Rund 25 Gastspiele in ganz Deutschland standen auf
dem Tourneeplan, mehr als in allen bisherigen Jahren. Die erste Station
im Juni und die letzte am 23. September waren bzw. sind das
Wintergarten-Varieté in Berlin. Dazwischen wurden zum Beispiel die
Häuser der GOP-Gruppe, kommunale Kulturzentren, mehrere
Freilicht-Festivals und wie in jedem Jahr das Friedrichsbau-Varieté
Stuttgart besucht. Letzteres wird erst am 4. Dezember
seine neue Spielstätte auf dem Stuttgarter Pragsattel beziehen und
verfügt aktuell über keine eigene Bühne. Also war man mit der
Absolventenshow heuer im Theaterhaus Stuttgart zu Gast. Es liegt
unmittelbar neben der Baustelle für das neue Varietégebäude. Das
Theaterhaus – eine ehemalige Industriehalle – beherbergt vier
Theatersäle, so dass meist mehrere Veranstaltungen parallel stattfinden.
Mit dem künftigen Nachbarn Friedrichsbau entsteht so etwas wie eine
kleine Kulturmeile. Eine Frontalbühne und 420 Plätze auf steil
ansteigenden Rängen bot der Saal im Theaterhaus, der mit seinem kühlen,
sachlichen Interieur die Geschichte als ehemalige industrielle
Produktionsstätte gar nicht leugnet. Damit war aber auch der perfekte
Rahmen für die diesjährige Absolventenshow gefunden. Unter der Regie von
Maximilian Rambaek wird hier erzählt, wie die jungen Artisten nicht
länger normiert und das Produkt anderer sein wollen. Vielmehr suchen sie
einen Weg, ihren Emotionen als Künstler Ausdruck zu verleihen. Während
sie in der ersten Spielszene noch als Marionetten agieren, befreien sie
sich bis zum Finale aus allen Zwängen und tanzen letztlich wild in
Disco-Outfits der 1980er Jahre.
  
Jakob Vonau, Oscar Kaufmann, Nathalie
Wecker
Jakob Vonau hat
sich – immer noch eher ungewöhnlich für einen Mann – das Vertikalseil
als Requisit ausgesucht. Er beginnt seine kraftstrotzende, maskuline
Arbeit gleich mit dem Genickhang in einer Seilschlaufe und endet mit
einem Vorwärtssalto als Abgang. Die Erfolgsgeschichte des Cyr-Rades im
modernen Circus macht auch vor der Berliner Artistenschule nicht halt.
Oscar Kaufmann hält sich bei seinen Drehungen und Wendungen, bei denen
er in dem Reifen steht, mal nur mit dem Kopf, mal nur mit einer Hand.
Dann kreiselt er freihändig. Riesenapplaus ist der Lohn der Mühen. Die
ehemalige Leistungsturnerin Nathalie Wecker hält bei ihren eleganten
Handständen auf einem und zwei Armen einen Ball zwischen den Füßen, in
den Kniebeugen oder zwischen Fuß und Schienbein. So wird dem
Handstand-Genre eine andere Facette abgewonnen.
  
Marc Dorffner, Fine Zintel,
Mario Espanol
Leider arbeiten
wieder einmal die meisten Artisten in dieser Absolventenshow in einem
introvertierten, eher schwermütigen Stil. Haben die jungen Menschen um
die 20 wirklich schon so viel Leid erlebt, dass sie es in leicht
depressiven Bühnenperformances ausdrücken müssen? Da setzt der
21-jährige Wiener Marc Dorffner auf erfreuliche Weise einen krassen
Kontrapunkt. Bei seinen Jonglagen (sieben Ringe, fünf Keulen), die er
mit Balancen auf freistehenden Leitern kombiniert, lacht und strahlt er,
sucht offensiv den Kontakt zum Publikum, feiert Gelungenes mit lauten
Anfeierungsrufen selbst. Eine Darbietung im klassischen Circusstil, die auch
schon in mehreren Manegen – zum Beispiel dem vergangenen Berliner
Weihnachtscircus des Circus Voyage – zu sehen war. Auf diesen äußerst
positiven Eindruck folgt Stirnrunzeln, als Marc Dorffner vor der Pause
eine der zahlreichen Variationen über André Brogers Wischmopp-Reprise
zeigt. Kreativ ist das nicht, aber immerhin kommt es blendend an. Fine
Zintel beginnt ihre Trapeznummer im freihändigen Stand auf der Stange
und überzeugt später mit vielen schnellen, tempogeladenen
Positionswechseln. Für seine Kombination aus Handstandequilibristik und
Tanz, direkt auf dem Bühnenboden ohne Podium dargeboten, erntet Mario
Espanol gleich nach der Pause riesigen Applaus.
  
Duo Charisma, Finale, Nadja Hawranek
Besonders
erfreulich ist auch, dass die Artistenschule – neben den Solonummern –
in diesem Abschlussjahrgang auch wieder eine Duonummer hervorgebracht
hat, die zu den Highlights des Programms gehört. Malina Kraft und
Christian Möllerstern bilden das Duo Charisma. Dass die Dame zunächst
ein langes, weißes Tuch als Schleier trägt, hätte es zur Steigerung der
Dramatik gar nicht bedurft. Nachdem sie es abgelegt hat, können noch
riskantere Salti, Voltigen und Drehfiguren gezeigt werden. In einem
kurzen Zwischenspiel demonstrieren Jakob Vonau und Nathalie Wecker auch
ihr Können im Genre Hand-auf-Hand. Den Abschluss des Programms bildet
dann eine weitere Trapeznummer. Am so genannten Tanztrapez – einem
Solotrapez, das sich um die eigene Achse drehen kann – demonstriert
Nadja Hawranek tänzerisches Können und Beweglichkeit, zunächst zu sehr
sparsamer musikalischer Begleitung. Ihr Kreiseln in höchster
Geschwindigkeit sorgt für große Begeisterung im Publikum. |