CHPITEAU.DE

Friedrichsbau-Varieté - "Verve"
www.friedrichsbau.de - 130 Showfotos

Stuttgart, 12. März 2023: Mit mehreren starken, unverwechselbaren Charakteren punktet die neue Show „Verve – Show me the Energy!“ im Friedrichsbau-Varieté Stuttgart. „Sei eine Stimme, kein Echo!“ lautet denn auch die Aufforderung, die als Schrift auf den großen, edlen Rahmen projiziert wird, der über der Spielfläche schwebt und das prägende Element des Bühnenbildes ergibt. Weitere Botschaften aus Licht kommen hinzu. Schnell wird deutlich, dass Regisseur Ralph Sun mit seinem kreativen Team eine eindrucksvolle Produktion für das Frühjahr geschaffen hat.

Thula Moon eröffnet die Vorstellung mit ihren dynamischen Kontorsionen zu sinnlich-aufpeitschender Musik. Die Frau im hellen Kleid, mit braunen Locken und einem grobmaschigen Netz über dem Gesicht befreit sich dabei zunächst aus den Fesseln schwarzer Bänder.


Thula Moon, Andriy Ruzhylo, Merlin Johnson

Mit Sicherheit eine der ganz starken Persönlichkeiten in „Verve“ ist Merlin Johnson, der einmal mehr Zeremonienmeister einer Friedrichsbau-Show ist. Er ruft in seiner Vorrede zum weiteren Geschehen dazu auf, die eigene Persönlichkeit zum Klingen zu bringen – und macht deutlich, dass es die Geschichten der Nicht-Konformisten sind, die uns interessieren, beginnend bei Pippi Langstrumpf. Mit Sicherheit kein Konformist ist Brian Scott Bagley. „I touch you with love, you sexy thing“ singt er voller Inbrunst, an einen Gast im Publikum gerichtet. Bagley, der Franzose mit dem properen Körper, den femininen Outfits und der extrem selbstbewussten Präsenz ist eine Wucht. Einen markanten Typ wird man auch Andriy Ruzhylo mit seinen tätowierten Armen nennen dürfen. Er beherrscht eine Drehung im Kopfstand und zeigt bei seinen Rola-Rola-Balancen einen Trick, den wir so noch nicht gesehen haben. Dabei steht er mit dem linken und mit dem rechten Fuß auf zwei unterschiedlichen Rollen, und unterhalb dieser Ebene befindet sich nochmals ein variables Element. Höhepunkt seiner Arbeit ist die Balance auf einem Turm aus fünf abwechselnd stehenden und liegenden Rollen. Zurück auf der Friedrichsbau-Bühne ist der Comedy-Magier Skizzo Davide Nicolosi. Und wie! Seine maximale Präsenz und Offensivität sind nach wie vor umwerfend, die lange Lockenmähne macht ihn unverkennbar. Im ersten Auftritt wechseln Bälle ihre Plätze, schwebt ein Zauberstab in einer Flasche, wird in irrem Tempo ein Büstenhalter aus dem Hemd eines männlichen Gastes hervorgezaubert und bleibt zwischen allem Schabernack auch noch Zeit für einen Moonwalk. Auf Skizzos italienischen Anarcho-Charme folgt ein Ausflug ins Bayerische, wenn Merlin Johnson – zunächst noch in Lederhose und roter Weste gekleidet – einen Striptease hinlegt, bei dem unter den Trachten ein Lederharnisch hervorkommt. „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“, liefert die musikalische Begleitung. Vor allem ist Johnson immer auch ein Sprach- und Wortkünstler, der mit philosophisch-spitzen Texten Atmosphäre schafft und zum Nachdenken anregt. Hier geht es unter anderem um die Suche nach der einen Person, die uns auf Händen trägt.


Lisa Chudalla, Brian Scott Bagley und Merlin Johnson, Placido und Maria

Diese bereits gefunden haben offenbar Placido und Maria, denn die Spanier verbinden modernen Tanz mit Hand-auf-Hand-Akrobatik. Edel und zeitgenössisch-künstlerisch wirkt die Darbietung in schlichten schwarzen Outfits. Dass Liebe in Maßen genossen werden muss und zu viel davon gefährlich werden kann, verrät uns Merlin Johnson – und interpretiert in einem intensiven Gesangsduett mit Brian Scott Bagley die „White Roses“. Ihre Runden im Cyrrad dreht Lisa Chudalla, unter anderem in einer Art Spagatstand. Dabei fliegt effektvoll ihr aus Seilen bestehendes Kleid. Mit ihrem großflächig tätowierten Körper ist sie eine außergewöhnliche Erscheinung.


Vivian Spiral, Skizzo Davide Nicolosi, Brian Scott Bagley

Vivian Spiral lässt LED-Leuchtstäbe kreisen und kreiert Bilder aus Licht auf der abgedunkelten Bühne. So erscheinen beispielsweise Schmetterlinge. Herrlich überdreht geriert sich Davide Skizzo Nicolosi als Boxchampion. Dabei gelingt es ihm, dass ein gelbes Tuch von der einen zur anderen Hand wandern kann, obwohl doch beide Hände in transparenten Hüllen stecken. Zur Belohnung bekommt der Champion einen Pokal. Von Auftritt zu Auftritt gewagter werden die Outfits von Brian Scott Bagley. „Rock me Baby“ performt er ganz in Silber – von den Highheels über den Lendenschurz mit Perlenbesatz bis zur Kette und dem Schulterschmuck.


Jerry Tremblay, Andriy Ruzhylo, Skizzo Davide Nicolosi

Noch so ein Wahnsinnstyp in dieser Show ist Jerry Tremblay. Er ist stolz auf sein prolliges Streetwear-Outfit, zeigt selbstbewusst das gestochene Kunstwerk auf seiner Brust – den Schriftzug „Tattoo“ – und gibt auf dem Fahrrad bei jeder Runde über die Bühne mächtig an, beispielsweise wenn er in der Handstandwaage oder schlicht aufrecht auf Sattel und Lenker steht. Er bekommt nicht nur Riesenapplaus vom Publikum, er lässt die Gäste auch noch singen – „I was made for loving you“. Merlin Johnson indes bekennt sich bei Gesang und Gitarre dazu, dass er sich bei seinem 6. Engagement im Friedrichsbau allmählich an die Gegend und ihre Eigenheiten gewöhne, beispielsweise an den Dauerstau auf der B 27. Schließlich sei Stuttgart die Stadt, „die so viel mehr zu bieten hat als Heilbronn“. Bei Brian Scott Bagley ist der Gipfel des Sündigen erreicht, wenn er den Tanz im Bananenröckchen neu aufleben lässt, mit dem vor 100 Jahren die legendäre Josephine Baker im historischen Stuttgarter Friedrichsbau auftrat. Weit seriöser als diese Hommage sind natürlich die Jonglagen von Andriy Ruzhylo. Zunächst balanciert er eine lange Stange auf der Stirn und platziert zielgenau an den Haken an deren Ende zwei Ringe und einen Zylinder. Daran schließen sich Jonglagen mit vier Keulen am Boden und mit fünf Ringen auf der freistehenden Leiter an. Bei seinen nächsten Zaubereien kreiert Skizzo die „italienischen Momente“ im Leben. Unter anderem entnimmt er einer winzigen Kanne zehn Tassen Espresso. Um zu demonstrieren, dass er wirklich nirgendwo etwas verborgen hält, entledigt er sich seiner Kleidung bis auf die farbenfrohe Unterhose.


Vivian Spiral, Lisa Chudalla, Thula Moon

In ihrer Hula-Hoop-Performance lässt Vivian Spiral nicht nur fünf Reifen kreisen, sondern formt diese letztlich auch zu einer Kugelfigur, die sie in der Hand hält, während sie über die Bühne tanzt. Merlin Johnson gibt einem Zuschauer in einem poetischen Verwirrspiel die Chance, 60 Euro zu gewinnen und lässt ihn freilich scheitern. Burleske Stimmung wird noch einmal geschaffen, wenn Lisa Chudalla im Latexkleid und mit goldenen Ringen um den Hals lange Schwerter schluckt, als wäre dies ein leichtes. Nachdem Thula Moon das Programm mit ihren Kontorsionen eröffnet hat, darf sie es am Luftring auch wieder beschließen, dargeboten in einem transparenten Netzoutfit. Bis hin zu Rückwärts-Überschlägen und einem Kreisel im Flitterregen. „Leben wir frei, voller Verve, Schwung und Leidenschaft“, lautet Merlin Johnsons Schlussappell – im Epilog zum Finale bringt er auch wieder einmal sein unerhört sündiges Lied zu Gehör, wonach man ihn bitte nicht allein zu Hause lassen soll.

Der Applaus ist tosend, die Begeisterung groß für diese wunderbare Produktion. Sie bietet markante Artistenpersönlichkeiten wie den sich selbstbewusst produzierenden Radfahrer und die geheimnisvolle Schöne, die sich im Cyrrad dreht und Schwerter schluckt. Und dazu drei großartige Künstler, die jeder auch alleine durch eine Show führen könnten – der Poet und Sänger, der Comedy-Zauberer, der schrille Sänger zwischen den Geschlechtern. Doch hier stehlen sie sich nicht die Schau, sondern lassen einander den notwendigen Raum – um gemeinsam Großes zu schaffen.

_______________________________________________________________________
Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll