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Wintergarten - Tiger Lillies Freakshow
www.wintergartenberlin.de

Berlin, 27. September 2010: „The Tiger Lillies Freakshow“ lässt im Berliner Wintergarten-Varieté vier Wochen lang die Zeit der Freakshow wieder aufleben – jene Zeit im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als auf den Jahrmärkten, besonders in Amerika, scheinbar abnorme Menschen einem staunenden Publikum präsentiert wurden. All die Klassiker des Genres sind vertreten: der Mann mit sechs Armen, die Kleinwüchsigen, die siamesischen Zwillinge, die Frau mit den längsten Haaren und viele andere mehr. Und stellen dem Publikum die Frage: Wer sind hier eigentlich die Freaks, ihr oder wir?

Zwischen der vergangenen Eigenproduktion „Made in Berlin“ und der kommenden Show „Mark Scheibes wilde Bühne“ (ab 29. Oktober) hat der Wintergarten für vier Wochen die britische Band „The Tiger Lillies“ mit ihrer „Freakshow“ verpflichtet. Die Produktion des Badminton Theaters Athen unter der Regie von Sebastiano Toma ist kein Varietéprogramm im engeren Sinne. Vielmehr wird hier ein Konzeptalbum der Band auf der Bühne szenisch umgesetzt. Für solche Konzeptalben, die sich zum Teil literarischen Vorlagen wie dem Struwwelpeter oder dem Mädchen mit dem Schwefelhölzern, zum Teil Themen wie dem Circusleben oder „Liebe und Krieg“ widmen, sind die drei Grammy-nominierten Musiker bekannt. Düstere Sujets von Prostitution bis Mord, derer sich mit ironischer Distanz angenähert wird, kennzeichnen die Arbeit der Band, die stets mit grell geschminkten Gesichtern auftritt und deren Musik als Brecht’sches Zigeuner-Kabarett bezeichnet wird. 2009 befassten sie sich in einem ihrer jüngsten Alben mit der Geschichte der Freakshows. Kopf der Band, Komponist und Texter, ist Martyn Jacques, dessen eigentümlich hoher Falsett-Gesang den Sound der Band prägt, während er sich gleichzeitig an Akkordeon, Ukulele oder Piano begleitet. Adrian Stout spielt Bass, Singende Säge und das berührungsfrei zu nutzende „Theremin“, Adrian Huge Schlagzeug und Percussion. Während die Artisten und Darsteller der Freakshow auftreten, besingt Martyn Jacques als eine Art Moritatensänger mit schauerlich-poetischen Texten, durchweg in englischer Sprache, deren bittersüße Schicksale und außerordentliche Talente; gesprochen wird dagegen in der gesamten Show kein Wort. Die Kulisse besteht aus nostalgisch anmutenden, hölzernen Circuswagen. Der größte von ihnen steht senkrecht und lässt sich drehen, so dass an seiner Rückseite der Riese mit sechs Armen erscheinen kann, eine große Marionette; ebenso kann dieser Circuswagen geöffnet werden und bietet dann Einblick in ein Wohnhaus.


Adrian Stout, Duo Elja, Martyn Jacques

Im artistischen Bereich bietet die Show gleich zu Beginn die leistungsstarke Arbeit der Kontorsionistin Alba, die ihren Körper nicht nur nach hinten, sondern auch zur Seite in beeindruckender Weise verbiegen kann und dabei als „Schlangenfrau“ besungen wird. Mit bis zu fünf Hüten jongliert Lorenzo Mastropietro, der im Übrigen auch schon im Programm „Nostalgia“ des Stuttgarter Friedrichsbau-Varietés mitgewirkt hat. Selbiges widmete sich Anfang des Jahres in ähnlicher Konzeption der „Sideshow“-Thematik, vielleicht ja sogar von der „Tiger Lillies Freakshow“ inspiriert. Das Duo Elja alias die Zwillingsschwestern Ele und Julia Janke schließlich sorgt als Schlussnummer mit seiner Trapezdarbietung für den artistischen Höhepunkt des Abends. Während ihres Auftritts werden schwierige Einzeltricks vom Publikum stürmisch beklatscht, zurück am Boden ernten die Schwestern nochmals Riesenbeifall. Zuvor waren die Jankes im Programm als „siamesische Zwillinge“ zu sehen, durch zwei zusammengenähte Kleider fest aneinander gebunden („My whole life was a disaster“), später mit dem Schwert wieder zu getrennten Individuen geteilt. Ele Janke gibt im Verlauf des Programms, barbusig übrigens, auch „die Frau mit den längsten Haaren der Welt“. Weitere Figuren, die von den Tiger Lillies besungen werden, sind der „Money Man“, der nie genug bekommen kann, oder auch der „Deathless Man“, der vom Verkehrsunfall über die Krebserkrankung bis zum Mord auf mysteriöse Weise alle Schicksalsschläge überlebt. Kiki Nikolaidou gibt die „Frau mit den drei Herzen“ und das kleinwüchsige Ehepaar Rolando und Irene Hofer ist als Zwergenduo omnipräsent auf der Bühne. Zum Schluss der Show tanzen die anderen anderen Akteure auf Knien, begeben sich auf Augenhöhe mit den Zwergen – wer sind denn nun die Freaks, ihr, wir?

„The Tiger Lillies Freakshow“, nur noch bis zum 23. Oktober im Wintergarten zu erleben, dann vom 25. November bis 31. Dezember zu Gast in Salzburg, bietet zwischen Melancholie und rauem Humor das stimmige Bild einer fast vergessenen Jahrmarktstradition.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber, Tassos Vrettos (oben)