Nur fast, weil es da dieses
Opening gibt. Aus dem Artisteneingang, in Nebel getaucht,
erscheint nämlich ein Engel mit überdimensionalen Flügeln. Von
hinten erstrahlen helle Scheinwerfer, erzeugen so eine
„religiöse Erscheinung“, und der Engel singt „Halleluja“. Die
Artisten, allesamt in der typischen Kleidung von
Zechenarbeitern, kommen derweil aus den ebenfalls in nebliges
Licht gehüllten Besuchereingängen und erhellen mit
Taschenlampenlicht das Zelt. Ordentlich Lokalkolorit und eine
wunderbare Reverenz an das Ruhrgebiet. Auf der hydraulischen
Mittelbühne steigt der Engel dann, zumindest ein Stückchen, gen
Himmel, während die Artistenschar gebannt zuschaut.
Anastasia Makeeva, Alain
Alegria, Jouravels
Aus dem Opening heraus besteigt
Alain Alegria sein Washington-Trapez. Seine waghalsigen Tricks,
so das Aufnehmen eines Tuches im Schwung oder die Balance mit
dem Stuhl, haben dafür eine neue Musikbegleitung bekommen. Der
Engel interpretiert Rammsteins „Engel“. Vielleicht noch
riskanter ist die Arbeit von Vicky und Pablo Garcia an ihrer
rotierenden Rakete. Vickys Zehenhang am von Pablo mit den Zähnen
gehaltenen Trapez und der abschließende Genickhangwirbel,
bedrohlich nahe an den Masten, sind ohne Frage außergewöhnlich.
Alain Alegria und die Garcias sind aber nur zwei von gleich
sieben Darbietungen, die in diesem Winter unter der Flic
Flac-Kuppel zu sehen sind und dem Programm ihren Namen geben.
Dazu gehört auch Anastasia Makeevas wild-elegante Kür an Tüchern
und die vierköpfige Truppe Jouravel, die sich nach der Pause mit
großartigen Flügen und synchronen Passagen am Reck produziert.
Suanbekovs
Typisch Flic Flac, das gilt auch
für das Todesrad. Darin und darauf drehen heuer Makhudbek und
Nursultan Suanbekov ihre Runden. Die beiden Brüder beherrschen
dabei diverse weite Sprünge auf dem Außenrad. Zusammen mit
Partnerin Sayrakan Suanbekova brillieren sie als Trio auch auf
dem Hochseil. Der Spagat der Artistin zwischen den Köpfen der
männlichen Akteure, Sprünge mit Seil und Reifen und das
Zwei-Personen-Hoch, zunächst während die Oberfrau auf Spitzen
auf dem Kopf des Partners steht, dann bei schwingendem Seil,
bilden das Repertoire. Anschließend wird das Hochseil zum
steilen Schrägseil umfunktioniert und ebenfalls im
Zwei-Personen-Hoch begangen. Das effektvolle
Rückwärts-Zurück-Rutschen beschließt diesen Auftritt, der beim
Festival in Moskau zu Recht gewonnen hat. Schlussnummer sind
aber auch in diesem Jahr die sensationellen Motorrad-Flüge durch
das Rundzelt. Aufgrund der gewaltigen Nachfrage nehmen die vier
Jump Styler auch in diesem Jahr im Dortmunder Vorzelt Anlauf,
springen mittels einer Rampe im zentralen Besuchereingang durch
das Zelt, zeigen dort abenteuerliche Stunts und landen sicher im
Artistenbereich. Anstatt der Motorradkugel überspringen sie
heuer das abgebaute Todesrad. Selbst beim zweiten Sehen
schlichtweg phänomenal!
Giorgio, Steve
Rawlings, SerBat Troupe
Aber auch auf dem Bühnenboden hat
Flic Flac wieder starke Leistungen zu bieten. Da wäre zum
Beispiel Diabolo-Wirbelwind Georgio Hromadko, der nicht nur
seine vier Diabolos, sondern mit seinem mitreißenden Verkauf
auch das Publikum fest im Griff hat. Gewollt introvertierter,
ganz cool eben, leider aber manchmal auch außerhalb des
Lichtkegels, zeigen sich die Iroshnikovs mit ihrer
leistungsstarken Hand auf Hand-Darbietung. Sprünge und Würfe
werden mit den Hand- und Kopfständen auf interessante Weise
verbunden oder gehen direkt ineinander über. Nicht mithalten
können da, vor allem auch aufgrund des fehlenden Verkaufs,
Kunstschütze Ben Blaque und die fünfköpfige SerBat Troupe.
Letztere übersteigt im bis zu Drei-Personen-Hoch eine Leiter.
Besser zu überzeugen weiß Elena Shapoval mit ihrem trotz
kräftezehrender Posen lasziven Tanz an der Pole-Stange ebenso
wie Daniel Golla, der mit seinen Modellflugzeugen samt eher
karnevalesker anstatt Flic Flac-artiger Musik für gute Laune
sorgt.
Elena Shapoval
Für die
gute Laune ist zudem Steve Rawlings engagiert,
und ihm gelingt diese Aufgabe außerordentlich gut. Seine vier
Auftritte, meist eine Mischung aus verbaler und physischer
Komik, sind über die ganze Show verteilt. Zunächst versucht er
sich als Jongleur mit Möbeln, Porzellan und Feuerkeulen, bis er
schließlich selbst in Flammen steht. Später jongliert er gekonnt
drei Ping-Pong-Bälle mit dem Mund, balanciert dann mehrere
Golfschläger übereinander und animiert das Publikum zu stehenden
Ovationen,
nachdem der Tischtuchtrick eines Gastes gelingt. Gewürzt mit
sprachlichen Gags sind Rawlings Intermezzi wirkliche
Volltreffer. Daneben gibt es bei Flic Flac in diesem Jahr in
Dortmund auch wieder Live-Musik, zumindest bei ausgewählten
Darbietungen. Heuer setzt die dreiköpfige Formation „Glamour
Gems“ musikalische Duftmarken. Und was für welche! Vor allem mit
Sängerin Jean Pearl wurde eine grandiose Stimme gefunden, die
als oben angesprochener Engel ebenso überzeugt wie mit Popmusik,
die etwa zur SerBat Troupe oder
bei
Elena Shapoval erklingt. Aber auch Sänger Mark Deviz, der
zusammen mit DJane Elle das Trio komplettiert, beherrscht ein
breites Spektrum
–
von Rammstein über The Police bis zum „Steigerlied“. Jenes
Volkslied dient zur Untermalung des Aufbaus beim Todesrad,
und die Artisten erscheinen wieder als Zechenarbeiter. Hier wird
nochmals eine Idee des Openings aufgegriffen, während die andere
– das Erscheinen des Engels – im Finale ihre Fortsetzung findet.
Der Engel singt ein letztes Mal, die Artisten betreten durch die
Besuchereingänge das Zelt und nehmen in gewohnter Weise am
Bühnenrand Aufstellung – das Publikum hält es danach auch nicht
mehr auf Sitzen. Standing Ovations,
ganz so wie man es von diesem Unternehmen kennt. Flic Flac wie
aus dem Lehrbuch eben. |