Der Kern des
Problems ist meines Erachtens die Auswahl der Darbietungen: Es
scheint nur noch darum zu gehen, Nummern zusammenzukaufen, die
entweder gerade einen wichtigen Preis gewonnen haben oder mit
einem neuen Rekord der Kategorie „schneller, höher, weiter“
aufwarten können. Ob bei den sportlichen Leistungen dann auch
der circensische „Verkauf“ stimmt, scheint ebenso zweitrangig
wie die Frage nach Ausstrahlung und Persönlichkeit der Artisten.
Auch eine vernünftige Balance der drei Säulen Artistik,
Clownerie und Tierdressur ist in der Weltweihnachsturngala nicht
gefragt. Und so entsteht ein Programm der sportlichen
Superlative, in dem eins nicht zum anderen passt und manches
einfach fürchterlich präsentiert wird. Um es mit den Worten Gerd
Siemoneits zu sagen: „Es ist eine Leistungsschau einzelner
Artisten und kein in sich schlüssiges Zirkusprogramm im
eigentlichen Sinn (…)“.
Domshin, Ruslan Sadoev,
chinesische Lassonummer
Nennen wir die
Ausreißer beim Namen: Das Programm startet mit chinesischen
Reifenspringern, die – wir sind ja bei Stardust – locker
olympische Hochsprung-Rekorde übertreffen. In jeder Vorstellung.
Aber: Dazu tragen die Jungs Alltagskleidung und wird stampfende
Techno-Musik vom Band gespielt. Laut Programmheft wird hier die
„West Side Story“ nachempfunden. Aha. Oder: Ruslan Sadoev als
Jongleur und Akrobat zu Pferd. Die Leistung stimmt, auch wenn
die Nummer viel zu lang ist – aber: Soll dieses Fetzen-Outfit
aus der russischen Steppe komisch wirken, oder ist das etwa
ernst gemeint? Auch der Reiz der chinesischen Lasso-Nummer vor
der Pause, bei der die Akteure mönch-mäßig gestylt durch sich
drehende Lassos Salti schlagen, blieb uns verborgen. Der wahre
Tiefpunkt aber eröffnet den zweiten Programmteil: Mimisch
regungslos wie Puppen lassen sich die „Domshin“ per russischer
Schaukel durch die Luft katapultieren, in Lacklederoutfits
gekleidet. Nein, so etwas ist eben nicht modern – was modern
sein will, muss auch das Lebensgefühl heutiger Menschen treffen.
Und das wird mit dieser Militärparade hoffentlich nicht
gelingen.
Angelo Munoz und
Enrico Caroli, Alain Alegria, Kim Kenneth
Modern im besten
Sinne, das sind doch eher die „White Crow“ mit ihrer
Stangenwurfnummer: die Leistung stimmt, die Choreographie ist
bis ins letzte Detail perfekt ausgefeilt, und doch wird hier
echte Lebensfreude vermittelt. So geht Weltklasse! Ähnliches
gilt für die Darbietungen von Géraldine Katharina Knie mit ihrer
Pferde-Zebra-Freiheit und der temperamentvollen hohen Schule aus
dem Knie-Saisonprogramm. So ist der Weltweihnachtscircus immer
dann am besten, wenn er klassischen Circus zeigt.
Dazu zählen wir Alain Alegria am Washingtontrapez. Auf dem
schwingenden Trapez kniend, greift er – ohne Longe, in großer
Höhe – ein Taschentuch mit den Zähnen von der Trapezstange.
Aber: Die Sensationsnummer geht leider, als zweite Darbietung im
Programm unglücklich platziert, etwas unter. Auch Illusionist
Kim Kenneth hat es schwer im Riesenzelt.
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