Damit tut Regisseur Ralph Sun das, was er in
ähnlicher Form bereits vor sieben Jahren mit seiner Show „Nostalgia“
gemacht hat: Er entwirft, jedenfalls fragmentarisch, das Bild eines
nostalgischen Circus, einer Manege früherer Zeit. Die Sideshow
inklusive. Doch während es 2010 noch ein aufwendiges Bühnenbild gab,
muss in dieser Spielzeit darauf verzichtet werden, abgesehen von
orangefarbenen Tafeln links und rechts. Dafür ist vor dem
Friedrichsbau ist ein „Circuszelt“ aufgebaut, das als Entree zum Theater
dient und aufs Kommende einstimmt. Natürlich waren wir besonders
gespannt, wie das Circus-Thema umgesetzt werden würde.
  
Silea, Merlin
Um es gleich vorweg zu sagen: Über drei Szenen
dieser Show haben wir uns sehr geärgert. Eine besteht daraus, dass
Artistin Silea Rasierklingen verspeist und diese, aufgefädelt an einer
Schnur, wieder aus ihrem Mund zieht. Dazu tropfen größere Mengen
Kunstblut aus dem Mund auf ihr weißes Kleid. Das gab es schon in der
Produktion „Nostalgia“, in der Silea ebenfalls mitwirkte. Unwillig sehen
wir zu, der Applaus im Saal bleibt praktisch aus. Es bleibt das
Geheimnis der Regie, warum dies auch noch die Pausennummer sein muss.
Wütend macht die Episode, in der eine Stoffkatze durch einen Reifen
springen soll. Das scheinbar vor Angst zitternde „Tier“ wird zum
„Todessprung durch den Höllenring“ (Zitat) gezwungen und verliert dabei
den Schwanz. Die Mär von der Tierquälerei im Circus ist nicht lustig. Wer mit dem
guten Namen des Circus wirbt, muss diesen nicht in den Schmutz ziehen.
Ungläubig verfolgen wir auch einen der Auftritte von Weißclown Merlin,
besser bekannt als Ferkel Johnson.
Er fragt einen Zuschauer in der ersten Reihe nach Vorname und
Geburtsjahr. Und schreibt beides auf einen Grabstein, ergänzt um die
Jahreszahl 2017. Der Gast wird mit der Möglichkeit des eigenen Todes
noch im gleichen Jahr konfrontiert. Er soll ein einziges Wort nennen,
das sein bisheriges Leben beschreiben, zusammenfassen könnte. Doch der
Gast weigert sich an diesem Abend. Wir verstehen ihn gut. Niemand soll
in einer Unterhaltungsshow mit der Option des baldigen Ablebens
konfrontiert werden. Auch wenn Merlin für diese geschmacklose Übung laut
Medienberichten bewusst nur jüngere Zuschauer wählt.
  
Ruslan
Sementsov, Olga Golubeva, Jacopo Candeloro
Wenn man diese Szenen striche, bliebe ein schönes,
durchweg unterhaltsames Programm übrig. Es beginnt mit Olga Golubeva und
ihrer Akrobatik am Flying Pole. Ihr frei schwingend aufgehängter Mast
ist wie eine Straßenlaterne gestaltet. Sie zeigt daran kraftvolle Posen,
überraschende Abfaller und kreiselt wie in einem Karussell am
rotierenden Requisit. Der Auftritt ist der Vorstellung wie ein Prolog
vorangestellt. Erst danach zieht das Ensemble in einer Parade in den
Varietésaal ein. Merlin, in der Art eines Rekommendeurs, verspricht eine
Show „so großartig, dass Ihnen die Ohren schlackern werden.“ Heiter geht
es los mit dem Duo „Circus Follies“ aus Italien. Jacopo Candeloro
jongliert im nostalgischen Karo-Outfit mit drei Keulen und bis zu vier
Zylindern. Dabei wird er von seiner Frau Flor Luludi augenzwinkernd ums Jackett erleichtert. Ganz ernsthaft geht es dagegen zu, wenn
Ruslan Sementsov seine kraftvollen Runden im Cyrrad dreht. Die Maskerade
mit schwarz lackierten Fuß- und Fingernägeln sowie geschminkter
Teufelsfratze wäre verzichtbar.
  
Denis Klopov, Dan Marques,
Silea
Zu den schönsten Nummern des Abends gehört der
Auftritt von Dan Marques. Nach Belieben lässt er die Knöpfe an seinem
Kostüm erscheinen, die Position wechseln, verschwinden und auf
riesenhafte Größe wachsen. Eine charmante Illusionsnummer zum
Schmunzeln. Dass Silea das Kunstblutspucken und ihre „Raubtierdressur“
nicht nötig hätte, zeigen ihre weiteren Auftritte. Dabei erweist sie
sich als hervorragende Akrobatin, die an der Berliner Artistenschule
ausgebildet wurde. Originell sind ihre Balancen auf frei stehenden
Flaschen. Sie dreht sich, mit einem Fuß auf einem Fläschchen stehend,
einmal um die eigene Achse. Und sie erklimmt erfolgreich eine „Treppe“
aus unterschiedlich hohen Flaschen. Ein Mitspieler aus dem Publikum
stellt die Flaschen auf. Charmant plaudert Silea mit französischem
Akzent mit dem Gast. Außergewöhnlich und stark ist die Darbietung von
Denis Klopov. Er lässt Bälle auf den Spitzen von kleinen und großen
Schirmen kreiseln. Wirklich originell sein Schlusstrick. Insgesamt zwölf
Bälle drehen sich hier auf seinen Fingern sowie auf Mini-Schirmen, die
er an den Schuhspitzen, am Körper und an einem mit den Zähnen gehaltenen
Gestell befestigt hat.

Tito
Medina und Eduardo Lamberti
In der Pause wird auf der Bühne der gewaltige
Apparat für die Fangstuhlnummer von Tito Medina und Eduardo Lamberti
aufgebaut. Sie produzieren sich mit Genickhangwirbel, Salto und
Blindsprung sowie haarsträubenden Gags wie einem Scheinsturz am
Gummiband. Die Mischung aus Comedy und Akrobatik bekommt verdientermaßen
den größten Applaus des Abends. Gute Laune macht auch der zweite
Auftritt von „Circus Follies“. Nun zeigen sie eine Passingjonglage mit
sieben Keulen. Er balanciert dabei auf einer großen Kugel, sie auf einem
Einrad. Merlin alias Ferkel Johnson stand bereits im Herbst 2016 auf der Bühne des
Friedrichsbaus. Nun zeigt er als Weißclown neue Facetten seines Könnens.
Außer in der missglückten Grabstein-Szene weiß er wieder mit seiner
Mischung aus Poesie und Provokation, Witz und Melancholie zu gefallen.
Am allermeisten in seinem ergreifenden Gedicht auf den Circus.
  
Lucky
Hell, Silea, Nanou
Ihre Kunst auf dem Drahtseil zeigt Silea unter
anderem beim Aufstehen aus der Hocke, beim Gleiten in den Spagat und bei
gewagten Sprüngen. Schwertschluckerin Lucky Hell präsentiert sich als
über und über tätowiertes Pin-up-Girl. Lasziv im Burlesque-Stil schluckt
die kurvige Blondine im knappen Outfit lange und gewellte Schwerter und
als Spitzentrick gar zwei Schwerter auf einmal. Seriös und elegant
dagegen agiert Nanou bei ihren Handständen. Als Schlussnummer zelebriert
sie diese inmitten des Publikums auf der kleinen Mittelbühne. Diese Nähe
von Zuschauer und Geschehen ist ein wichtiger Teil der Zauberwelt
Zirkus. In ihrer Bühnen-Version wird sie im Finale mit anhaltendem
Applaus bedacht. |