Als das „beste Varieté der Republik“ bezeichnet sich der Friedrichsbau
nun auf Plakaten und Programmheft: Das neue Selbstbewusstsein ist weder
unberechtigt, noch kommt es von ungefähr. Seit nunmehr knapp drei Jahren
setzt Ralph Sun mit seinem Regiearbeiten Maßstäbe für das moderne
Varieté. Seine New-Burlesque-Show „Miss Evi’s Club“ wurde zunächst in
adaptierter Form nach Berlin gebracht, nun ist sie mit dem Original-Cast
in Apollo in Düsseldorf zu sehen. Auch die Sarrasani-Dinnershow „Trocadero“
im Winter will nun offenbar dem ironischen Striptease frönen – Belege
für Suns Einfluss auf das Genre gibt es noch mehr. Mit den
"Morgensternen" haben die Friedrichsbau-Verantwortlichen wieder einmal
etwas gewagt: gesungene und gesprochene Christian-Morgenstern-Gedichte
und andere Texte der komischen Lyrik, vorgetragen in drei Bühnenbildern
im Bauhaus-Stil, bilden den Rahmen der Show. Jawohl, drei völlig
verschiedene Bühnenbilder in einer Inszenierung in drei Akten à gut 30
Minuten, mit zwei 15-minütigen Pausen dazwischen – das ist schon ein
Experiment. Im ersten Teil der Show ist auf der linken Seite der Bühne
ein Turm aus bunten Würfeln gebaut, im zweiten Drittel formen sich vor
einem großen Pendel weiße Stangen oder Seile zu Vorhängen in
Dreiecks-Formen, im letzten Teil bilden dann verschiedenfarbige Kreise,
ein stilisierter Kopf und ein pendelnder Balken den Hintergrund der
Show. Lichteffekte, Projektionen oder ein extra abgestimmtes
Klangkonzept, umgesetzt vom vierköpfigen Orchester, sind die weiteren
Bestandteile des Gesamtwerkes.
  
Palma Kunkel
Durch die Show führt
Palma Kunkel, wie sich die Entertainerin Annika Krump nach einer
Morgenstern-Figur auf der Bühne nennt. Sie spielt auf der singenden Säge
und der „Ätherwellengeige“ – dem einzigen „berührungsfreien“
Musikinstrument –, sie rezitiert und singt Morgenstern und
Seelenverwandte. Sie trägt eine satirische Zeitungsanzeige vor, in der
Morgenstern jedermann die Anschaffung eines künstlichen Kopfes empfahl.
Und führt einen aberwitzigen Dialog mit der Schecke „Helix“, deren
Mutter sich nicht zwischen Helga und Felix als Namensgebung entscheiden
konnte.
  
Kaatie Akstinat, Carré
Curieux, Duo Nostalgia
So ganz klar ist
nicht, ob die Zusammenstellung des artistischen Teils nun Konzept oder
Zufall ist: Zwei Luftnummern am Beginn und am Ende der Show rahmen die
weiteren Darbietungen ein, welche allesamt der Jonglage zuzuordnen sind.
Trotz der eingeschränkten Genre-Vielfalt zeichnen sich alle Nummern
durch hohe Qualität aus. Den Auftakt macht das Duo Nostalgia am
Doppeltrapez mit seiner sinnlichen Kür voller Schwierigkeitsgrade.
Besonders faszinierend ist, diese Darbietung, die 2008 im Grand
Chapiteau des Schweizer Nationalcircus Knie zu bewundern war, nun
inmitten der Friedrichsbau-Rotunde einmal aus nächster Nähe zu sehen. –
Für Nervenkitzel der besonderen Art sorgt eben diese Nähe dann bei der
zweiten Luftnummer, wenn das freie Ende des Vertikalseils von Kaatie
Akstinat immer wieder dicht an den Köpfen des umsitzenden Publikums
vorbeischnalzt und die Gläser auf den Tischen nur knapp verfehlt –
Varieté hautnah. Die Artistin zeigt, beginnend mit einem Abfaller und
später in tänzerisch-kontorsionistischen Posen ins Seil geschmiegt, eine
der überzeugendsten Varianten des Genres. Die erste Jonglierdarbietung
des Abends zeigten Luca Aeschlimann und Vladimir Couprie aus der Truppe
„Carré Curieux“, Teilnehmer des Cirque de Demain in Paris 2008, mit
ihrer feinsinnigen Kombination von Balljonglage und Diabolospiel, die
möglicherweise auch ein Rollenspiel Nervenarzt – Patient darstellt.
  
Nataliya Egorova, Jochen
Schell
Mit den Füßen
jongliert dagegen Nataliya Egorova, und zwar – passend zum Bühnenbild im
zweiten Show-Drittel – „Geometrisches“, sprich Würfel, Quadrat und
Doppelkegel, die aus Röhren geformt sind. Am Ende hält sie mit Händen
und Füßen alle drei Requisiten in der Luft. Nach knapp drei Jahren ist
zudem Avantgarde-Jongleur Jochen Schell zurück im Friedrichsbau – zum
einen mit seiner tänzerisch geprägten Ring-Jonglage, zum anderen mit der
faszinierenden Darbietung, bei der er seine Kreisel unter anderem auch
auf einer in verschiedenste Posen verdrehten Jalousie kreisen lässt.
Drittens präsentiert Schell eine Art Tanz, bei der zwölf an Armen,
Beinen und Rumpf befestigte Stöcke sich zu immer neuen Bildern formen. |