Thula
Moon eröffnet die Vorstellung mit ihren dynamischen Kontorsionen zu
sinnlich-aufpeitschender Musik. Die Frau im hellen Kleid, mit braunen
Locken und einem grobmaschigen Netz über dem Gesicht befreit sich
dabei zunächst aus den Fesseln schwarzer Bänder.
  
Thula Moon, Andriy
Ruzhylo, Merlin Johnson
Mit
Sicherheit eine der ganz starken Persönlichkeiten in „Verve“ ist Merlin
Johnson, der einmal mehr Zeremonienmeister einer Friedrichsbau-Show ist.
Er ruft in seiner Vorrede zum weiteren Geschehen dazu auf, die eigene
Persönlichkeit zum Klingen zu bringen – und macht deutlich, dass es die
Geschichten der Nicht-Konformisten sind, die uns interessieren,
beginnend bei Pippi Langstrumpf. Mit Sicherheit kein Konformist ist
Brian Scott Bagley. „I touch you with love, you sexy thing“ singt er
voller Inbrunst, an einen Gast im Publikum gerichtet. Bagley, der
Franzose mit dem properen Körper, den femininen Outfits und der extrem selbstbewussten Präsenz ist eine Wucht. Einen markanten
Typ wird man auch Andriy Ruzhylo mit seinen tätowierten Armen nennen
dürfen. Er beherrscht
eine Drehung im Kopfstand und zeigt bei seinen Rola-Rola-Balancen einen
Trick, den wir so noch nicht gesehen haben. Dabei steht er mit dem
linken und mit dem rechten Fuß auf zwei unterschiedlichen Rollen, und
unterhalb dieser Ebene befindet sich nochmals ein variables Element.
Höhepunkt seiner Arbeit ist die Balance auf einem Turm aus fünf
abwechselnd stehenden und liegenden Rollen. Zurück auf der
Friedrichsbau-Bühne ist der Comedy-Magier Skizzo Davide Nicolosi. Und
wie! Seine maximale Präsenz und Offensivität sind nach wie vor
umwerfend, die lange Lockenmähne macht ihn unverkennbar. Im ersten
Auftritt wechseln Bälle ihre Plätze, schwebt ein Zauberstab in einer
Flasche, wird in irrem Tempo ein Büstenhalter aus dem Hemd eines
männlichen Gastes hervorgezaubert und bleibt zwischen allem Schabernack
auch noch Zeit für einen Moonwalk. Auf Skizzos italienischen
Anarcho-Charme folgt ein Ausflug ins Bayerische, wenn Merlin Johnson –
zunächst noch in Lederhose und roter Weste gekleidet – einen
Striptease hinlegt, bei dem unter den Trachten ein Lederharnisch
hervorkommt. „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön
ist?“, liefert die musikalische Begleitung. Vor allem ist Johnson immer
auch ein Sprach- und Wortkünstler, der mit philosophisch-spitzen Texten
Atmosphäre schafft und zum Nachdenken anregt. Hier geht es unter anderem
um die Suche nach der einen Person, die uns auf Händen trägt.
  
Lisa Chudalla, Brian Scott Bagley
und Merlin Johnson, Placido und Maria
Diese
bereits gefunden haben offenbar Placido und Maria, denn die Spanier
verbinden modernen Tanz mit Hand-auf-Hand-Akrobatik. Edel und
zeitgenössisch-künstlerisch wirkt die Darbietung in schlichten schwarzen
Outfits. Dass Liebe in Maßen genossen werden muss und zu viel davon
gefährlich werden kann, verrät uns Merlin Johnson – und interpretiert in
einem intensiven Gesangsduett mit Brian Scott Bagley die „White Roses“.
Ihre Runden im Cyrrad dreht Lisa Chudalla, unter anderem in einer Art
Spagatstand. Dabei fliegt effektvoll ihr aus Seilen bestehendes Kleid. Mit ihrem großflächig tätowierten Körper ist sie eine
außergewöhnliche Erscheinung.
  
Vivian Spiral, Skizzo
Davide Nicolosi, Brian Scott Bagley
Vivian
Spiral lässt LED-Leuchtstäbe kreisen und kreiert Bilder aus Licht auf
der abgedunkelten Bühne. So erscheinen beispielsweise Schmetterlinge.
Herrlich überdreht geriert sich Davide Skizzo Nicolosi als Boxchampion.
Dabei gelingt es ihm, dass ein gelbes Tuch von der einen zur anderen
Hand wandern kann, obwohl doch beide Hände in transparenten Hüllen
stecken. Zur Belohnung bekommt der Champion einen Pokal. Von Auftritt zu
Auftritt gewagter werden die Outfits von Brian Scott Bagley. „Rock me
Baby“ performt er ganz in Silber – von den Highheels über den
Lendenschurz mit Perlenbesatz bis zur Kette und dem Schulterschmuck.
  
Jerry Tremblay, Andriy
Ruzhylo, Skizzo Davide Nicolosi
Noch so
ein Wahnsinnstyp in dieser Show ist Jerry Tremblay. Er ist stolz auf
sein prolliges Streetwear-Outfit, zeigt selbstbewusst das gestochene
Kunstwerk auf seiner Brust – den Schriftzug „Tattoo“ – und gibt auf dem Fahrrad bei jeder Runde
über die Bühne mächtig an, beispielsweise wenn
er in der Handstandwaage oder schlicht aufrecht auf Sattel und Lenker
steht. Er bekommt nicht nur Riesenapplaus vom Publikum, er lässt die
Gäste auch noch singen – „I was made for loving you“. Merlin Johnson
indes bekennt sich bei Gesang und Gitarre dazu, dass er sich bei seinem
6. Engagement im Friedrichsbau allmählich an die Gegend und ihre
Eigenheiten gewöhne, beispielsweise an den Dauerstau auf der B 27.
Schließlich sei Stuttgart die Stadt, „die so viel mehr zu bieten hat als
Heilbronn“. Bei Brian Scott Bagley ist der Gipfel des Sündigen erreicht,
wenn er den Tanz im Bananenröckchen neu aufleben lässt, mit dem vor 100
Jahren die legendäre Josephine Baker im historischen Stuttgarter
Friedrichsbau auftrat. Weit seriöser als diese Hommage sind natürlich
die Jonglagen von Andriy Ruzhylo. Zunächst balanciert er eine lange
Stange auf der Stirn und platziert zielgenau an den Haken an deren Ende
zwei Ringe und einen Zylinder. Daran schließen sich Jonglagen mit vier
Keulen am Boden und mit fünf Ringen auf der freistehenden Leiter an. Bei
seinen nächsten Zaubereien kreiert Skizzo die „italienischen Momente“ im
Leben. Unter anderem entnimmt er einer winzigen Kanne zehn Tassen
Espresso. Um zu demonstrieren, dass er wirklich nirgendwo etwas
verborgen hält, entledigt er sich seiner Kleidung bis auf die
farbenfrohe Unterhose.
  
Vivian Spiral, Lisa Chudalla,
Thula Moon
In ihrer Hula-Hoop-Performance lässt Vivian Spiral nicht nur fünf Reifen
kreisen, sondern formt diese letztlich auch zu einer Kugelfigur, die sie
in der Hand hält, während sie über die Bühne tanzt. Merlin Johnson gibt
einem Zuschauer in einem poetischen Verwirrspiel die Chance, 60 Euro zu
gewinnen und lässt ihn freilich scheitern. Burleske Stimmung wird noch
einmal geschaffen, wenn Lisa Chudalla im Latexkleid und mit goldenen
Ringen um den Hals lange Schwerter schluckt, als wäre dies ein leichtes.
Nachdem Thula Moon das Programm mit ihren Kontorsionen eröffnet hat,
darf sie es am Luftring auch wieder beschließen, dargeboten in einem
transparenten Netzoutfit. Bis hin zu Rückwärts-Überschlägen und einem
Kreisel im Flitterregen. „Leben wir frei, voller Verve, Schwung und
Leidenschaft“, lautet Merlin Johnsons Schlussappell – im Epilog zum
Finale bringt er auch wieder einmal sein unerhört sündiges Lied zu
Gehör, wonach man ihn bitte nicht allein zu Hause lassen soll. |