Unter dem Motto „Grammophobia“
wird auf einer Art Dachboden gespielt, einer Szenerie voller Kisten,
Gerümpel und Möbelstücke. Hinzu kommt ein Grammofon. Als es zu Beginn
der Show zum ersten Mal erklingt, tauchen überall zwischen den
verstaubten Möbeln die Artisten auf und spornen sich gegenseitig zu
artistischen Leistungen an. Sie merken erst im Laufe der Zeit, dass das
unheimliche Grammofon stets die erste Geige spielen möchte und dringend
gebändigt werden muss. Viele verschiedene Platten werden auf das
nostalgische Gerät gelegt, und so zeichnet sich die Inszenierung durch
musikalische Vielfalt aus. Leider ist die erste Programmhälfte mit allzu
viel Rahmenhandlung und Tanz – bei aller Sympathie für „Cirque Nouveau“
– eindeutig überchoreographiert und damit reichlich anstrengend.
Lediglich drei Darbietungen verteilen sich auf eine Dreiviertelstunde
Programm. Wozu man gerechterweise sagen muss, dass verletzungsbedingt
leider eine Nummer fehlt. Viel mehr Spaß macht dagegen die zweite Hälfte
der Show mit vier artistischen Nummern und wesentlich strafferer
Inszenierung.

Sebastian Stamm
Für den Auftakt sorgt
Sebastian Stamm. Er ist ein Sonderfall im Ensemble. Schließlich ist er
kein klassischer Absolvent, der in Berlin schulische und artistische
Ausbildung kombiniert hat. Nein, Sebastian Stamm ist bereits 29 Jahre
alt, war vor vier Jahren Halbfinalist bei „Deutschland sucht den
Superstar“ auf RTL und wurde zwei Jahre später Deutscher Meister im
Poledance. An der Berliner Artistenschule absolvierte er jetzt ein
Gaststipendium. Seine Arbeit am Chinesischen Mast kombiniert er mit
Breakdance-Elementen – einer Disziplin, in der der schon an
Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Besonders spektakulär ist sein
Vorwärtssalto, nach dem er sich wieder am Mast fängt. Wenn er am Ende
seiner kraftvollen Nummer kopfüber am Mast nach unten saust und nur
knapp über dem Boden stoppt, horcht das Publikum auf. So war es
jedenfalls in der
Vorstellung der Absolventenshow im Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté,
die wir besucht haben.
  
Three
Funky Monkeys, Mario und Joschka
Zweite Vertreter des
Mast-Genres sind die „Three Funky Monkeys“, drei Artisten mit
vietnamesischem, deutschem und brasilianischem Hintergrund, die alle in
Berlin geboren und aufgewachsen sind. Toan Le, Ferenc Heinrich und Milu
Chuh blicken dabei jedoch auf unterschiedliche Erfahrungen in Breakdance,
Sportakrobatik und Circus zurück. Ferenc Heinrich ist übrigens ein Enkel
der bekannten Raubtierlehrerin Christiane Samel, auch seine Eltern waren
Tierlehrer. Die drei Mast-Artisten traten international auf und haben
erfolgreich an Festivals und Meisterschaften teilgenommen. An der
Berliner Artistenschule kreierten sie ihre Nummer als Trio. Gemeinsam
und im Wechsel wird hier am Mast gearbeitet. Besonders originell: Toan
Le klettert am Mast empor, während Milu Chuh auf seinem Kopf sitzt und
die Füße auf den Schultern des Untermannes abstellt. Sehr
erfreulich ist, dass der aktuelle Jahrgang der Berliner Artistenschule
nicht nur Solisten hervorgebracht hat. Von einer großen, klassischen
Schleuderbretttruppe, wie sie in der Rahmenhandlung dieser
Absolventenshow kurz persifliert wird, sind wir leider immer noch entfernt.
Immerhin gibt es aber das Mast-Trio und darüber hinaus ein Duo zu sehen.
Mario Kunzi und Joschka Schneider zeigen eine heitere Partnerakrobatik
mit vielen Hand-auf-Hand-Elementen, darunter auch Einarmer.

Anissa Elakel
Bei der
Absolventenshow vor zwei Jahren machte Andalousi Elakel mit seiner
Handstandakrobatik auf einem Sessel auf sich aufmerksam und hat sich
seitdem mit guten Engagements behauptet. Nun bekommt er sozusagen Konkurrenz aus der
eigenen Familie, denn seine Schwester Anissa hat ebenfalls die
Artistenschule abgeschlossen und ebenso eine Handstandnummer auf einem
Sitzmöbel kreiert. Auf Andalousis Sessel folgt nun der Zweisitzer,
zwischen dessen Lehnen Anissa auch einen Spagat zeigt. Bei ihrem
Auftritt in hochhackigen, schwarzen Pumps setzt sie auf eine
sinnlich-erotische Aufmachung.
 
Mia Mattenklott, Donial Kalex, Nico
Leist
Gute Laune auf dem
Schlappseil demonstriert Nico Leist. Das Publikum ist schnell begeistert
von der Nummer, in der zum Beispiel Keulenjonglagen, Schulterstand,
Einradfahrt und Handstand auf dem schwankenden Seil präsentiert werden.
Nachdem sich Trapezartist Moritz Haase leider schon am Tourneebeginn in
Berlin einen Fuß gebrochen hat, muss die gesamte Absolventen-Tournee
ohne ihn stattfinden. Die einzige Luftdarbietung steuert daher nun Mia
Mattenklott bei. An den Strapaten zeigt sie unter anderem den
freihändigen Spagat zwischen den Zwillingsschlaufen und vier Überschläge
in Folge. So etwas wie der Paradiesvogel der Truppe ist diesmal Donial
Kalex mit seiner lila gefärbten Mähne und Ziegenbart. Freilich fällt er
nicht nur durch sein Styling auf, sondern jongliert vielmehr gekonnt
Bälle mit Händen und Füßen.

Ensemble
Die
Absolventenshow der Berliner Artistenschule hat in diesem Sommer fast 30
Spielporte auf dem Tourneeplan. Es ist schon eine bemerkenswerte
Leistung, wie es den beiden Organisatoren Maik M. Paulsen und Jan van
Aubel mit ihrem „Wundercircus – Büro für Varietékünste“ gelungen ist,
dieses Veranstaltungskonzept so erfolgreich am Markt zu etablieren. Die
Grundidee ist seit dem Start 2005 die gleiche: Alle frisch gebackenen
staatlich geprüften Artisten können sich im Rahmen der Tournee
bundesweit einem großen Publikum sowie Agenten und Direktionen aus dem
Circus- und Varietébereich präsentieren und dabei Berufserfahrung
sammeln. 2005 war Paulsen selbst noch einer der Absolventen, damals als
Jongleur. Van Aubel kam 2007 hinzu. Die beiden umtriebigen Tourmanager
haben wieder für eine professionelle Website mit hochklassigen
Fotografien gesorgt. Im gleichen Design steht auch ein gedrucktes
Programmheft zur Verfügung. Und für die Regie und Choreographie wurde
mit Philipp Boë erneut ein renommierter Regisseur gewonnen, auch wenn wir
uns – wie gesagt – in der ersten Programmhälfte weniger Inszenierung und
mehr Artistik gewünscht hätten. |