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Friedrichsbau - "PURE"
www.friedrichsbau.de - 127 Showfotos

Stuttgart, 11. März 2022: Die natürliche Anziehungskraft zwischen den Menschen ergründen möchte das Friedrichsbau-Varieté Stuttgart mit seiner Show „PURE“. Auch in dieser Produktion geht es „artistisch, sinnlich, burlesque“ zu, wie der Untertitel verrät. Und humorvoll, wofür Moderatorin Chantall aus Berlin und ihre Assistentin „La Noury“ sorgen. Der russische Angriffskrieg auf sein Nachbarland bleibt auch in Stuttgart leider nicht ohne Folgen. Artistin Natalia Ruzhylo konnte aus der Ukraine anreisen; ihrem Bruder Andriy blieb dies jedoch verwehrt.

In seiner Ansprache ans Premierenpublikum macht Direktor Timo Steinhauer deutlich, dass im Friedrichsbau seit der Neugründung vor 28 Jahren russische und ukrainische Künstlerinnen und Künstler friedlich und kreativ miteinander arbeiten und damit ihren Beitrag zur Völkerverständig leisten. „Für die Show und für das Publikum geht es nur Miteinander“, sagt er in seinem Statement.


Autumn Melody Thomas, Chantall, Vivi Valentine 

Als sich der Vorhang dann öffnet, sitzt Autumn Melody Thomas am Piano und interpretiert mit ihrer beeindruckenden Stimme „Skyfall“, die bekannte James-Bond-Hymne. In ihrem langen, eleganten Kleid und mit dem goldenen Sternenkranz im Haar wirkt die Amerikanerin fast wie eine Mensch gewordene Freiheitsstatue. Weit weniger ernsthaft geht es zu, wenn Chantall die Gäste begrüßt und sich gemeinsam mit ihrer Assistentin „La Noury“ – der bekannte Luftakrobat Marco Noury in High Heels – ein Eierlikörchen gönnt. Mit Push-up-Kissen unterm Rock verschafft sich Chantall die richtigen Kurven à la Kim Kardashian und lässt gleich einen Hula Hoop-Reifen ums Gesäß kreisen. „Nur einen Mann kann man so nicht mit heim nehmen“, beklagt sie sich. Da könnte die kleine Optimierungsmaßnahme ja ans Licht kommen. Nicht verborgen bleibt uns jedenfalls, dass die Häufigkeit von Re-Engagements im Friedrichsbau über die Jahre deutlich zugenommen hat. Beileibe nicht zum ersten Mal darf beispielsweise Burlesque-Performerin Vivi Valentine hier ihre sinnlich-schöne und aufregend-moderne Interpretation des Federtanzes zelebrieren. Auch andere Mitglieder des Ensembles sind nicht zum ersten Mal in dem Theater zu Gast. Hier würde man sich gelegentlich mehr Vielfalt wünschen.


Natalia Ruzhylo, Autumn Melody Thomas, Anja Pavlova 

Frivol und fröhlich geht es auch zu, wenn Chantall singt und zaubert, der Kopf des Artistenkollegen Ethan Law scheinbar mit Messern durchbohrt wird. Auch hier darf Marco Noury assistieren, im knappen Glitzeroutfit. Als Akrobat hat er in dieser Show jedoch Pause, zumal die Luftnummern ohnehin einen Schwerpunkt bilden. Nicht pausieren darf Natalia Ruzhylo. Sie bewegt bei ihren klassischen Antipodenspielen insgesamt nur drei Gegenstände mit Händen und Füßen – eine Rolle, ein Achteck und einen Reifen –, doch dies gelingt ihr in bemerkenswertem Tempo. Nachdem Autumn Melody Thomas bereits als Pianistin und Sängerin beeindruckt hat, überrascht sie noch mit einer weiteren Facette ihres enormen Könnens – nämlich bei Luftakrobatik am Tuch, die sie mit Gesang kombiniert. „Crazy like now“ ist der Titel ihrer Wahl, den sie leidenschaftlich interpretiert. In einem späteren Auftritt singt sie während ihrer kraftvollen Arbeit am Luftring, zumindest im ersten Teil. Später werden die akrobatischen Übungen so anspruchsvoll, dass sie sich darauf konzentriert. Die Reaktionen machen deutlich, dass die Sängerin zu den Publikumsfavoriten im Ensemble gehört. Die zweite Burlesquekünstlerin dieser Produktion, Anja Pavlova, beginnt ihre Performance in einem kostbaren Diven-Gewand und endet – fast – unbekleidet mit einem Fächertanz. Eine gewisse Redundanz zum Auftritt ihrer Kollegin Vivi Valentine ist nicht zu übersehen.


Viktoriia Knysh, Sheyen Caroli, Duo Heart's Desire

Die Italienerin Sheyen Caroli mit dem klangvollen Nachnamen gehört zur fünften Generation der Artistenfamilie. Die weibliche Figur, die Kostümierung in Unterwäsche und die kurz geschorenen Haare machen sie zum außergewöhnlichen Hingucker. Doch das ist bei ihrer Kontorsionsarbeit längst nicht alles. Der anspruchsvolle akrobatische Höhepunkt sei Beleg genug. Dabei schießt Caroli treffsicher mit Pfeil und Bogen auf eine Zielscheibe. Natürlich löst sie die Waffe im Handstand mit den Füßen aus. Zwischen Berliner Schnauze, ironischer Verruchtheit und ständigem Nesteln am Dekolletee präsentiert uns Chantall nicht nur ein Bustier mit drehbarem Blumenschmuck oder erzählt von dem zum Familienfest an Heiligabend engagierten Stripper. Sie wagt auch einen sündigen Tanz auf Stühlen gemeinsam mit anderen Damen des Ensembles, unter die sich auch „La Noury“ mischt. Dazu beweist sie auch ihr gesangliches Können. Das Duo Heart’s Desire – alias Viktoriia Knysh und Dmytro Shmygovskyi – stammt aus der Ukraine, lebt aber seit längerem in Berlin. Beide rotieren beim Poledance mal gemeinsam, mal abwechselnd ums Requisit. Zu den bemerkenswertesten Figuren gehört, wie der männliche Partner sich kopfüber von der Stange abdrückt und sie sich auf nur auf seinem rechten Fuß in der Waage hält. Darüber hinaus ist Viktoriia Knysh auch in einer Solonummer am Luftring zu bewundern.


Vivi Valentine, Natalia Ruzhylo, Anja Pavlova

In ihrer zweiten Burlesquenummer erleben wir Vivi Valentine im weißen Kostüm, das im Luftstrom einer Windmaschine flattert. Wenn sie die Kopfbedeckung ablegt, wehen auch ihre offenen Haare. Ein Hauch von Marilyn Monroe. Auf diese Diva folgt Natalia Ruzhylo, die jugendlich und frisch, keck und rasant eine halbes Dutzend Hula Hoop-Reifen um Arme, Beine und Körper kreisen lässt. Wie es hinter der fröhlichen Miene aussieht, mag man nicht fragen. Moderatorin Chantall macht deutlich, dass man in Stuttgart auf Natalias Bruder Andriy wartet, seinen Platz in der Show freihält und darauf hofft, dass er bald zum Ensemble stoßen kann. Sogar seine Gage wird ihm auch in Abwesenheit gezahlt. Nun nehmen die anderen Künstlerinnen und Künstler ihre ukrainische Kollegin in die Mitte, bilden einen Halbkreis auf der Bühne. Dazu interpretiert Autumn Melody Thomas ganz stark Sias „Bird set free“. Noch einmal ist es an Anja Pavlova, sich kunstvoll zu entkleiden, nunmehr in einer orientalischen Phantasie.


Ethan Law, Chantall und Flori, Yuchan Izuka

Schon ein Kunstwerk für sich ist der über und über tätowierte Körper von Ethan Law. Im Cyrrad dreht Law seine Runden und beherrscht unter anderem Rotationen, bei denen er sich nur mit einer Hand am Requisit hält. Fest im Griff hat Chantall das bestens amüsierte Publikum. Insbesondere in Erinnerung bleibt ihr Auftritt, bei dem sie ihr Können als Peitschenspielerin demonstriert. Corona-bedingt ist es kein Zuschauer, sondern Bühnentechniker Flori, der hier das „Opfer“ geben darf. Gut geschützt mit Helm, Handschuhen und Umhang, muss er die Zeitung halten, die Chantall mit der Peitsche durchtrennt. Für die fernöstliche Note sorgt zum Abschluss die Japanerin Yuchan Izuka in einem starken Auftritt an den Strapaten, unter anderem mit einem Wirbel kopfüber und mit Genickhang, sinnlich präsentiert in schwarzer Wäsche. Ob mit den vielen Solonummern im Programm aber tatsächlich die Anziehungskraft zwischen den Menschen deutlich wird, das lassen wir dahingestellt - doch immerhin ist unübersehbar, wie Menschen, hier besonders Frauen, mit ihren Reizen absolut anziehend wirken können.

Nicht nur die Burlesque-Tänzerinnen sorgen für erotische Stimmung in dieser beeindruckenden Vorstellung, es sind auch die betont sinnlich gestalteten Akrobatik-Nummern, die leidenschaftlich interpretierten Songs von Autum Melody Thomas und die pikant-frivolen Plaudereien von Chantall und ihrer die Geschlechterrollen tauschenden „Assistentin“. Mit Sängerin und Moderatorin ist es auch eine Show, die zwei prägende Figuren hat – frisch und unverbraucht für den Friedrichsbau, wo wir beide bisher noch nicht in einer der großen Eigenproduktionen gesehen haben.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll