In seiner Ansprache ans Premierenpublikum macht
Direktor Timo Steinhauer deutlich, dass im Friedrichsbau seit der
Neugründung vor 28 Jahren russische und ukrainische Künstlerinnen und
Künstler friedlich und kreativ miteinander arbeiten und damit ihren
Beitrag zur Völkerverständig leisten. „Für die Show und für das
Publikum geht es nur Miteinander“, sagt er in seinem Statement.
Autumn
Melody Thomas, Chantall, Vivi Valentine
Als sich der Vorhang dann öffnet, sitzt Autumn
Melody Thomas am Piano und interpretiert mit ihrer beeindruckenden
Stimme „Skyfall“, die bekannte James-Bond-Hymne. In ihrem langen,
eleganten Kleid und mit dem goldenen Sternenkranz im Haar wirkt die
Amerikanerin fast wie eine Mensch gewordene Freiheitsstatue. Weit
weniger ernsthaft geht es zu, wenn Chantall die Gäste begrüßt
und sich gemeinsam mit ihrer Assistentin „La Noury“ – der bekannte
Luftakrobat Marco Noury in High Heels – ein Eierlikörchen gönnt. Mit
Push-up-Kissen unterm Rock verschafft sich Chantall die richtigen Kurven
à la Kim Kardashian und lässt gleich einen Hula Hoop-Reifen ums Gesäß
kreisen. „Nur einen Mann kann man so nicht mit heim nehmen“, beklagt sie
sich. Da könnte die kleine Optimierungsmaßnahme ja ans Licht kommen.
Nicht verborgen bleibt uns jedenfalls, dass die Häufigkeit von
Re-Engagements im Friedrichsbau über die Jahre deutlich zugenommen hat.
Beileibe nicht zum ersten Mal darf beispielsweise Burlesque-Performerin
Vivi Valentine hier ihre sinnlich-schöne und aufregend-moderne
Interpretation des Federtanzes zelebrieren. Auch andere Mitglieder des
Ensembles sind nicht zum ersten Mal in dem Theater zu Gast. Hier würde
man sich gelegentlich mehr Vielfalt wünschen.
Natalia Ruzhylo, Autumn Melody Thomas, Anja Pavlova
Frivol und fröhlich geht es auch zu, wenn Chantall
singt und zaubert, der Kopf des Artistenkollegen Ethan Law scheinbar mit
Messern durchbohrt wird. Auch hier darf Marco Noury assistieren, im
knappen Glitzeroutfit. Als Akrobat hat er in dieser Show jedoch Pause,
zumal die Luftnummern ohnehin einen Schwerpunkt bilden. Nicht pausieren
darf Natalia Ruzhylo. Sie bewegt bei ihren klassischen Antipodenspielen
insgesamt nur drei Gegenstände mit Händen und Füßen – eine Rolle, ein
Achteck und einen Reifen –, doch dies gelingt ihr in bemerkenswertem
Tempo. Nachdem Autumn Melody Thomas bereits als Pianistin und Sängerin
beeindruckt hat, überrascht sie noch mit einer weiteren Facette ihres
enormen Könnens – nämlich bei Luftakrobatik am Tuch, die sie mit Gesang
kombiniert. „Crazy like now“ ist der Titel ihrer Wahl, den sie
leidenschaftlich interpretiert. In einem späteren Auftritt singt sie
während ihrer kraftvollen Arbeit am Luftring, zumindest im ersten Teil.
Später werden die akrobatischen Übungen so anspruchsvoll, dass sie sich
darauf konzentriert. Die Reaktionen machen deutlich, dass die Sängerin
zu den Publikumsfavoriten im Ensemble gehört. Die zweite
Burlesquekünstlerin dieser Produktion, Anja Pavlova, beginnt ihre
Performance in einem kostbaren Diven-Gewand und endet – fast –
unbekleidet mit einem Fächertanz. Eine gewisse Redundanz zum Auftritt
ihrer Kollegin Vivi Valentine ist nicht zu übersehen.
Viktoriia Knysh, Sheyen Caroli, Duo Heart's Desire
Die Italienerin Sheyen Caroli mit dem klangvollen
Nachnamen gehört zur fünften Generation der Artistenfamilie. Die
weibliche Figur, die Kostümierung in Unterwäsche und die kurz
geschorenen Haare machen sie zum außergewöhnlichen Hingucker. Doch das
ist bei ihrer Kontorsionsarbeit längst nicht alles. Der anspruchsvolle
akrobatische Höhepunkt sei Beleg genug. Dabei schießt Caroli treffsicher
mit Pfeil und Bogen auf eine Zielscheibe. Natürlich löst sie die Waffe
im Handstand mit den Füßen aus. Zwischen Berliner Schnauze, ironischer
Verruchtheit und ständigem Nesteln am Dekolletee präsentiert uns
Chantall nicht nur ein Bustier mit drehbarem Blumenschmuck oder erzählt
von dem zum Familienfest an Heiligabend engagierten Stripper. Sie wagt
auch einen sündigen Tanz auf Stühlen gemeinsam mit anderen Damen des
Ensembles, unter die sich auch „La Noury“ mischt. Dazu beweist sie auch
ihr gesangliches Können. Das Duo Heart’s Desire – alias Viktoriia Knysh
und Dmytro Shmygovskyi – stammt aus der Ukraine, lebt aber seit längerem
in Berlin. Beide rotieren beim Poledance mal gemeinsam, mal abwechselnd
ums Requisit. Zu den bemerkenswertesten Figuren gehört, wie der
männliche Partner sich kopfüber von der Stange abdrückt und sie sich auf
nur auf seinem rechten Fuß in der Waage hält. Darüber hinaus ist
Viktoriia Knysh auch in einer Solonummer am Luftring zu bewundern.
Vivi Valentine,
Natalia Ruzhylo, Anja Pavlova
In ihrer zweiten Burlesquenummer erleben wir Vivi
Valentine im weißen Kostüm, das im Luftstrom einer Windmaschine
flattert. Wenn sie die Kopfbedeckung ablegt, wehen auch ihre offenen
Haare. Ein Hauch von Marilyn Monroe. Auf diese Diva folgt Natalia
Ruzhylo, die jugendlich und frisch, keck und rasant eine halbes Dutzend
Hula Hoop-Reifen um Arme, Beine und Körper kreisen lässt. Wie es hinter
der fröhlichen Miene aussieht, mag man nicht fragen. Moderatorin
Chantall macht deutlich, dass man in Stuttgart auf Natalias Bruder
Andriy wartet, seinen Platz in der Show freihält und darauf hofft, dass
er bald zum Ensemble stoßen kann. Sogar seine Gage wird ihm auch in
Abwesenheit gezahlt. Nun nehmen die anderen Künstlerinnen und Künstler
ihre ukrainische Kollegin in die Mitte, bilden einen Halbkreis auf der
Bühne. Dazu interpretiert Autumn Melody Thomas ganz stark Sias „Bird set
free“. Noch einmal ist es an Anja Pavlova, sich kunstvoll zu entkleiden,
nunmehr in einer orientalischen Phantasie.
Ethan Law, Chantall und
Flori, Yuchan Izuka
Schon ein Kunstwerk für sich ist der über und über
tätowierte Körper von Ethan Law. Im Cyrrad dreht Law seine Runden und
beherrscht unter anderem Rotationen, bei denen er sich nur mit einer
Hand am Requisit hält. Fest im Griff hat Chantall das bestens amüsierte
Publikum. Insbesondere in Erinnerung bleibt ihr Auftritt, bei dem sie
ihr Können als Peitschenspielerin demonstriert. Corona-bedingt ist es
kein Zuschauer, sondern Bühnentechniker Flori, der hier das „Opfer“
geben darf. Gut geschützt mit Helm, Handschuhen und Umhang, muss er die
Zeitung halten, die Chantall mit der Peitsche durchtrennt. Für die
fernöstliche Note sorgt zum Abschluss die Japanerin Yuchan Izuka in
einem starken Auftritt an den Strapaten, unter anderem mit einem Wirbel
kopfüber und mit Genickhang, sinnlich präsentiert in schwarzer Wäsche.
Ob mit den vielen Solonummern im Programm aber tatsächlich die
Anziehungskraft zwischen den Menschen deutlich wird, das lassen wir
dahingestellt - doch immerhin ist unübersehbar, wie Menschen, hier
besonders Frauen, mit ihren Reizen absolut anziehend wirken können. |