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Weltweihnachtscircus Stuttgart 2007
www.weltweihnachtscircus.com

Stuttgart, 5. Januar 2008: Ja, es stimmt: Bis vor zwei Jahren war ich ein glühender Anhänger des Weltweihnachtscircus Stuttgart. Und ja, es stimmt: Die Zuschauer rennen Stardust-Circus fast die Tür ein, so begehrt sind die Karten. Wieder wurden 120.000 Besucher in den 54 Vorstellungen gezählt, wieder hatte man Standing Ovations abonniert. Und zweifellos: So viele artistische Höchstleistungen gibt’s wohl in keinem anderen Circusprogramm zu sehen. Und dennoch: Richtig begeistert hat mich die Show, wie im Vorjahr, wieder nicht. Ich will begründen warum. 

Der Kern des Problems ist meines Erachtens die Auswahl der Darbietungen: Es scheint nur noch darum zu gehen, Nummern zusammenzukaufen, die entweder gerade einen wichtigen Preis gewonnen haben oder mit einem neuen Rekord der Kategorie „schneller, höher, weiter“ aufwarten können. Ob bei den sportlichen Leistungen dann auch der circensische „Verkauf“ stimmt, scheint ebenso zweitrangig wie die Frage nach Ausstrahlung und Persönlichkeit der Artisten. Auch eine vernünftige Balance der drei Säulen Artistik, Clownerie und Tierdressur ist in der Weltweihnachsturngala nicht gefragt. Und so entsteht ein Programm der sportlichen Superlative, in dem eins nicht zum anderen passt und manches einfach fürchterlich präsentiert wird. Um es mit den Worten Gerd Siemoneits zu sagen: „Es ist eine Leistungsschau einzelner Artisten und kein in sich schlüssiges Zirkusprogramm im eigentlichen Sinn (…)“.


Domshin, Ruslan Sadoev, chinesische Lassonummer

Nennen wir die Ausreißer beim Namen: Das Programm startet mit chinesischen Reifenspringern, die – wir sind ja bei Stardust – locker olympische Hochsprung-Rekorde übertreffen. In jeder Vorstellung. Aber: Dazu tragen die Jungs Alltagskleidung und wird stampfende Techno-Musik vom Band gespielt. Laut Programmheft wird hier die „West Side Story“ nachempfunden. Aha. Oder: Ruslan Sadoev als Jongleur und Akrobat zu Pferd. Die Leistung stimmt, auch wenn die Nummer viel zu lang ist – aber: Soll dieses Fetzen-Outfit aus der russischen Steppe komisch wirken, oder ist das etwa ernst gemeint? Auch der Reiz der chinesischen Lasso-Nummer vor der Pause, bei der die Akteure mönch-mäßig gestylt durch sich drehende Lassos Salti schlagen, blieb uns verborgen. Der wahre Tiefpunkt aber eröffnet den zweiten Programmteil: Mimisch regungslos wie Puppen lassen sich die „Domshin“ per russischer Schaukel durch die Luft katapultieren, in Lacklederoutfits gekleidet. Nein, so etwas ist eben nicht modern – was modern sein will, muss auch das Lebensgefühl heutiger Menschen treffen. Und das wird mit dieser Militärparade hoffentlich nicht gelingen.


Angelo Munoz und Enrico Caroli, Alain Alegria, Kim Kenneth

Modern im besten Sinne, das sind doch eher die „White Crow“ mit ihrer Stangenwurfnummer: die Leistung stimmt, die Choreographie ist bis ins letzte Detail perfekt ausgefeilt, und doch wird hier echte Lebensfreude vermittelt. So geht Weltklasse! Ähnliches gilt für die Darbietungen von Géraldine Katharina Knie mit ihrer Pferde-Zebra-Freiheit und der temperamentvollen hohen Schule aus dem Knie-Saisonprogramm. So ist der Weltweihnachtscircus immer dann am besten, wenn er klassischen Circus zeigt. Dazu zählen wir Alain Alegria am Washingtontrapez. Auf dem schwingenden Trapez kniend, greift er – ohne Longe, in großer Höhe – ein Taschentuch mit den Zähnen von der Trapezstange. Aber: Die Sensationsnummer geht leider, als zweite Darbietung im Programm unglücklich platziert, etwas unter. Auch Illusionist Kim Kenneth hat es schwer im Riesenzelt.


Victor Kee

Ein Highlight ist auch die Schalenpagode auf hohen Einrädern – die einzige der drei Chinesen-Nummern im Programm, die traditionell arbeitet. In sehr schönen Kostümen und mit Ausstrahlung wirbeln die fünf Mädchen Schalen mit den Füßen in die Luft und fangen sie mit dem Kopf wieder auf – wobei eine Artistin zum Beispiel über Kopf Schalen auf die Köpfe der hinter ihr vorbeiradelnden Kolleginnen platziert. Wahnsinn! Nur: Die Bandmusik ist so schrill, dass es in den Ohren wehtut. Schade: Wer ein so fabelhaftes Zwölf-Mann-Orchester bezahlt wie Stardust, der müsste es eigentlich auch spielen lassen. Und nicht nur zwischen den Nummern… Den größten Applaus in der Show bekommen auch in Stuttgart die Kourbanovs mit ihrer Ikarier-Nummer auf Motorrädern. Vor dem Finale sind die kunstvollen Jonglagen von Viktor Kee platziert – leider von der Tribüne aus schlecht zu sehen, da er einige Tricks auf dem Boden sitzend und liegend arbeitet, ohne Podest – und als Schlussnummer dann ein neues, gewaltiges Flugtrapez aus Nordkorea. In der besuchten Vorstellung klappte alles beim ersten Anlauf, bis hin zum vierfachen Salto – das war aber wohl eher die Ausnahme.

 Der wahre Höhepunkt des Programms war – für mein Empfinden – aber der Auftritt eines alten Mannes, der gar nichts Spektakuläres tat. Nur „Bonbons kochen“ – in einem Hut. Herrlich, das Bonbonentree mit dem großen Angelo Munoz… So schön kann Circus sein. Wenn er sich nicht mit einem Militäraufmarsch à la „Domshin“ verwechselt.

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Text: Markus Moll, Fotos: Tobias Erber