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Berliner Artistenschule - SPIN!
www.absolventenshow.de ; 113 Showfotos

Stuttgart, 18. Juli 2019: Alle drehen sich, und alles dreht sich ums Drehen: So abstrakt oder vielleicht auch beliebig ist das Thema der Absolventenshow 2019 der Berliner Artistenschule. „SPIN!“ lautet das Motto. Seit Juni und noch bis Ende September sind die jungen Frauen und Männer gemeinsam unterwegs. Kurz zuvor haben sie ihre Ausbildung zu staatlich geprüften Artisten abgeschlossen. Mehr als 40 Shows an 30 verschiedenen Orten stehen auf ihrem Tourneeplan. Wir sahen die Show im Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté, welches den Absolventen längst traditionell eine Plattform gibt.

Nicht länger gemeinsam mit Jan van Aubel, sondern mit seinem eigenen Unternehmen „Paulsen und Consorten“ hat Maik M. Paulsen die Tour in bewährter Weise organisiert. Es ist die 15. Auflage. In der ersten Show im Jahr 2005 stand Paulsen selbst als Absolvent auf der Bühne, damals mit humorvollen Jonglagen, seitdem ist er die Konstante dieses schönen und wichtigen Projekts. Regie geführt hat in dieser Saison, zum zweiten Mal nach 2016, der Artist und Schauspieler Karl-Heinz Helmschrot. Er hat eine coole, moderne Show geschaffen, die Spaß macht. Und zudem auch eine besonders musikalische Seite hat, denn einige der Artisten zeigen ihr Können an Instrumenten oder als Beatboxer.


Andreas Jordan und Veronica Fontanella, Vadim Lukjanchuk, Jenny Isabel
 

So wie im Opening, wenn der Tanz des Ensembles am Cello begleitet wird. Und Jenny Isabel dreht ihre Runden im Cyrrad, der Zweitnummer der Artistin, unter den Klängen des Streichers und einer Trommel, zusätzlich zur Musik vom Band. Gleich mit drei verschiedenen Darbietungen zeigt der junge Österreicher Andres Jordan sein großartiges Können. Zunächst präsentiert er gemeinsam mit seiner Partnerin Veronica Fontanella eine originelle Kombination zweiter total unterschiedlicher Genres: Er jongliert mit Ringen, sie zeigt Handstände. Und dabei interagieren beide: Sie greift mit den Zehen Requisiten aus seinen Jongliermustern heraus und gibt sie zurück. Sie steht auf zwei Händen und einem Bein, um mit dem zweiten, nach oben gestreckten Bein bzw. ihrem Fuß einen von ihm geworfenen Ring zurückspringen zu lassen. Und schließlich stellt sie vorsichtig einen Ring auf Gesicht und Nase ihres Partners ab. Der junge Lette Vadim Lukjanchuk hat mit besonderer Konsequenz das Ziel verfolgt, Artist zu werden. Er begann seine artistische Laufbahn in Riga und wechselte nach der Schließung des dortigen Circusbaus im Jahr 2016 nach Berlin. Der androgyne Typ mit den stark geschminkten Augen hat sich zwei Genres verschrieben, die sonst eher weibliche Domänen sind: Hula Hoop und Luftnetz. Nachdem er zunächst ein Paar Highheels in einer Kiste findet, geht es in die Höhe. Am und im Netz wechselt er zwischen Posen, die seine hohe Beweglichkeit erkennen lassen, und dynamischen Abfallern und Überschlägen. Dazu begleitet ihn eine außergewöhnliche Musik mit Gesang.


Johann Prinz, Jenny Isabel, Andreas Jordan 

Auch die zweite Darbietung von Andreas Jordan ist technisch innovativ und originell. Er jongliert mit Ringen, dies aber auch gegen den Boden, wie man es nur von Bouncing-Jonglagen mit Bällen kennt. Dabei nutzt er auch einen Stuhl, auf dem er in verschiedener Weise sitzt, steht oder sich dreht. Ganz klassisch ist die Präsentation zu Swing-Musik im Stil der 20er Jahre, mit grauer Hose, weißem Hemd, Halstuch – und selbstbewusstem, ausdrucksstarkem Auftritt. Johann Prinz – der „Luftprinz“ – bietet in seiner atmosphärischen Darbietung alles, was man von einer hochklassigen Strapaten-Nummer erwarten kann: blitzschnelle, fast unaufhörliche Spins, starke Posen, Kräfte zehrendes Auf- und Abwickeln, ausgedehnte Passagen auch an einer Hand, beeindruckende Beweglichkeit, bei der sich der Körper des Künstlers wie zu einem S formt. Jenny Isabel macht uns am Luftring deutlich, dass dieses Genre oftmals unterschätzt wird. Ihr rhythmischer Tanz in der Luft steigert sich fortwährend in seiner Dynamik, die bis zu gewagt-gekonnten Überschlägen führt.

 
Vadim Lukanchuk, Andreas Jordan, Veronica Fontanella 

Andreas Jordan zum Dritten: In seiner letzten Darbietung lässt der Österreicher die Diabolos tanzen. Zumeist zwei, am Ende auch drei der Doppelkegel werden von ihm in komplexen Figuren bewegt, nunmehr im Outfit eines Magiers mit Frack und Zylinder. Von seinen Artistenkollegen wird er mit viel Power live begleitet an Schlagzeug, Akkordeon und Cello, wie einige andere Darbietungen auch. Mitreißend auch die Hula Hoop-Nummer von Vadim Lukanchuk, der zahlreiche Reifen um Arme, Rumpf und Beine kreisen lässt. Musikalisch bewegt er sich zwischen modernem Elektro und Einflüssen des klassischen Tangos, tänzerisch ist die Nummer auch insgesamt gestaltet. Großer Applaus ist der Lohn. Veronica Fontanella wird ihre Ausbildung erst im kommenden Sommer abschließen. Doch bereits in dieser Saison ist sie mit auf der Absolvententour. Am Vertikaltuch vereint sie temporeiche Abfaller und leidenschaftliche Verstrickungen. Unter anderem formt sie aus ihrem Körper und dem Requisit ein Peace-Zeichen in der Luft.


Duo One Line alias Jannis Nau und Adrian Schulte-Zweckel 

Lobenswert ist, dass zur Absolventenshow wieder eine professionelle Website zur Verfügung steht. Dort werden alle Künstler vorgestellt, und zwar mit Links zu ihren jeweils eigenen Internetauftritten. Und ausnahmslos alle Nachwuchskünstler verfügen über eine solche Seite, jeweils mit aktuellen Fotos und Videos, Biografien, Kontaktdaten und anderem mehr. Das war nicht immer so, so dass wir von einem echten Fortschritt sprechen können. Und zuversichtlich sein, dass die Absolventen nicht nur akrobatisch gut auf den Einstieg in den schwierigen Markt der freiberuflichen Künstler vorbereitet sind. So können wir uns auch einen Eindruck von den beiden Nummern der „Canavaltwins“ verschaffen. Die österreichischen Zwillingsbrüder Michael und Florian Canaval waren in der besuchten Vorstellung krankheitsbedingt nicht dabei. In ihren Videotrailern fassen sie ihre Acts zusammen. Dies ist zum einen eine Jonglage mit LED-beleuchteten Keulen auf ebenso illuminierten Boxen. Zum anderen zeigen sie eine Kombination aus Jonglage und zeitgenössischem Tanz, unterlegten mit einem französischsprachigen Text über den Sklavenhandel vor der Revolution. Tatsächlich auf der Bühne steht an diesem Abend das Duo One Line, bestehend aus den Bochumer Freunden Jannis Nau und Adrian Schulte-Zweckel. Sie sind die beiden großen Sympathieträger der Produktion. Rasant und voller Lebensfreude lassen sie gemeinsam bis zu fünf Diabolos fliegen und fangen diese sicher wieder auf. Außerdem sind sie als Beatboxer, Geräuschimitatoren und Pantomimen der witzige Fixpunkt der Zwischenspiele und Ensembleszenen, die natürlich auch in dieser Absolventenshow nicht fehlen dürfen.

Wo die früheren Jahrgänge leider oftmals allzu viel Weltschmerz zelebrierten, präsentieren die diesjährigen Artisten sich vorwiegend jung und unbekümmert. Was sie, im Finale mit tosendem Applaus gefeiert, vollkommen zu Recht auch sein dürfen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll