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Friedrichsbau-Varieté - Excentrique
www.friedrichsbau.de

Stuttgart, 22. April 2010: Sie begann als Straßensängerin und wurde als „Spatz von Paris“ weltberühmt: Edith Piaf, Königin des Chansons und tragische Figur in einer Person. In „Excentrique – Das geheime Leben der Edith Piaf“ im Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté zeigt Regisseur Ralph Sun die Piaf auf dem Gipfel des Ruhmes, aber vor allem in ihren Abgründen und Abstürzen. Ein musikalischer Abend im Strudel der Gefühle – durchsetzt mit artistischen und pantomimischen Darbietungen, die sich gut in die Färbung dieser Revue einfügen. Sängerin Evi Niessner lebt Edith Piaf, unterstützt von ihrem Partner Mr. Leu und dem Varieté-Orchester.

In kurzen Szenen mit wenigen Worten, mit ganz wenigen Federstrichen, gelingt es, das Leben der Piaf in Grundzügen nachzuzeichnen. Der Vater war Kontorsionist im Wandercircus, die Mutter Kaffeehaussängerin; Piafs Kindheit wurde geprägt von Hunger, dem Alkoholismus des Vaters, der Gewalttätigkeit des Millieus, in dem sie aufwuchs. Mit 15 Jahren schlägt sie sich allein als Straßensängerin durch Paris und wird von dem Kabarettbesitzer Louis Lepplé entdeckt. Er gibt Edith Giovanna Gassion den Namen, unter dem sie bekannt wird (La mome Piaf – Kleiner Spatz), und wird später ermordet. Regisseur Ralph Sun zeigt nach intensiven Studien ihrer Biographie Piafs Schmerz, ihre Melancholie und ihre Liebessehnsucht, ihre selbst erschaffenen Dramen, die sie hinter den Kulissen lebt. Und er zeigt ihren Triumph bei den ganz großen Auftritten. Die Töne eines sich einstimmenden Orchesters, eine große Ansage aus dem Off schaffen dazu die Konzerthausatmosphäre. Später dann der Tod ihrer großen Liebe, des Boxers Marcel Cerdan. Für Piaf ein Schicksalsschlag, von dem sie sich nie mehr erholt. "Wir brauchen noch Zeit, um etwas zu erleben, an das wir uns erinnern können", fleht sie zu Gott und singt "Mon dieu". Zahlreiche Liebschaften und mehrere Ehen, Medikamentensucht und Alkoholexzesse – das wahre Leben der Piaf war wohl noch drastischer und abgründiger, als es die Show „Excentrique“ vermuten lässt, als es eine Unterhaltungsshow zeigen kann. Zu Beginn sehen wir Edith Piaf auf dem Sterbebett. „Nein, es tut mir nicht leid“, sagt sie und schaut zurück auf ihr Leben. Vor dem Finale wieder das Sterbebett, nun bis zu ihrem letzten Atemzug.

 
Evi Niessner, Mr. Leu

Halbtransparente Raumteiler, die gedreht und verstellt werden können, ermöglichen schnelle Szenenwechsel, fast wie bei einer Drehbühne. Filme und Dias aus Piafs Leben, Überblendungen und projizierte Grafiken – geschaffen von der Berliner Projektionskünstlerin Yuti K. Feiler – schaffen authentische Szenerien von Pariser Straßenzügen bis zu verrauchten Kabaretts. Und in dieser Kulisse agieren Evi Niessner als Edith Piaf und ihr Partner Mr. Leu. Beide sind keine Unbekannten im Friedrichsbau, führten im Winter 2008/2009 bereits durch die Burlesque-Show „Miss Evi’s Club“. Niessner, ausgebildete Opernsängerin, hat sich bereits in anderen Theaterproduktionen und Soloprogrammen einen Namen als Piaf-Interpretin gemacht. Sie singt die Piaf nicht nur, sie lebt sie. Von den glücklichen Momenten bis zu den Zusammenbrüchen, so authentisch, dass man das Original vor sich glaubt. Sie habe bewusst keine Filme über die Piaf gesehen, sagte Niessner im Interview mit den Stuttgarter Zeitungen – aber die Musik, die der Piaf auf den Leib geschrieben wurde, habe etwas Physisches, das dazu zwinge, sich so zu bewegen. Mr. Leu agiert an Niessners Seite in unterschiedlichsten Rollen, von ihrem Entdecker Lepplé bis zum Komponisten Charles Dumont, treibt die Handlung voran, hält ihr als Hofnarr den Spiegel vor. Und zeigt an Piano und mit großartiger Stimme seine hervorragenden musikalischen Fähigkeiten. Alle großen Lieder der Piaf haben Platz in diesem Programm. „La vie en rose“, „Non, je ne regrette rien“, „Milord“ – letzteres ganz kurz, als Pausengag, auch in der jecken Textfassung vom „Roten Pferd“.

 
Erna Sommer, Mathias Romir, Benno und Johannes

Sorgfältig ausgewählt sind wiederum die artistischen Darbietungen, die sich bestens in die Färbung der Piaf-Show einfügen. Den Auftakt macht der Nürnberger Matthias Romir mit einer heiteren, außergewöhnlichen Jonglage mit drei Gegenständen: Hut, Brille und Ball. Mehrmals stehen Absolventen der Berliner Artistenschule auf der Bühne. Zu ihnen gehören Benno und Johannes mit ihrer sympathisch-furiosen Diabolojonglage. Auf dem Laufsteg mitten im Publikum lassen sie die goldfarbenen Diabolos, zum Teil samt Seilen und Stöcken fliegen. Ein ungeheuer dynamisches Bild und ein wenig Schrecken für die Besucher auf den direkt angrenzenden Plätzen. Die bezaubernd hübsche Erna Sommer zeigt am Trapez eine technisch anspruchsvolle Arbeit mit zarter Anmutung. Zu Klaviermusik und im langen, braunen Abendkleid hängt sie im Fers- oder Genickhang, zeigt diverse Umschwünge und pustet am Ende ganz sachte einen Papierschnipsel aus ihrer Hand.


Sarah Trägner, Yann und Geg, Jérome Murat

Drittens kommt auch die Schlappseilkünstlerin Sarah Trägner von der Berliner Artistenschule. Vom Kopfstand auf dem Boden, mit den Füßen im Seil eingehakt, wechselt sie zum Kopfstand auf dem Seil. Ebenfalls an Artistenschulen, allerdings in Frankreich und Kanada, wurden Yann und Greg ausgebildet. Ihre Darbietung über einen Schriftsteller, der mit seinem Gewissen in Gestalt eines Engels konfrontiert wird, ist doch reichlich verkopft, auch wenn sie einige feine Leistungen des Hand-auf-Hand-Genres beinhaltet. Die größte Überraschung war für uns, dass diese Bronze-Preisträger vom jüngsten „Cirque de Demain“ nun rasch in einem der renommiertesten Varietéhäuser arbeitet. Wir hätten der Nummer eher eine auf die französische „Cirque Nouveau“-Szene begrenzte Zukunft vorhergesagt. In den großen Häusern wie Lido und Crazy Horse zu Hause ist Jérome Murat, die lebende Statue mit zwei Köpfen. Der zweite Kopf, zunächst auf dem Arm getragen, schwebt später frei und wechselt dann seinen Platz mit dem Haupt der Statue. Eine Kombination aus Pantomime, Illusion und Poesie – ebenso wie Yann und Greg ein wenig zu „künstlerisch“ für den persönlichen Geschmack des Autors, mit allzu großem Deutungsspielraum.

In „Excentrique“ sind Mr. Leu und Evi Niessner, ihre Interpretation der Piaf und die Piaf-Chansons selbst die Hauptattraktion. Man verlässt den Friedrichsbau mit ihren Liedern auf den Lippen – und mit dem Wunsch, sich in Piafs Biographie zu stürzen, ihre Platten zu hören, sich noch intensiver mit ihr zu befassen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber