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Tigerpalast - Jubiläumssaison 2017/18
www.tigerpalast.de - 87 Showfotos

Frankfurt am Main, 15. November 2017: Die Heiligkreuzgase verläuft ein Stück weit parallel zur Zeil, Frankfurts Haupteinkaufsstraße. Da wo die Shoppingmeile nicht mehr ganz so einladend ist, wo man abends eher selten unterwegs ist. Es sei denn, man hat ein konkretes Ziel. Und ein solches gibt es dort seit 1988. Denn am 30. September des Jahres hat in der Heiligkreuzgasse 16-20 der Tigerpalast seine Pforten geöffnet. Seit diesem Tag gibt es mitten in dieser nicht gerade behaglichen Gegend einen Ort, an dem Abend für Abend ein internationales Publikum von internationalen Künstlern aufs Beste unterhalten wird.

Einen Ort, der Menschen zusammenführt, der viel Atmosphäre ausstrahlt, der hochwertiges Entertainment garantiert. Diese Gegensätze, diese Internationalität gehören zu Frankfurt am Main wie nur zu wenigen Städten. Frankfurt ist ein Drehkreuz der internationalen Wirtschaftswelt, der Tigerpalast ein Drehkreuz der internationalen Artistenszene. Vermutlich funktioniert genau deswegen das Konzept der Varieté-Macher in der Mainmetropole seit fast 30 Jahren so erfolgreich. Das Programmheft listet die Geschichte des Hauses akribisch auf. Wie aus der ehemaligen Kapelle der Heilsarmee ein Theater mit Platz für 190 Gäste wurde. Wie sich der Tigerpalast über drei Jahrzehnte entwickelt hat. Dabei erhalten die Gastspiele außerhalb des eigenen Hauses eine besondere Erwähnung. Margareta Dillinger und Johnny Klinke haben das Varieté gegründet und bilden noch heute die Direktion. Mitgründer Matthias Beltz ist leider nicht mehr unter uns. Die Geschäftsleitung liegt bei Robert Mangold. Er kümmert sich nicht nur um das Varieté, sondern auch um die gastronomischen Aktivitäten des Unternehmens. Mehrere Restaurants in Frankfurt gehören dazu. Eines direkt neben dem Theater. Wer also mag, kann vor der Show Gourmetküche genießen, die viele Jahre mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet war.


Blick in den Saal

Perfekten Service erlebt man im Restaurant genauso wie im Varieté. Für das Theater gibt es keine verschiedenen Preiskategorien, keine platzgenaue Ticketbuchung. Die Gäste werden platziert. Jeden Abend lösen die Mitarbeiter des Hauses ein kniffliges Puzzle. Sie schaffen es, dass Gruppen beieinander sitzen können und Paare ihren eigenen Tisch haben. Die Servicekräfte machen ihren Job ungeheuer aufmerksam und auf angenehme Art professionell. Kurz nach der Bestellung steht das gewünschte Getränk auf dem runden Holztisch mit der Lampe in der Mitte. Die Nachbestellung läuft über einen dezenten Blickkontakt. Nach der Vorstellung liegt die Rechnung vor einem, das Bezahlen erfolgt gefühlt ohne Wartezeit.


Johnny Klinke beim European Youth Circus 2012

Rund zwei Stunden – inklusive einer Pause – dauert die Show in diesem intimen Rahmen, in dem die Künstler zum Greifen nah sind. Die Bühne mit dem bunten Vorhang grenzt direkt an die ersten Tische. Mindestens eine Darbietung findet mitten im Zuschauerraum statt. Ein Teil des Publikums darf währenddessen auf der Bühne Platz nehmen. Es gab bislang jeweils eine Frühjahrs- und Sommerrevue sowie eine Herbst- und Winterrevue. Die laufende Produktion steht unter dem Titel „30. Jubiläumssaison 2017 -2018“. Wobei die Programme nicht starr sind. Einige der Künstler sind die gesamte Spielzeit dabei, andere nur für einen Teil. Wo am Sonntag zuvor noch Jochen Schell jongliert hat, führt jetzt Norman Barrett seine Wellensittiche vor. Komplett von Mitte September bis Ende Februar dabei ist hingegen etwa Antipodistin Selyna Bogino. Wichtig ist es der Direktion dabei immer, Künstlerpersönlichkeiten zu präsentieren. Das unterstreicht Johnny Klinke auch alle zwei Jahre in seiner Funktion als Sprecher der Jury des European Youth Circus. Nicht nur von diesem Festival kommen zunehmend junge Artisten in den Tigerpalast. So ergibt sich eine reizvolle Mischung aus gestandenen Persönlichkeiten des Showbusiness und Newcomern.


Selyna Bogino, Elena Skrypets, Norman Barrett

Der jüngsten Künstlerin des Ensembles gehört die erste Nummer des Abends. Selyna Bogino jongliert virtuos mit den Füßen. Ganz so, wie es ihre Mutter Consuelo Reyes schon an gleicher Stelle getan hat. Die jungendliche italienische Antipodistin lässt eine Walze, Tücher sowie bis zu fünf Basketbälle auf ihren Füßen und teilweise auch Händen tanzen. Höchste Konzentration ist gefragt, wenn sie mit dem einen Fuß einen Reifen dreht, mit dem anderen einen Basketball in Bewegung hält und mit den Händen drei Bälle jongliert. Ihr Auftritt ist in eine charmante Choreographie verpackt. Gar eine Ausbildung als klassische Balletttänzerin hat Elena Skrypets absolviert. Vom Theater- und Opernballett Kiew wechselte sie in die Artistik. Und so zeigt sie eine einzigartige Mischung aus Ballett und Kontorsion. Was mit einem Tanz auf Zehenspitzen beginnt, geht in ungemein sinnliche Verbiegungen ihres Körpers über. Die Ukrainerin scheint wirklich keine Knochen zu haben. Dank des fließenden, filigranen Stils ist ihr Auftritt ein sehr ästhetischer. Deutlich handfester wird es bei Norman Barrett. Der Brite ist ein „real character“. Eine mit allen Wassern gewaschene Persönlichkeit der internationalen Circus- und Varietéwelt. In vielen Manegen stand er bereits als Ringmaster. Nach Frankfurt hat er einmal mehr seine Wellensittiche mitgebracht, die auch zur zweiten Show nach 22 Uhr noch hellwach sind. Einige seiner neun gefiederten Partner stellt uns Barrett namentlich vor. Immer kommentiert er die Kunststücke auf höchst originelle Weise. Ganz egal, ob die Vögel gerade wippen oder Rutschbahn fahren. Es ist ein großer Spaß, diesen Grandseigneur und seine Wellensittiche zu erleben.


Molly Saudek, Duo Artemiev, Menno van Dyke

Zu Beginn des zweiten Teils ist das Drahtseil durch den Zuschauerraum gespannt. Auf leichten Füßen tänzelt Molly Saudek darüber. In ihren fast schwerelosen wirkenden Tanz integriert sie anspruchsvolle Sprünge und Figuren. Doch der Auftritt der US-Amerikanerin wird bald „gestört“. Florent Blondeau bewegt sich zunächst unsicher auf dem Draht. Doch schnell wird klar, dass alles nur gespielt ist und auch der Franzose ein Könner ist. Gemeinsam zelebrieren sie ein intensives Spiel mit- und gegeneinander. Dabei balanciert Blondeau sogar über die auf dem Seil liegende Saudek. Auch das Duo Artemiev arbeitet mitten im Theater. Dank der erhöhten Decke können sie ihr Trapez in ausreichendem Abstand zum Boden aufhängen. Daran verwöhnen uns Elena und Dimitry mit einem intensiven Tango. Der ausdrucksstarke Tanz ist nicht ohne Nervenkitzel. Denn mit ihren Tricks kreieren sie nicht nur schöne Bilder, sondern gehen zudem ein gewisses Risiko ein. Valerie Inerties Kür am Roue Cyr braucht Platz, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Der steht auf der Bühne des Tigerpalasts nur begrenzt zur Verfügung. Insofern hat die Kanadierin ihre Nummer den Gegebenheiten angepasst. Nichtsdestotrotz zeigt die Meisterin an diesem Requisit eine sinnliche Performance mit artistischen Leckerbissen. Wunderbar in den intimen Rahmen des Theaters passt der Juggling Tango von Emily und Menno van Dyke. Die Tänzerin aus Frankreich und der niederländische Jongleur gehen eine phänomenale Symbiose ein. Zunächst jongliert Menno im Solo mit Bällen. Dann kommt seine Gattin hinzu. Tanz und Jonglage verschmelzen zu einer Einheit. Während beide einen innigen Tango tanzen, jongliert Menno weiter mit Bällen, später mit Keulen. Die Energie ist im ganzen Saal zu spüren, überträgt sich auf die Zuschauer, welche begeistert mitgehen. Diese Euphorie hält beim Finale an, in dem sich alle Mitwirkenden einzeln vom Publikum verabschieden und dann gemeinsam den frenetischen Schlussapplaus entgegennehmen.


Jo van Nelsen

Was für die Artisten gilt, gilt auch für die Conferenciers. Sie wechseln während den Spielzeiten. Wortakrobat Markus Jeroch und die Chansonsiers Alix Dudel sowie Jo van Nelsen gehören quasi zur Stammbesetzung, sind mehr oder weniger regelmäßig im Tigerpalast engagiert. Deutlich rarer sind die Auftritte des französischen Künstlers Jean-Michel Fournereau. Wer ganz großes Glück hat, der wird von der einzigartigen Liliane Montevecchi durch den Abend begleitet. Die inzwischen 85-jährige Bühnenpersönlichkeit ist Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. Diese Ausstrahlung, diese Stimme, diese Persönlichkeit - schlichtweg hinreißend. Wir haben an diesem Abend das Vergnügen, Jo van Nelsen als Gastgeber zu erleben. Mit Chansons und Schlagern der 1920er sowie einem gesunden Schuss Ironie führt der sympathische Frankfurter charmant durchs Programm. „Im Tingeltangel tut sich was“, stellt er gleich zu Beginn singend fest. Auch sein von Kurt Tucholsky getexteter Ratschlag „Fang nie was mit Verwandtschaft an“ ist mehr als einleuchtend. Dabei darf er sich – genauso wie die Artisten – auf die musikalische Begleitung durch die Tigerband verlassen. Das Quartett thront seitlich über den Zuschauern und sorgt für einen herrlichen Sound. Das Lichtdesign ist dem Rahmen angepasst, unterstützt die intime Atmosphäre ungemein. Verantwortlich hierfür ist Palle Palmé.

Das alles, diese unvergleichliche Mischung gibt es nur im Frankfurter Gerichtsviertel. Eben nur im Tigerpalast. Der einzigartige Theatersaal versprüht sein eigenes Flair, das nicht beliebig reproduzierbar ist. Hier treffen sich seit 30 Jahren Abend für Abend die Stars des internationalen Varietés, um ein ebenso internationales Publikum zu begeistern, ja zu faszinieren. Hoffen wir, dass dies noch lange so sein wird.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch