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Salto Natale - Wunschwelt 2010
www.saltonatale.ch

Kloten, 30. Dezember 2010: In eine „Wunschwelt“, so lautet der Programmtitel, wollten Rolf und Gregory Knie das Publikum in der nunmehr 8. Produktion von „Salto Natale“ entführen. Und das ist vollauf gelungen. Der „Circus der anderen Art“, so die Selbstbeschreibung, spielte von Mitte November bis Anfang Januar wieder am Flughafen Zürich, von der viel befahrenen Autobahn aus bestens zu sehen. Eine ganze Zeltlandschaft war hier aufgebaut, mit Haupt-, Vor- und Dinnerzelt. Aus dem edel ausgestatten Foyer führt der Weg ins Chapiteau, in dem es anstelle einer Manege eine erhöhte Rundbühne gibt.

Sie wird von drei Logenreihen und einem Gradin mit verschiedenenfarbigen Schalensitzen umschlossen. Ganz ehrlich: Ein wenig hatte ich ein überinszeniertes Spektakel ohne viel artistischen Inhalt erwartet. Doch die Erwartungen wurden in positiver Weise übertroffen. Die „Wunschwelt“ bietet viel mehr eine dichte Abfolge artistischer und komischer Nummern, ist in seiner Machart eben doch ein Circusprogramm, freilich eines ohne Tierdressuren. Letztere überlassen Rolf und Gregory Knie vernünftigerweise dem Nationalcircus, dem Rolf Knie auch als Mitglied des Verwaltungsrates verbunden ist. Während der traditionsreiche Zürcher Weihnachtscircus Conelli mit Bigband und Showballett im Stil der großen Revue auf Glamour zeitlos-klassischer Prägung setzt, hat „Salto Natale“ einen eher moderneren, trendigeren „Look“, zum Beispiel was die äußerst farbenfrohe Kostümierung des siebenköpfigen Balletts (fünf Damen, zwei Herren) betrifft. Die hervorragende, rockig aufspielende, zehnköpfige Liveband mit Sängerin agiert hier direkt auf der Bühne, im Hintergrund des Geschehens. Ballett, Band und Sängerin kommen gleich im Opening zum Einsatz. Zu Baustellenlärm irren hektische Gestalten in grauen Anzügen über die Bühne, bis sie aus diesen befreit werden und ihre bunten, fantasievollen Kostüme zeigen. Hinein in die unbeschwerte Wunschwelt!


Alex Traisci, Dustin Nicolodi, Baldrian

Thomas Leuenberger, eine Hälfte des Schweizer Comedyduos „Flügzüg“ (Circus Knie 2000), ist unter dem neuen Künstlernamen „Baldrian“ der rote Faden im Programm. Als Ziel gibt er aus, das Publikum in hektischer, schnelllebiger Zeit einer „Entschleunigungstherapie“ unterziehen zu wollen: „Wer langsamer lebt, ist später tot“, sagt er im ersten seiner mit aller Seelenruhe zelebrierten Auftritte im grünen Hemd und mit ebenso gefärbten Augenbrauen. Schließlich ist grün die Farbe der Entspannung. Baldrian lässt im Circuszelt Drachen steigen, später dirigiert er mittels Fernsteuerung das wundersame Wesen „Gisela“ aus miteinander verknüpften, gasgefüllten, silbernen Ballons mit Propellerantrieb, das sachte durch die Zeltkuppel fliegt. Mit angesteckten Flügeln müssen nach der Pause vier Mitspieler aus dem Publikum einen Flugunterricht der besonderen Art absolvieren, und schließlich jongliert er stangenförmige Ballons in Zeitlupe. In der Tat stellt sich bei Leuenbergers Auftritten, außer viel Gelächter, auch eine wohlige Entspannung ein – die Entschleunigung funktioniert. Hugo Noel aus der Truppe Catwall Acrobats, die später die Schlussnummer bestreitet, bietet am Cyr-Rad zum Programmbeginn eine der stärksten Nummern des in Mode gekommenen Genres. Es handelt sich um jenen Verwandten des Rhönrads, der nur aus einem einzigen Reifen besteht. Immer wieder beeindruckend ist die hohe Präzision, mit der das Duo Polinde – Goldmedaillengewinner beim European Youth Circus 2008 in Wiesbaden – am Fangstuhl arbeitet. Die gesamte Nummer, inklusive der Salti in den Flugpassagen, wird von Pauline Hachette und Linde Hartmann ohne Longengesicherung, dafür mit Matte, gearbeitet. Teil ihrer Darbietung ist auch weiterhin das mit feinem Humor zelebrierte Rieseln des Talkumpuders. Alex Traisci war bekannt als männliche Hälfte des Diabolo-Duos „Double Face“, bis er vor einiger Zeit erstmals eine Solodarbietung als Reifenjongleur präsentiert (z.B. Krone-Februarprogramm 2010). Auch mit den Reifen präsentiert er bei Salto Natale ein „Double Face“, denn sein Kostüm zeigt hier die rechte Körperhälfte als bunten Harlekin und die rechte im schwarzen Anzug, vom Ballett in ebensolchen Kostümen umtanzt. Traisci jongliert mit den Reifen in der Luft oder lässt sie auf dem Bühnenboden rollen. Von dort kommen sie wie Bumerangs zu ihm zurück, kreisen fünf Reifen gegenläufig und parken schließlich alle Reifen, nachdem sie ein Holzgestell umrundet haben, in dem vorne offenen Gestell ein. Ebenso das Genre gewechselt hat Dustin Nicolodi, Sohn von Bauchredner Willer Nicolodi, den man zum Beispiel im Knie-Programm 2007 mit einer Handstand-Equilibristik als Matrose erleben konnte. Nun tritt er als Comedy-Jongleur im Stile eines Jahrmarktkünstlers „anno dazumal“ auf, der zum Beispiel mit Samurai-Messern und Äpfeln jongliert – diese gleichzeitig verspeisend. Gewisse Ähnlichkeiten mit den Nummern Steve Elekys sind wohl nicht zu leugnen, vielleicht haben beide Künstler auch nur die gleichen britischen Humoristen als Vorbilder.


Catwall Acrobats, Blue Sky Girls, The Beautiful Jewels

Schlicht einer der besten Diabolokünstler unserer Zeit ist Tony Frébourg, der im asiatisch inspirierten Outfit ausdauernd bis zu vier Diabolos in der Luft hält. Vor der Pause haben dann die „Blue Sky Girls“ ihren Auftritt, jene neun mongolischen Kontorsionistinnen, die erst 2010 in Monte Carlo Bronze-prämiert wurden. Eingeleitet von einer kurzen Liebesszene eines Paars in einem Bett, untermalt der erotische Chanson „Emmanuelle“ den Auftritt der neun Artistinnen. Zunächst arbeiten sie parallel verschiedene Tricks, dann formieren sie sich zu einem Kranz der Körper im neunfachen Mundstand um eine runde Plattform. Damit endet der erste Programmteil, der in der Gesamtschau wohl der stärkere und dichtere ist. Programmteil zwei beginnt ebenso mit einem musikalischen Opening mit Gesang, Ballett und anschließend Baldrians Flugstunde. Geheimnisvoll wie ihr Künstlername ist der gesamte Auftritt der 32-jährigen Schwertschluckerin „The Beautiful Jewels“. Der transparente, leichte, weit geöffnete Mantel, den sie über ihren Dessous trägt, lässt keinen Zweifel daran, dass die 55 Zentimeter lange, dreieinhalb Zentimeter breite Stahlklinge ihres Schwerts nirgends anders verschwindet als in ihrer Speiseröhre – bis ein Herr aus dem Publikum es wieder aus ihrem Rachen zieht. Man mag kaum zusehen bei dieser faszinierend-verstörenden Schau. Eher kurz fällt der Auftritt der Ukrainer Zlata Moroz und Oleg Boiko alias „Duo Wind“ mit ihrer Partnerakrobatik aus. Umso spektakulärer dagegen die Schlussnummer: Die sechsköpfige Truppe Catwall Acrobats, fünf Herren und eine Dame, kombiniert zwei Trampoline mit einem knapp fünf Meter hohen, eineinhalb Meter breiten Plexiglasturm mit verschiedenen „Fensteröffnungen“ in der „ersten Etage“. Vom Trampolin gehen die Sprünge der Akrobaten durch diese „Fenster“ auf das gegenüber liegende Trampolin oder auf das Turmdach, sie laufen die Wände hoch, springen einzeln und synchron. Die temporeiche, originelle und leistungsstarke Arbeit ist ein wirklicher idealer Abschluss des Programms.

Im ausgiebig zelebrierten Finale lassen Rolf und Gregory Knie es sich auch in der besuchten Nachmittagsvorstellung nicht nehmen, ihr Publikum persönlich zu verabschieden – lang anhaltender Applaus des Publikums, das in dieser „Wunschwelt“ mit „Baldrian“ entschleunigt und mit Glück übergossen worden ist.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber