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"Offen bleiben für alles"
Lisa Rinne und Andreas Bartl sind "Circus UnARTiq"
www.circus-unartiq.de

Venlo, 14. August: Da ist kein Unterschied. Mit der gleichen ungekünstelten Lebensfreude, die sie auch in ihrer Darbietung ausstrahlt, sitzt mir Lisa Rinne – zusammen mit ihrem Bühnen- und Lebenspartner Andreas Bartl – in einem Café im niederländischen Venlo gegenüber. Am Abend haben die beiden hier ihre Auftritte, als einzige Artisten bei einem Musikfestival. Jetzt nehmen sie sich Zeit für ein Gespräch. Die Atmosphäre ist gelöst, es wird gelacht. Sympathisch, authentisch, offen erzählen Lisa und Andreas über ihr Leben. Auffällig häufig fällt das Wort „Spaß“ – den merkt man ihnen an, im Café ebenso wie später beim Festival.

Es ist ein eher ungewöhnlicher Auftrittsort, selbst für zwei, die das ganze Jahr über mit ihrer Outdoor-Show „Circus UnARTiq“ auf Straßenfestivals sowie Gaukler- und Kulturfesten in ganz Europa anzutreffen sind. Ein Musikfestival ist auch für sie beide Neuland; im Circus hat man Lisa Rinne hingegen mittlerweile schon häufiger gesehen. Mit ihrer innovativen Darbietung „Fallen“, die akrobatische Figuren an einer Strickleiter und schwierigste Sprünge am Schwungtrapez verbindet, ist Lisa Rinne in der Branche längst ein Begriff, gewann zahlreiche Auszeichnungen auf Festivals. Andreas Bartl ist dann der Mann im Hintergrund, der für Lisas Sicherheit sorgt. In ihrer Outdoor-Show sind hingegen beide aktive Partner, deren Zusammenspiel wunderbar harmoniert. „Circus UnARTiq“ erzählt auf liebevolle, kreative und detailverliebte Weise die ewige Geschichte zwischen Mann und Frau. Auch hier zeigt Lisa Ausschnitte aus ihrer Darbietung, präsentiert Tricks am Schwungtrapez; Andreas drückt diverse kraftvolle Handstände; zusammen sind sie artistisch an der Strickleiter zu sehen, bieten Partnerakrobatik und jonglieren in acht Metern Höhe.


Liebevoll, kreativ und detailverliebt umgesetzt: die Outdoor-Show „Circus UnARTiq“

Dabei war der Weg zur Artistik keineswegs vorgezeichnet. Beide stammen aus Akademiker-Familien, wuchsen behütet auf – Lisa in Sandkrug bei Oldenburg, Andreas im ländlichen Münchner Umland. „Wir entsprechen also nicht dem Klischee, dass man reingeboren sein muss. Bei uns beiden war es eher Zufall.“ Vielmehr gehören sie zu jener neuen Generation, die ihre Kunst an Schulen erlernt hat.

Als Lisa nach dem Abitur ihren Führerschein als Trainerin in einem Kindercircus finanziert, hört sie von einer Freundin von der Hochschule für Circus und Performance Art im niederländischen Tilburg und bewirbt sich. „Es war eine Kurzschluss-Entscheidung.“ Ihre Pläne, ein „Work & Travel“-Jahr im Ausland zu absolvieren, wirft sie kurzerhand über Bord. Tilburg nimmt sie tatsächlich an, „obwohl ich vorher außer ein wenig Akrobatik im Show-Turnen keine Vorkenntnisse hatte.“ Neben theoretischen Kursen, beispielsweise zum Karriere-Management, gehören auch Tanz, Theater und natürlich Akrobatik zum vierjährigen Studium in Tilburg. Lisa spezialisiert sich während dieser Zeit aufs Trapez, erlernt täglich zwei Stunden lang zusammen mit einer weiteren Schülerin und wechselnden Lehrern Techniken und Tricks. „Der Lehrer-Schüler-Schlüssel ist an so einer Schule natürlich extrem. Da herrscht normalerweise ein sehr familiärer Rahmen.“ Jedes Jahr wird eine Nummer erarbeitet, die bei öffentlichen Aufführungen gezeigt wird. Im Abschlussjahr kommt ein gemeinsames Programm der Absolventen hinzu, das zusammen mit einem Regisseur entsteht. Im Sommer 2011 schließt Lisa ihr Studium erfolgreich mit dem Bachelor-Titel ab.


Lisa Rinne


Andreas Bartl

Tilburg ist auch der Ort, an dem sich Lisa und Andreas kennen lernen. Andreas kommt über den Schulsport zur Akrobatik, gründet mit einigen anderen Schülern eine Trainingsgruppe, deren Mitglieder sich gegenseitig Tricks beibringen. „Mit dieser Schülergruppe haben wir unser Taschengeld aufgebessert, sind bei Veranstaltungen und Festen in der Umgebung aufgetreten.“ Nach Schulzeit und Zivildienst entscheidet er sich, an die sich gerade professionalisierende Circus-Schule in Brüssel zu gehen und lernt dort drei Jahre lang. Anschließend bleibt er und unterrichtet für fünf Jahre Handstandlehre. Gleichzeitig macht er 2001 eine Ausbildung zum „Sozial-Circus-Trainer“.

Für das vom Cirque du Soleil initiierte Projekt „Cirque du Monde“ reist er drei Mal nach Westafrika, leitet dort lokale Partner an. „Über das Mittel Circus sollen die Kinder und Jugendlichen wieder der Bildung zugeführt werden. Wie der Fußball in Südamerika hilft hier der Circus bei der Integration.“ Auch in Südafrika und im Kongo unterstützt er Entwicklungshilfe-Konzepte mit seinem artistischen Input. Bis 2007 geht Andreas diesen Weg, lehrt daneben an unterschiedlichen Circus-Schulen. Dann setzt er sich neue Reize. „Ich wollte meine Erfahrungen nochmal anders nutzbar machen.“ Er studiert Ethnologie und Erziehungswissenschaften in Köln, aber schon seine Abschlussarbeit 2011 beschäftigt sich wieder mit dem künstlerischen Potenzial des Circus.


Ständig auf Tour: Auftritte in China und Izhesvk (Russland), Sozialarbeit im Kongo

Köln ist bis heute das Zuhause von Lisa und Andreas. Hier steht den beiden auch eine Probehalle der „Zirkusfabrik“ im Stadtteil Dellbrück zur Verfügung. „Wenn Freunde fragen, wo man in Köln hingehen kann, sind wir allerdings überfragt. Wir sind kaum da, eigentlich seit Paris ständig auf Tour.“ Paris – das ist im Januar 2012. Der Durchbruch für Lisa. Frisch von der Circus-Schule kommend, erringt sie völlig überraschend die Silber-Medaille beim 33. Festival Mondial du Cirque de Demain mit „Fallen“.


„Prinzessin der Festivals“: mit „Fallen“ gehört Lisa u.a. in Paris, Wiesbaden und Moskau (rechts) zu den Preisträgern

Die Darbietung ist dabei nach und nach entstanden. „Im ersten Jahr an der Circus-Schule lag in der Turnhalle eine Strickleiter rum. Da ich es immer langweilig finde, wenn man zum Trapez hochgezogen wird, habe ich mich mit der Strickleiter in die Ecke gesetzt, nachgedacht und ausprobiert, wie man selber hochkommt. Im zweiten Jahr habe ich mir dann eine eigene Strickleiter gebaut, die besser den Tricks angepasst war. Die Idee zum Übergang zum Schwungtrapez-Teil, also das Abziehen der Schlaufen, ist dann eines Abends auf einem Bierdeckel entstanden.“ Die Strickleiter, dieses für Manegen neuartige Requisit, ist sicherlich ein Grund, warum der künstlerische Leiter des Pariser Festivals, Pascal Jacob, eine Bewerbung nahe legt, als er Lisa bei der Abschluss-Gala in Tilburg sieht. Doch auch die Passagen am Schwungtrapez sind spektakulär. Besonders stolz ist man auf den Schlusstrick, bei dem Lisa aus dem Fußhang kommend einen Salto schlägt und dann auf der Trapezstange landet. „Den üben zwar ein paar in Montreal, bekommen es aber nicht wirklich hin. Auf der Bühne zeigt ihn nur Lisa. Das ist ihr Trick.“


Vorbereitung: Konzentration trotz Nervosität

Das Festival in Paris hat nicht nur wegen der Auszeichnung eine besondere Bedeutung für die beiden. Es ist Lisas erster Auftritt nach der Schule, das erste Mal vor großem Publikum. „Wir sind immer mit der ganzen Schule in einem Bus zum Festival gefahren. Wenn man dann die anderen Artisten sieht, denkt man sich: Wow, das bekomme ich nie hin. Und dann ist man auf einmal selber da. Ich war noch nie so nervös. Dass die Nummer dann so einschlug, war der Hammer!“ Auch für Andreas ist es eine Premiere: erstmals steht er an der Longe und hat gleich mit logistischen Problemen zu kämpfen. Da gleich drei Trapeze unter der Kuppel befestigt sind, kann er nicht in gewohnter 90°-Sichtachse zum Trapez stehen. „So musste ich Lisa allein durch Zufall und Gefühl unterstützen, aber es hat ja bestens funktioniert.“ Weitere Auszeichnungen folgen, darunter Gold beim European Youth Circus Festival in Wiesbaden und der „Silberne Elefant“ beim Festival in Moskau. Gerade der Erfolg in der russischen Hauptstadt sei nochmal wichtig gewesen, „als Feedback dafür, dass Nummer auch in einem anderen Umfeld und bei anderem Publikum ankommt.“

 
Suche nach Abwechslung: Lisa bei Höhner-Roncalli, Andreas' neue Mast-Nummer, Zirkus-Theaterstück „ohnMacht“

Denn Abwechslung bei ihren Engagements ist genau das, was die beiden suchen: im Sommer wird daher eher die Outdoor-Show „Circus UnARTiq“ gespielt, im Winter Lisas Darbietung „Fallen“ gezeigt. Dazu gibt es mit „ohnMacht“ noch ein zeitgenössisches Zirkus-Theaterstück im Repertoire, das im Moment allerdings kaum gespielt und vermarktet wird. „Es ist spannend und toll, dass unsere Auftritte sowohl klassisch als auch zeitgemäß funktionieren. So haben wir keine Abhängigkeit in eine Richtung. Es macht unglaublich Spaß, die unterschiedlichsten Leute an unterschiedlichsten Orten zu treffen. Solange wir die Möglichkeiten haben, bleiben wir offen für alles.“ Auch eine komplette Circus-Tour schließen die beiden daher nicht aus. „So etwas, wie der Schweizer Circus Monti wäre schon interessant.“ Andreas hat dafür gerade eine Nummer am chinesischen Masten erarbeitet, um zwei Darbietungen anbieten zu können. Auch Ideen, mit einer größeren Gruppe eine Show zu erarbeiten, hat es schon gegeben. „Aber es scheitert ja schon an den hohen Anfangsinvestitionen. Aber um Förderungen zu kriegen, muss man schon Theater drauf schreiben. Mit Circus geht das nicht. Man muss ja schon froh sein, wenn die Leute Krone und Roncalli kennen. Es wäre cool, wenn das in Deutschland auch mal funktionieren würde.“

Am Abend sind die Musiker auf den großen Bühnen des Festivalgeländes in Venlo kaum zu überhören. Dennoch: um das abgetrennte Wiesenstück, auf dem Lisa und Andreas ihre Show zeigen, sammeln sich die Menschen, schauen und lauschen gespannt, applaudieren… und lächeln. Lisa und Andreas lächeln zurück, sympathisch, authentisch, offen - mit der gleichen ungekünstelten Lebensfreude wie mittags im Café.

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Text: Benedikt Ricken, Fotos: Archiv Circus UnARTiq