CHPITEAU.DE

Friedrichsbau-Varieté - Metropolitan
www.friedrichsbau.de - 59 Showfotos

Stuttgart, 15. Februar 2013: „Heute wollen wir uns nur amüsieren und an nichts anderes denken“, rief Geschäftsführerin Gabriele Frenzel ins Publikum, ehe sich der Vorhang zur Premiere der neuen Show „Metropolitan“ im Friedrichsbau öffnete. Eine besondere Premiere, denn es war die erste nach der Ankündigung der L-Bank, ihr Sponsoring des Theaters in ihrem eigenen Gebäude einzustellen. Nun muss sich weisen, ob Stuttgart Metropole genug ist, um weiterhin über ein Varieté der Sonderklasse im Herzen der Stadt zu verfügen. „Metropolitan“ wirft derweil einen Blick auf großstädtisches Leben.

„The Urban Artistic Show“, so der Untertitel des Programms, lädt das Publikum zu einem Streifzug durch eine imaginäre Großstadt, in der außergewöhnliche Menschen aufeinander treffen. Regisseur Ralph Sun hat hierzu keinen durchgehenden Handlungsstrang kreiert, sondern eine Abfolge von „Shortcuts“, Kurzgeschichten, die durch klare Schnitte voneinander abgesetzt sind. Beim Bühnenbild wurde davon abgesehen, zum Beispiel eine reale „Wolkenkratzerkulisse“ zu bauen. Vielmehr bleibt die Bühne diesmal völlig schwarz, nur der Flügel von Pianist und Sänger Mr. Leu steht am linken Bühnenrand. Stattdessen werden wechselnde Stimmungen aus Licht geschaffen, fast durchgehend in eher düsteren Farben. „Metropolitan“ widersteht dabei der Gefahr, ins Unterkühlte abzugleiten.


Mr. Leu, Michael Clifton, Margot Marcadé

Auch wenn diese Show einen edlen, modernen Look hat, bleibt sie ein Abend der großen Gefühle. Großen Anteil daran haben die fünf Musiker des Friedrichsbau-Orchesters, welche die komplette Vorstellung live begleiten – und natürlich Mr. Leu. Gemeinsam mit seiner Bühnenpartnerin und Ehefrau Evi Niessner war er in den vergangenen fünf Jahren dreimal im Friedrichsbau zu Gast. Stets war sie es, die dabei im Vordergrund stand, die (auch) von ihrem Mann ins rechte Licht gerückt wurde. Nun hat Mr. Leu erstmals im Friedrichsbau die Gelegenheit, selbst als Hauptakteur alle Facetten seines musikalischen, gesanglichen und darstellerischen Könnens zu zeigen. Und er tut dies mehr als überzeugend, insbesondere mit vielen Songs aus dem Repertoire von Blues-, Jazz- und Folk-Sänger Tom Waits. Außerdem rezitiert er immer wieder Zeilen eines Gedichts. Weiterer musikalischer Akteur ist zudem Michael Clifton, der 2011 bereits in „Youkali“ auf dieser Bühne zu Gast war, mit seinen absurden musikalischen Beiträgen. Unter anderem spielt er auf sich selbst die „Body Drums“ oder bringt die Speichen eines rotierenden Fahrradreifens zum Klingen. „Metropolitan“ ist gleichermaßen ein artistischer wie ein musikalischer Abend.

 
Lea Hinz, Mathieu Bolillo, Margot Marcadé und Mr. Leu

Verkehrslärm, das Wort „Großstadt“ in verschiedenen Sprachen und Kommentare zum urbanen Leben tönen zum Beginn der Show aus dem Off, ehe das Ensemble durch den Zuschauerraum auf die Bühne zieht. „Clap Hands“ fordern die Artisten die Besucher auf, und das tun diese an diesem Abend reichlich. Für die Show wurden fast durchweg innovative artistische Darbietungen ausgewählt, die sich durch „das gewisse Etwas“ auszeichnen. Eine von ihnen zeigt Robert James Webber, Absolvent der Circusschule von Montréal 2010, mit einer außergewöhnlichen Jonglage mit lediglich zwei Requisiten, einem Hut und einem Besen. Eingebettet in einen Tanz lässt Webber den rotierenden Besen in vielfältigen Varianten über den Körper kreisen und fliegen, fängt ihn mit dem Fuß und kickt ihn wieder in die Luft, wobei der Hut ständig in dieses Spiel integriert ist. Mr. Leu interpretiert dazu am Piano Waits’ „Invitation to the Blues“. Die 23-jährige Berlinerin Lea Hinz, ehemaliges Mitglied der deutschen Nationalmannschaft in der Rhythmischen Sportgymnastik, präsentiert am Luftring eine in diesem weit verbreiteten Genre künstlerisch wie artistisch herausragende Darbietung mit Umschwüngen, Genickhang und dynamischen Posenwechseln am rotierenden Requisit. Ihr zweiter Auftritt nach der Pause kombiniert zum Song „Shadow“ Equilibristik, Kontorsion und Tanz mit einem perfekt auf das Bühnengeschehen abgestimmten Video, das ein Schattenspiel der Künstlerin selbst zeigt – Realität und Fiktion verschmelzen hier zu einem wunderbaren Ganzen. Mathieu Bolillo, ehemals Artist in der Soleil-Show „Ka“, hat für seine Darbietung „CirKolution II“ ein ganz außergewöhnliches Requisit entwickelt. Auf einen Metallreifen als „Bodenplatte“ sind im rechten Winkel zwei halbrunde Bögen montiert. So kann Bolillo auf dem Metallgestell nicht nur Handstände drücken, sondern dies auch in der Art eines Cyrrads kreisen lassen. Margot Marcadé, die in der Musikantenstadel-Parodie „Servus, Grüezi und Hallo“ im Friedrichsbau auf Maßkrügen balancierte, ist nun in einer äußerst sinnlichen Darbietung direkt auf Mr. Leus Piano mit ihren Fähigkeiten als Equilibristin zu sehen.


Richard Cameron Morneau, Charlotte de la Bretèque

Die wunderbare Charlotte de la Bretèque, bekannt zum Beispiel vom European Youth Circus und vom Schweizer Circus Monti, demonstriert hier ihre innovative Darbietung an einem Teppich aus Seilen, der es ermöglicht, Tricks aus verschiedenen Disziplinen – wie Handstand, Strapaten, Chinesischer Mast – in einer Nummer zu kombinieren. Richard Cameron Morneau zeigt als Schlussnummer an seiner doppelten, kreisenden Strickleiter Genickhang, Spagat, kraftvolle Posen sowie blitzschnelle Positionswechsel und Schwünge von einer Sprosse zur nächsten.

Das Friedrichsbau-Varieté präsentiert sich mit einer vollständig thematisierten, emotional mitreißenden Show, die von hochinteressanten, innovativen artistischen Nummern wie der exquisiten musikalischen Umsetzung gleichermaßen lebt, auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens – und dies im Moment der existenziellen Krise, in welcher die Kündigung des Hauptsponsors alles in Frage stellt. Es ist schon überraschend, dass die L-Bank, in deren Untergeschoss das Varieté beherbergt ist, nicht mehr länger von dem Glanz profitieren will, den dieses großartige Theaterhaus auf sie wirft.

__________________________________________________________________________
Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber