Einen
Ort, der Menschen zusammenführt, der viel Atmosphäre ausstrahlt, der
hochwertiges Entertainment garantiert. Diese Gegensätze, diese
Internationalität gehören zu Frankfurt am Main wie nur zu wenigen
Städten. Frankfurt ist ein Drehkreuz der internationalen
Wirtschaftswelt, der Tigerpalast ein Drehkreuz der internationalen
Artistenszene. Vermutlich funktioniert genau deswegen das Konzept der
Varieté-Macher in der Mainmetropole seit fast 30 Jahren so erfolgreich.
Das Programmheft listet die Geschichte des Hauses akribisch auf. Wie
aus der ehemaligen Kapelle der Heilsarmee ein Theater mit Platz
für 190 Gäste wurde. Wie sich der Tigerpalast über drei Jahrzehnte
entwickelt hat. Dabei erhalten die Gastspiele außerhalb des eigenen
Hauses eine besondere Erwähnung. Margareta Dillinger und Johnny Klinke
haben das Varieté gegründet und bilden noch heute die Direktion.
Mitgründer Matthias Beltz ist leider nicht mehr unter uns. Die
Geschäftsleitung liegt bei Robert Mangold. Er kümmert sich nicht nur um
das Varieté, sondern auch um die gastronomischen Aktivitäten des
Unternehmens. Mehrere Restaurants in Frankfurt gehören dazu. Eines
direkt neben dem Theater. Wer also mag, kann vor der Show Gourmetküche
genießen, die viele Jahre mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet war.

Blick in den Saal
Perfekten
Service erlebt man im Restaurant genauso wie im Varieté. Für das
Theater gibt es keine verschiedenen Preiskategorien, keine platzgenaue
Ticketbuchung. Die Gäste werden platziert. Jeden Abend lösen die
Mitarbeiter des Hauses ein kniffliges Puzzle. Sie schaffen es, dass
Gruppen beieinander sitzen können und Paare ihren eigenen Tisch haben.
Die Servicekräfte machen ihren Job ungeheuer aufmerksam und auf
angenehme Art professionell. Kurz nach der Bestellung steht das
gewünschte Getränk auf dem runden Holztisch mit der Lampe in der Mitte.
Die Nachbestellung läuft über einen dezenten Blickkontakt. Nach der
Vorstellung liegt die Rechnung vor einem, das Bezahlen erfolgt gefühlt
ohne Wartezeit.

Johnny Klinke beim European Youth Circus 2012
Rund
zwei Stunden – inklusive einer Pause – dauert die Show in diesem
intimen Rahmen, in dem die Künstler zum Greifen nah sind. Die Bühne mit
dem bunten Vorhang grenzt direkt an die ersten Tische. Mindestens eine
Darbietung findet mitten im Zuschauerraum statt. Ein Teil des Publikums
darf währenddessen auf der Bühne Platz nehmen. Es gab bislang jeweils
eine Frühjahrs- und Sommerrevue sowie eine Herbst- und Winterrevue. Die
laufende Produktion steht unter dem Titel „30. Jubiläumssaison 2017
-2018“. Wobei die Programme nicht starr sind. Einige der Künstler sind
die gesamte Spielzeit dabei, andere nur für einen Teil. Wo am Sonntag
zuvor noch Jochen Schell jongliert hat, führt jetzt Norman Barrett
seine Wellensittiche vor. Komplett von Mitte September bis Ende Februar
dabei ist hingegen etwa Antipodistin Selyna Bogino. Wichtig ist es der
Direktion dabei immer, Künstlerpersönlichkeiten zu präsentieren. Das
unterstreicht Johnny Klinke auch alle zwei Jahre in seiner Funktion als
Sprecher der Jury des European Youth Circus. Nicht nur von diesem
Festival kommen zunehmend junge Artisten in den Tigerpalast. So ergibt
sich eine reizvolle Mischung aus gestandenen Persönlichkeiten des
Showbusiness und Newcomern.
  
Selyna Bogino, Elena Skrypets, Norman Barrett
Der
jüngsten Künstlerin des Ensembles gehört die erste Nummer des Abends.
Selyna Bogino jongliert virtuos mit den Füßen. Ganz so, wie es ihre
Mutter Consuelo Reyes schon an gleicher Stelle getan hat. Die
jungendliche italienische Antipodistin lässt eine Walze, Tücher sowie
bis zu fünf Basketbälle auf ihren Füßen und teilweise auch Händen
tanzen. Höchste Konzentration ist gefragt, wenn sie mit dem einen Fuß
einen Reifen dreht, mit dem anderen einen Basketball in Bewegung hält
und mit den Händen drei Bälle jongliert. Ihr Auftritt ist in eine
charmante Choreographie verpackt. Gar eine Ausbildung als klassische
Balletttänzerin hat Elena Skrypets absolviert. Vom Theater- und
Opernballett Kiew wechselte sie in die Artistik. Und so zeigt sie eine
einzigartige Mischung aus Ballett und Kontorsion. Was mit einem Tanz
auf Zehenspitzen beginnt, geht in ungemein sinnliche Verbiegungen ihres
Körpers über. Die Ukrainerin scheint wirklich keine Knochen zu haben.
Dank des fließenden, filigranen Stils ist ihr Auftritt ein sehr
ästhetischer. Deutlich handfester wird es bei Norman Barrett. Der
Brite ist ein „real character“. Eine mit allen Wassern gewaschene
Persönlichkeit der internationalen Circus- und Varietéwelt. In vielen
Manegen stand er bereits als Ringmaster. Nach Frankfurt hat er einmal
mehr seine Wellensittiche mitgebracht, die auch zur zweiten Show nach
22 Uhr noch hellwach sind. Einige seiner neun gefiederten Partner
stellt uns Barrett namentlich vor. Immer kommentiert er die Kunststücke
auf höchst originelle Weise. Ganz egal, ob die Vögel gerade wippen oder
Rutschbahn fahren. Es ist ein großer Spaß, diesen Grandseigneur und
seine Wellensittiche zu erleben.
  
Molly Saudek, Duo Artemiev, Menno van Dyke
Zu
Beginn des zweiten Teils ist das Drahtseil durch den Zuschauerraum
gespannt. Auf leichten Füßen tänzelt Molly Saudek darüber. In ihren
fast schwerelosen wirkenden Tanz integriert sie anspruchsvolle Sprünge
und Figuren. Doch der Auftritt der US-Amerikanerin wird bald „gestört“.
Florent Blondeau bewegt sich zunächst unsicher auf dem Draht. Doch
schnell wird klar, dass alles nur gespielt ist und auch der Franzose
ein Könner ist. Gemeinsam zelebrieren sie ein intensives Spiel mit- und
gegeneinander. Dabei balanciert Blondeau sogar über die auf dem Seil
liegende Saudek. Auch das Duo Artemiev arbeitet mitten im Theater. Dank
der erhöhten Decke können sie ihr Trapez in ausreichendem Abstand zum
Boden aufhängen. Daran verwöhnen uns Elena und Dimitry mit einem
intensiven Tango. Der ausdrucksstarke Tanz ist nicht ohne Nervenkitzel.
Denn mit ihren Tricks kreieren sie nicht nur schöne Bilder, sondern
gehen zudem ein gewisses Risiko ein. Valerie Inerties Kür am Roue Cyr
braucht Platz, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Der steht auf der
Bühne des Tigerpalasts nur begrenzt zur Verfügung. Insofern hat die
Kanadierin ihre Nummer den Gegebenheiten angepasst. Nichtsdestotrotz
zeigt die Meisterin an diesem Requisit eine sinnliche Performance mit
artistischen Leckerbissen. Wunderbar in den intimen Rahmen des Theaters
passt der Juggling Tango von Emily und Menno van Dyke. Die Tänzerin aus
Frankreich und der niederländische Jongleur gehen eine phänomenale
Symbiose ein. Zunächst jongliert Menno im Solo mit Bällen. Dann kommt
seine Gattin hinzu. Tanz und Jonglage verschmelzen zu einer Einheit.
Während beide einen innigen Tango tanzen, jongliert Menno weiter mit
Bällen, später mit Keulen. Die Energie ist im ganzen Saal zu spüren,
überträgt sich auf die Zuschauer, welche begeistert mitgehen. Diese
Euphorie hält beim Finale an, in dem sich alle Mitwirkenden einzeln vom
Publikum verabschieden und dann gemeinsam den frenetischen
Schlussapplaus entgegennehmen. 
Jo van Nelsen
Was
für die Artisten gilt, gilt auch für die Conferenciers. Sie wechseln
während den Spielzeiten. Wortakrobat Markus Jeroch und die Chansonsiers
Alix Dudel sowie Jo van Nelsen gehören quasi zur Stammbesetzung, sind
mehr oder weniger regelmäßig im Tigerpalast engagiert. Deutlich rarer
sind die Auftritte des französischen Künstlers Jean-Michel Fournereau.
Wer ganz großes Glück hat, der wird von der einzigartigen Liliane Montevecchi durch den Abend begleitet. Die inzwischen 85-jährige
Bühnenpersönlichkeit ist Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. Diese
Ausstrahlung, diese Stimme, diese Persönlichkeit - schlichtweg
hinreißend. Wir haben an diesem Abend das Vergnügen, Jo van Nelsen als
Gastgeber zu erleben. Mit Chansons und Schlagern der 1920er sowie einem
gesunden Schuss Ironie führt der sympathische Frankfurter charmant
durchs Programm. „Im Tingeltangel tut sich was“, stellt er gleich zu
Beginn singend fest. Auch sein von Kurt Tucholsky getexteter Ratschlag
„Fang nie was mit Verwandtschaft an“ ist mehr als einleuchtend. Dabei
darf er sich – genauso wie die Artisten – auf die musikalische
Begleitung durch die Tigerband verlassen. Das Quartett thront seitlich
über den Zuschauern und sorgt für einen herrlichen Sound. Das
Lichtdesign ist dem Rahmen angepasst, unterstützt die intime Atmosphäre
ungemein. Verantwortlich hierfür ist Palle Palmé.
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