Chapiteau.de: Herr Jutras, wie sind sie zur Musik und zum
Komponieren gekommen?
B.
Jutras: Schon im sehr jungen Alter habe ich angefangen, zunächst
Orgel zu spielen, anschließend Piano – zumeist populäre Musik. Als
Teenager war ich in verschiedenen Bands, komponierte für diese
Rocksongs. Zu dieser Zeit war ich ein großer Fan von Genesis und
wollte so sein wie Mike Oldfield. Eines Tages kam mir der Gedanke,
es an einem Konservatorium zu probieren, um noch besser zu werden.
Der Lehrer damals war sehr nett und fragte mich, welche Komponisten
zu meinen Favoriten gehörten. Ich wusste nichts über moderne,
geschweige denn klassische Musik. Er sagte mir: „Auf dem
Nachhauseweg gehst du in einen Musikladen und kaufst dir ‚The Rite
of Spring’ von Stravinsky. Und in einem Monat kommst du wieder.“ Ich
machte, was der Lehrer gesagt hatte, und in der Minute, als ich in
meinem Zimmer die Musik hörte, war ich mir sicher: Das willst du
auch machen. Ich stellte also einen anderen Rhythmus an meinen Piano
ein und begann, immer mehr Musik zu hören und selber zu komponieren.
Nach einem Monat ging ich zurück ans Konservatorium und wurde auch
angenommen. Sie führten mich zu einer seriösen Komponisten-Karriere…
und dann kam doch der Circus.
  
Szenen aus "La Nouba"
Chapiteau.de: Mittlerweile komponieren Sie für Filmproduktionen
ebenso wie für große Shows. Wie wichtig ist die Musik für den Erfolg
einer Show?
B.
Jutras: In meinen Augen ist Musik für Shows wie die des Cirque du
Soleil entscheidend. Sie gibt den Darbietungen eine emotionale Tiefe
und verbindet sie mit den anderen Nummern der jeweiligen Show. Der
Fokus sollte natürlich auf den Akrobaten liegen, aber die Musik
bringt mehr Tiefe und macht es dem Publikum leichter, allem zu
folgen. Ganz so wie die Worte in einem Theaterstück.
Chapiteau.de: Worauf kommt es in den Kompositionen besonders an,
welche Reize müssen gute Melodien ansprechen? Gibt es da nationale
Unterschiede?
B.
Jutras: Ich habe für Shows in Amerika, Europa und Asien komponiert.
Ich meinen Augen ist dabei die Basis immer die gleiche; Musik muss
ehrlich sein. Gute Musik ist für mich Musik, die mit Vergnügen beim
Schreiben entstanden ist – selbst wenn während der Entstehung ein
gewisser Druck herrschen kann. Natürlich sind Technik und Sprache
der Musik von Land zu Land unterschiedlich. Senegalesische Musik
etwa, deren rhythmische Komplexität schlicht unglaublich ist, ist
komplett anders als Musik in Amerika. Aber ich glaube, in der Essenz
ist es dann doch dasselbe.
Chapiteau.de: Sie haben schon für den Cirque du Soleil, Franco
Dragone und den Schweizer National-Circus Knie gearbeitet. Wo sehen
Sie die größten Unterschiede zwischen einem klassischen
Circusunternehmen wie Knie und einer modernen Show wie Soleil, auch
in Ihrer Arbeit für die Unternehmen?
B.
Jutras: Der Circus Knie hat damals mit mir Kontakt aufgenommen, da
sie einen anderen Ansatz für ihre Musik haben wollten. In der Zeit,
in denen ich ihr Komponist war, habe ich also im Grunde dieselbe
Technik verwendet wie bei Soleil oder Dragone. Natürlich aber erhöht
sich die Komplexität des Schreibens für Shows, wenn man mit Tieren
arbeitet. Wenn man beispielsweise Musik für einen Jongleur
komponiert, schreibt man immer ein paar Tonfolgen mehr für den Fall,
dass der Jongleur patzt. Man hat also diese Tonfolgen extra, um
nicht einfach irgendwelche Teile nur zu wiederholen. Die
Unterschiede sind meistens gering, denn die Nummer dauert dann
vielleicht eine Minute länger. Mit Tieren geht das nicht, da kann
der Tierlehrer keinen Trick auslassen. Wenn das Tier den Trick
umgeht, muss der Tierlehrer es immer wieder wiederholen – bis das
Tier den Trick macht. Die Nummer dauert dann schon mal schnell zehn
anstatt sechs Minuten. Darauf muss man vorbereitet sein, mit sehr,
sehr vielen Extra-Tonfolgen.

Szene aus "Quidam"
Chapiteau.de: Woher holt man sich - bei so vielen verschiedenen
Shows - die Ideen?
B.
Jutras: Die Ideen zu den Kompositionen kommen aus vielen Ecken; aus
den Musiken, die die Akrobaten zuvor benutzt haben oder zu denen sie
geprobt haben, aus der Musik, die ich gerade höre, und vielfach aus
der Arbeit der anderen Kreativen, die an der Show beteiligt sind.
Letzten Endes sind es die Show-Designer, etwa Licht-, Ton- und
Kostümdesigner, aber auch alle anderen, die mich am meisten
inspirieren.
Chapiteau.de: Welche Aufgaben übernehmen Sie während des
musikalischen Entstehungsprozesses?
B.
Jutras: Ich bin jemand, der gerne die Kontrolle hat. Also schreibe
ich normalerweise den kompletten Song, verbunden mit einem Video,
damit klar ist, wann eine Melodie beginnt und aufhört, mache alle
Arrangements sowie große Teile der Programmierung. Hinzu kommen die
Partituren für die Musiker und alles weitere, was sie benötigen. Mir
ist zwar bewusst, dass dies manchmal sehr anspruchsvoll ist, aber
mir fällt es schwer, zu delegieren.
  
Szenen aus "O" und "Mystere"
Chapiteau.de: Können Sie uns den Ablauf einer Produktion schildern?
Ab wann wird der Komponist mit in die Show-Entstehung eingebunden,
und wie sieht die Zusammenarbeit mit den Musikern aus?
B.
Jutras: Bei dieser Art von Shows werden die Komponisten meist sehr
früh engagiert. Man kann sich also gleich von Tag Eins an mit dem
Kreativ-Direktor austauschen und sehen, was er vorhat. Von diesem
Zeitpunkt an komponiere ich Unmengen an Musik als Inspiration. Diese
Musik kann dann während der Proben, zu Beginn des Prozesses
verwendet werden. Die Stilrichtungen sind dabei sehr breit
gefächert. Mit dem Fortschreiten der Proben kristallisiert sich
meist eine bestimmte Richtung heraus, man lässt gewisse
Stilrichtungen weg, andere weitet man aus. Wenn die Darbietungen
zusammengestellt sind und die Proben kurz vor dem Abschluss stehen,
beginnt auch für mich der Endspurt, zumeist eine sehr wahnwitzige
Zeit. Ich schreibe nahezu die komplette Show nochmal um. Dabei
versuche ich, so viele Themen und Ideen wie möglich aus der
Probephase zu übernehmen und zugleich musikalisch den Darbietungen
viel näher zu folgen. Wenn der Akrobat einen Salto macht, muss
dieser musikalisch herausgehoben werden, zugleich aber die
emotionale Essenz der Darbietung in Verbindung mit der restlichen
Show beibehalten werden.
Ein
Großteil der Musiken entsteht so erst in den letzten Wochen vor
einer Premiere. Bei Soleils Quidam etwa in den letzten zwei Wochen,
in Normalfall aber so drei bis fünf Wochen vor Start. Ich erinnere
mich, dass ich während dieser letzten Phase in der Nacht
komponierte, die Arrangements machte und morgens die Songs für die
Musiker vorbereitete. Anschließend ging ich zu den Proben, sowohl zu
denen der Musiker als auch zu denen des kompletten Ensembles, um
nicht isoliert zu sein und alles mitzubekommen. Nach dem Dinner
schlief ich drei Stunden und begann wieder von vorn. Zum Glück hatte
ich immer großartige Musiker und musikalische Leiter, die diese
Prozesse immer wesentlich einfacher gemacht haben.
Chapiteau.de:
Herr Jutras, vielen Dank für das interessante Gespräch. |