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Friedrichsbau - "1925"
www.friedrichsbau.de - 97 Showfotos

Stuttgart, 15. November 2019: Ein goldenes Jahrzehnt. Eine kurze Moderne zwischen den Katastrophen zweier Weltkriege. Ein Tanz am Abgrund, zwischen Auf-, Um- und Zusammenbruch. Pulsierend und lebensfroh. Das waren die 1920er Jahre. In seiner Wintershow „1925 – Die 20er Jahre Revue“ lässt das Friedrichsbau-Varieté Stuttgart den Geist dieser Zeit wieder aufleben. Glücklicherweise nicht als Historienspiel. Sondern in einer festlich-glamourösen Show, in der Musik, Kostüme und Inszenierung ein Echo der damaligen Zeit sind. Und eben keine Kopie.

Regisseur Ralph Sun versammelt hierzu auf seiner Bühne ein 14-köpfiges Ensemble aus einem frivolen Zeremonienmeister, einer modernen Diva, einem eleganten Showballett und internationalen Akrobaten. Auffällig ist, wie die Artistik diesmal einen besonderen Fokus auf recht klassisch dargebotene Zirkusdisziplinen legt: auf Rola Rola und Tellerdrehen, Stuhlbalance, Fußballjonglage und Antipodenspiele. Cirque Nouveau ginge anders. Es ist offenbar kein Zufall, dass die 20er-Jahre-Show genau jetzt gezeigt wird. Denn der historische Stuttgarter Friedrichsbau, auf den sich das heutige Varieté beruft, feierte 1925 sein 25-jähriges Bestehen und befand sich in seiner Blütezeit. „Hier gaben sich die führenden Künstler die Klinke in die Hand“, formuliert Direktor Timo Steinhauer in seiner Premierenansprache. Vor wiederum 25 Jahren wurde die Friedrichsbau-Tradition an historischer Stelle wieder aufgenommen. Seit nunmehr fünf Jahren lebt sie im neuen Gebäude auf dem Pragsattel fort, nunmehr im nördlichen Teil der Landeshauptstadt. Diese Zahl stehe für Kontinuität und Zuverlässigkeit, der jetzige Standort sei zum Zuhause geworden, sagt Steinhauer.


Ferkel Johnson
 

Und so lädt Zeremonienmeister Ferkel Johnson gleich nach dem Opening mit Ballett und Gesang zu einer Reise ins Stuttgarter Nachtleben von 1925, zum Besuch in einem Theater, von dem man 100 Jahre später noch sprechen werde – dem Friedrichsbau. Später geht es ins Berliner Nightlife, wo illegale Clubs für nur einen Abend öffnen. Johnson spielt Ukulele und singt ironisch übers Menschsein („Anstand klingt wie eine Bürde, doch er gibt dem Menschen Würde“). Er gibt vollendet den Lebemann, den Mann von Welt, elegant und eloquent, aber auch schamlos und frech. Die Rolle ist für ihn maßgeschneidert. Bald setzt er in einem riskanten Wettspiel mit einem Premierengast seine Altersvorsorge aufs Spiel. Und stellt in seiner größten Szene die Frage, ob Freiheit für jeden erreichbar sei. Ja, sagt er, es brauche nur die Fähigkeit, sich aus jeder misslichen Lage zu befreien. Und die hat er. In kürzester Zeit entkommt er wieder, nachdem er mit Zwangsjacke und Kette scheinbar bombensicher fixiert wurde.


David Robert, Anna Cabaret, Martin Frenette
 

Freiheit bedeutet, keine Angst zu haben – das ist die Botschaft dieser Show. Und die 1920er Jahre bieten nach dem Wahnsinn des Ersten Weltkriegs eine Kostprobe dieser Freiheit. Für kurze Zeit ist es möglich, zu leben und zu lieben, wie man will. Und dies tut Sängerin Anna Cabaret gewiss. Sie zeigt sich verführerisch und selbstbewusst als moderne Diva. Singt inmitten der fünf schönen Damen des Balletts, die uns in ihren kostbaren Outfits die Modetänze dieses Jahrzehnt präsentieren, von One Step bis Charlston. Sie gibt kokett die „Cool cat in Town“, umringt von Männern. Und beeindruckt mit ihrer starken Stimme. Den ersten artistischen Act des Abends übernimmt David Robert. Bis zu acht Teller lässt der Italiener auf langen Stäben tanzen. Zwischendurch findet er auch noch Zeit für einige Gags. Martin Frenette präsentiert am Doppelschwungseil eine ruhige Arbeit zu Klaviermusik. Bei den Verstrickungen ins Seil, Spagat und Genickhang lässt er auch seine Ausbildung als Tänzer erkennen und beweist Beweglichkeit.


Iryna Bessonova, Andrey Shapin, David Robert 

Kurioserweise folgt die einzige weitere, zudem nicht unähnliche Luftnummer im Programm schon kurz darauf, nur durch Balletteinlage und Moderation getrennt. Die ehemalige Sportakrobatin Iryna Bessonova verbindet am Tanztrapez Akrobatik, Kontorsion und eben Tanz. Außergewöhnlich wirkt die Nummer vor allem dadurch, dass Bessonova keine zierliche Elfe, sondern eine großgewachsene Hünin mit breitem Kreuz ist. Als sein Herz-Ballon davonfliegt, den er einer Dame überreichen will, baut Andrey Shapin einen Turm aus acht Stühlen, um ihn zurückzuholen. Anders als in der typischen Zirkus-Variante stehen keine Flaschen unter dem fragilen Sitzmöbel-Konstrukt. Am oberen Ende drückt er Handstände. Letztlich bleibt der Ballon unter dem Theaterdach, doch die Angebetete bekommt immerhin eine Blume aus seiner Westentasche. Nach der Pause zeigt David Robert sein solides Können auf der Rola Rola, und das Publikum geht begeistert mit, die Stimmung steigert sich nun immer weiter.


Ulrike Storch, Ballett, Victor Rubilar
 

Ulrike Storch hat ihre Antipodenspiele als Hommage an die legendäre Hollywood-Ikone Marlene Dietrich angelegt. Regenschirm, Rolle und Tücher lässt sie über ihre Füße tanzen – eine der schönsten Darbietungen des Abends. Vom Kontrast zwischen der großen Unterfrau und dem zierlicheren Partner lebt die Hand-auf-Hand-Akrobatik von Iryna Bessonova und Andrey Shapin. Der Argentinier Victor Rubilar teilt seine Fußballjonglage in zwei Teile: In der ersten Programmhälfte lässt er einen einzigen Ball über die Arme rollen und auf dem Kopf hüpfen, als Schlussnummer jongliert er mit fünf Bällen. Mit seiner Ausstrahlung und Fröhlichkeit reißt er das Publikum mit. „A little Party killed nobody“, zu diesem mitreißenden Song erleben wir kurz vor dem Finale noch eine mitreißende Gesangs- und Tanznummer, bei der alle Register gezogen werden.

 Im emotionalen Epilog der Vorstellung interpretiert Anna Cabaret gefühlvoll „Zu Asche, Zu Staub“, den Titelsong der TV-Serie Babylon Berlin. „Es ist wohl nur ein Traum, das große Haschen nach dem Wind“, singt sie und greift damit noch einmal das Motiv der Freiheit auf. Die funkelnd-glamouröse Revue begeistert – und erinnert uns nicht zuletzt daran, welches Glück wir haben. Frei leben zu dürfen.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll