlweise
wird so auch der Aktionsraum der Artisten nach hinten
vergrößert, was mehr Möglichkeiten (z.B. für längere Anläufe)
zulässt.
Stephan, Firmin,
Charles und Alexandre Gruss, Maud Florees, Ensemble
„Silvia“ erzählt in vier Akten
die Geschichte des Cirque National Alexis Gruss und vereint
dafür die größten Darbietungen der vergangenen 40 Jahre. Dennoch
geht es am Anfang zunächst leider etwas zu behäbig los: In der
Manege wärmen sich die Artisten in Trainingsanzügen im
Probenlicht auf, nach kurzer Dunkelheit kehren dann alle in
ihren bunten Kostümen zurück. Unter den Klängen einer Kapelle,
die Musik kommt von Mitgliedern der Familie Gruss, werden kurze
akrobatische Kostproben, u.a. auf dem Drahtseil, dargeboten.
Alexis Gruss mimt den sonoren Rekommandeur, der die
traditionelle Parade anführt. Maud Florees bringt dann das erste
Pferd in die Manege, auf dessen Rücken sie verschiedene
Panneau-Sprünge ausführt. Der Auftritt endet mit dem Sprung der
Ballerina durch den Papierreifen. Nach einer kurzen Reprise –
Tony Florees und Francesco Fratellini als verhinderte Hand-auf-Hand-Akrobaten, dennoch mit einigen starken Tricks – geht es mit
der Jockeyreiterei weiter. Hier stehen gleich zwei Generationen Gruss in der Manege: neben den Geschwistern Stephan, Firmin und
Maud auch Stephans Söhne Alexandre, Charles und Louis. Im
Polo-Outfit zeigen sie variantenreiche Sprünge – allerdings ohne
ganz große Leistungen wie einen Salto. Damit endet bereits der
erste Akt, der sich mit den Anfängen des Unternehmens um 1974
beschäftigt.
Alexis Gruss,
Ensemble
Der zweite Akt beinhaltet
daraufhin Darbietungen, die das Unternehmen nach seiner Erhebung
zum „Cirque National“ 1981 auch über Frankreich hinaus bekannt
machten. In diese Zeit fallen u.a. auch erste Gastspiele im
Münchner Krone-Bau. Daran erinnern soll nun ein größerer
Western-Block, in dem Gipsy Gruss einige Elemente der Hohen
Schule reitet. Fast die gesamte Familie Gruss ist zudem mit
Lasso- und Peitschenspielen zu sehen. Alexis Gruss etwa
erstickt via Peitsche eine Zigarette, die seine
Frau mit dem Mund hält. Auch Tony Florees und Francesco
Fratellini versuchen sich als komische Peitschenspieler, bei
denen es naturgemäß nicht so klappt, wie angedacht. Pünktlich
zur näher rückenden Pause zieht das Programm danach ordentlich
an. Erster Glanzpunkt ist die folgende Pferdedressur mit
Prinzipal Alexis Gruss, der zunächst sechs Araber zum Flechten
bringt. Beeindruckend, wie die Tiere auch ohne großes Zutun des
Tierlehrers hinter seinem Rücken die Figuren laufen. Mehrere
Steiger runden die Nummer ab. Nach einer weiteren Reprise –
Francesco Fratellini als Tennisspieler – kommt es zu einer
Neuauflage einer Nummer, die bereits Anfang der 1980er Jahre für
Furore gesorgt haben muss. Anders ist es zumindest kaum
vorstellbar, wenn man bedenkt, wie großartig auch die jetzt
Inszenierung ausfällt; zugegebenermaßen mit deutlich besseren
technischen Effekten. Die komplette Manege ist in Nebel
getaucht, auf der Leinwand ist die tobende See zu sehen. Auf
einmal erhebt sich die Leinwand, und im Scheinwerferlicht kommt
dem Zuschauer ein riesiges Schiff entgegen. Die „Santa Rita“
füllt die ganze Manege aus, beherbergt zudem Trampolin, Mast und
Reck für die akrobatischen Leistungen der Matrosen. Das sind in
diesem Fall jene erwähnten vier jungen Circus- und
Sportschulabsolventen sowie Firmin Gruss, Francesco Fratellini
und Tony Florees. Salti und Pirouetten werden hauptsächlich auf
dem Trampolin gezeigt, aber auch am Reck und am Mast
demonstrieren die Akteure ihre Ausbildung. Man hätte sich noch
mehr Tricks gewünscht, die die Turngeräte verbinden. Aber auch
so ist der Schauwert dieser Darbietung wohl einzigartig. In
Sachen Inszenierung kann hier keiner der Familie Gruss etwas
vormachen.
Firmin Gruss, Maud
Florees, Nathalie und Stephan Gruss
Nach der Pause, im stärkeren
und durchweg überzeugenden zweiten Programmteil, stellt der
dritte Akt zunächst die artistischen Fähigkeiten der Familie in
den Mittelpunkt. In bunten Harlekin-Kostümen wird auf
vielfältige Weise mit Hüten jongliert. Mit Ausnahme von Alexis Gruss und Maud Florees ist dabei das komplette Ensemble
vertreten. Letztere überquert nämlich anschließend u.a. mit dem
Einrad und im Spitzentanz die kombinierte, diagonal über der
Manege angebrachte Schräg-, Hoch- und Schlappseil-Konstruktion.
Ohne Frage, der artistische Höhepunkt des Programms. Wunderschön
anzusehen ist auch die ganz in Weiß gehaltene Kür an Tüchern von
Nathalie Gruss, die ihr Mann Stephan mit einem Trompetensolo in
der Manege begleitet. Als Parodie gibt es das Ganze auch noch
mal als „romantisches“ Pas de Deux von Tony Florees und
Francesco Fratellini. Beide agieren zusammen mit Louis und
Alexis Gruss auch in einem Entree, in dem jeder mit einer noch
schlimmeren Verletzung aufwartet, um doch auf keinen Fall seiner
Arbeit nachgehen zu müssen. Tierisch endet dann aber auch dieser
Akt mit der Präsentation der Elefantendame Syndha durch Firmin
Gruss. Der Dickhäuter balanciert u.a. über Baumstämme, zeigt den
Kopfstand und richtet sich auf.
Firmin Gruss,
Ensemble, Charles und Alexandre Gruss
Was dann
im vierten Akt noch folgt, würde man im Sport wohl eine
regelrechte Schlussoffensive nennen. „Die Wurzeln und die
Flügel“ ist dieser Akt, passend zu den eingangs erwähnten
Worten, überschrieben. Es ist die Krönung dieses Programms, und
zwar eine, die – zum Glück – ausgiebig zelebriert wird. Vier
akrobatisch-equestrische Darbietungen auf allerhöchstem Niveau,
die miteinander eine perfekte Klimax bilden. Was bleibt ist
Begeisterung. Los geht’s
gleich mit Alexandre und Charles Gruss als Jongleure auf dem
Pferderücken, natürlich in rasantem Tempo. Das ganze Ensemble,
in traumhaft edlen Kostümen im Metallic-Look, mischt
anschließend mit, als Batoude-Springer über bis zu fünf Pferde
hinweg.
Jene
Pferde dienen dann auch gleich als Basis für die
unterschiedlichsten Menschenpyramiden zu Ross. Allein die
durchdachte Umsetzung dieses Blockes wäre ein Lob wert, vielmehr
sind es aber auch die Leistungen der Akteure. Und, was macht man,
wenn es kaum noch besser geht? Genau, man setzt erst Recht noch
einen drauf – geradezu en passant, mit einer der besten
Circusnummern unserer Zeit.
Die
Ungarische Post der Familie Gruss ist einfach nicht zu
übertreffen. Unglaubliche
15
(!)
Voraus-Pferde preschen unter der Anleitung von Alexis Gruss in
einem Wahnsinnstempo durch die Manege und unter Maud Florees
hindurch. Sicher und elegant nimmt sie die Pferde auf. Keine
reitet die Post aktuell besser
als
sie. Viele Superlative wären wohl passend: sensationell,
atemberaubend, grandios… besser geht es nicht. Circus-Kunst in
Vollendung! |