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"Die Musik ist entscheidend"
Musik für Soleil und Knie: Komponist Benoit Jutras im Interview

London, 15. Juni 2013: „Die Musik ist entscheidend“, sagt Benoit Jutras über eine Circus-Show. Der kanadische Komponist muss es wissen, hat er doch für zahlreiche Produktionen die Musiken verfasst. Neben einigen Filmmusiken stammen unter anderem die Melodien für die Soleil-Erfolgsstücke Quidam, La Nouba und „O“ sowie für die Shows „La Rève und The House of Dancing Water von Franco Dragone aus seiner Feder. Vier Saisons lang, von 1993 bis 1996, komponierte der heute in London lebende Musiker für den Schweizer National-Circus Knie und erhielt dafür einen Sonderpreis beim Festival in Monte Carlo. Aktuell ist er für den Soundtrack des gerade auf DVD erschienen Films „Cirque du Soleil Traumwelten“ verantwortlich. Für Chapiteau.de ergab sich die Gelegenheit zum Interview mit Benoit Jutras.

Chapiteau.de: Herr Jutras, wie sind sie zur Musik und zum Komponieren gekommen?

B. Jutras: Schon im sehr jungen Alter habe ich angefangen, zunächst Orgel zu spielen, anschließend Piano – zumeist populäre Musik. Als Teenager war ich in verschiedenen Bands, komponierte für diese Rocksongs. Zu dieser Zeit war ich ein großer Fan von Genesis und wollte so sein wie Mike Oldfield. Eines Tages kam mir der Gedanke, es an einem Konservatorium zu probieren, um noch besser zu werden. Der Lehrer damals war sehr nett und fragte mich, welche Komponisten zu meinen Favoriten gehörten. Ich wusste nichts über moderne, geschweige denn klassische Musik. Er sagte mir: „Auf dem Nachhauseweg gehst du in einen Musikladen und kaufst dir ‚The Rite of Spring’ von Stravinsky. Und in einem Monat kommst du wieder.“ Ich machte, was der Lehrer gesagt hatte, und in der Minute, als ich in meinem Zimmer die Musik hörte, war ich mir sicher: Das willst du auch machen. Ich stellte also einen anderen Rhythmus an meinen Piano ein und begann, immer mehr Musik zu hören und selber zu komponieren. Nach einem Monat ging ich zurück ans Konservatorium und wurde auch angenommen. Sie führten mich zu einer seriösen Komponisten-Karriere… und dann kam doch der Circus.


Szenen aus "La Nouba"

Chapiteau.de: Mittlerweile komponieren Sie für Filmproduktionen ebenso wie für große Shows. Wie wichtig ist die Musik für den Erfolg einer Show?

B. Jutras: In meinen Augen ist Musik für Shows wie die des Cirque du Soleil entscheidend. Sie gibt den Darbietungen eine emotionale Tiefe und verbindet sie mit den anderen Nummern der jeweiligen Show. Der Fokus sollte natürlich auf den Akrobaten liegen, aber die Musik bringt mehr Tiefe und macht es dem Publikum leichter, allem zu folgen. Ganz so wie die Worte in einem Theaterstück.

Chapiteau.de: Worauf kommt es in den Kompositionen besonders an, welche Reize müssen gute Melodien ansprechen? Gibt es da nationale Unterschiede?

B. Jutras: Ich habe für Shows in Amerika, Europa und Asien komponiert. Ich meinen Augen ist dabei die Basis immer die gleiche; Musik muss ehrlich sein. Gute Musik ist für mich Musik, die mit Vergnügen beim Schreiben entstanden ist – selbst wenn während der Entstehung ein gewisser Druck herrschen kann. Natürlich sind Technik und Sprache der Musik von Land zu Land unterschiedlich. Senegalesische Musik etwa, deren rhythmische Komplexität schlicht unglaublich ist, ist komplett anders als Musik in Amerika. Aber ich glaube, in der Essenz ist es dann doch dasselbe.

Chapiteau.de: Sie haben schon für den Cirque du Soleil, Franco Dragone und den Schweizer National-Circus Knie gearbeitet. Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen einem klassischen Circusunternehmen wie Knie und einer modernen Show wie Soleil, auch in Ihrer Arbeit für die Unternehmen?

B. Jutras: Der Circus Knie hat damals mit mir Kontakt aufgenommen, da sie einen anderen Ansatz für ihre Musik haben wollten. In der Zeit, in denen ich ihr Komponist war, habe ich also im Grunde dieselbe Technik verwendet wie bei Soleil oder Dragone. Natürlich aber erhöht sich die Komplexität des Schreibens für Shows, wenn man mit Tieren arbeitet. Wenn man beispielsweise Musik für einen Jongleur komponiert, schreibt man immer ein paar Tonfolgen mehr für den Fall, dass der Jongleur patzt. Man hat also diese Tonfolgen extra, um nicht einfach irgendwelche Teile nur zu wiederholen. Die Unterschiede sind meistens gering, denn die Nummer dauert dann vielleicht eine Minute länger. Mit Tieren geht das nicht, da kann der Tierlehrer keinen Trick auslassen. Wenn das Tier den Trick umgeht, muss der Tierlehrer es immer wieder wiederholen – bis das Tier den Trick macht. Die Nummer dauert dann schon mal schnell zehn anstatt sechs Minuten. Darauf muss man vorbereitet sein, mit sehr, sehr vielen Extra-Tonfolgen.


Szene aus "Quidam"

Chapiteau.de: Woher holt man sich - bei so vielen verschiedenen Shows -  die Ideen?

B. Jutras: Die Ideen zu den Kompositionen kommen aus vielen Ecken; aus den Musiken, die die Akrobaten zuvor benutzt haben oder zu denen sie geprobt haben, aus der Musik, die ich gerade höre, und vielfach aus der Arbeit der anderen Kreativen, die an der Show beteiligt sind. Letzten Endes sind es die Show-Designer, etwa Licht-, Ton- und Kostümdesigner, aber auch alle anderen, die mich am meisten inspirieren.

Chapiteau.de: Welche Aufgaben übernehmen Sie während des musikalischen Entstehungsprozesses?

B. Jutras: Ich bin jemand, der gerne die Kontrolle hat. Also schreibe ich normalerweise den kompletten Song, verbunden mit einem Video, damit klar ist, wann eine Melodie beginnt und aufhört, mache alle Arrangements sowie große Teile der Programmierung. Hinzu kommen die Partituren für die Musiker und alles weitere, was sie benötigen. Mir ist zwar bewusst, dass dies manchmal sehr anspruchsvoll ist, aber mir fällt es schwer, zu delegieren.


Szenen aus "O" und "Mystere"

Chapiteau.de: Können Sie uns den Ablauf einer Produktion schildern? Ab wann wird der Komponist mit in die Show-Entstehung eingebunden, und wie sieht die Zusammenarbeit mit den Musikern aus?

B. Jutras: Bei dieser Art von Shows werden die Komponisten meist sehr früh engagiert. Man kann sich also gleich von Tag Eins an mit dem Kreativ-Direktor austauschen und sehen, was er vorhat. Von diesem Zeitpunkt an komponiere ich Unmengen an Musik als Inspiration. Diese Musik kann dann während der Proben, zu Beginn des Prozesses verwendet werden. Die Stilrichtungen sind dabei sehr breit gefächert. Mit dem Fortschreiten der Proben kristallisiert sich meist eine bestimmte Richtung heraus, man lässt gewisse Stilrichtungen weg, andere weitet man aus. Wenn die Darbietungen zusammengestellt sind und die Proben kurz vor dem Abschluss stehen, beginnt auch für mich der Endspurt, zumeist eine sehr wahnwitzige Zeit. Ich schreibe nahezu die komplette Show nochmal um. Dabei versuche ich, so viele Themen und Ideen wie möglich aus der Probephase zu übernehmen und zugleich musikalisch den Darbietungen viel näher zu folgen. Wenn der Akrobat einen Salto macht, muss dieser musikalisch herausgehoben werden, zugleich aber die emotionale Essenz der Darbietung in Verbindung mit der restlichen Show beibehalten werden.

Ein Großteil der Musiken entsteht so erst in den letzten Wochen vor einer Premiere. Bei Soleils Quidam etwa in den letzten zwei Wochen, in Normalfall aber so drei bis fünf Wochen vor Start. Ich erinnere mich, dass ich während dieser letzten Phase in der Nacht komponierte, die Arrangements machte und morgens die Songs für die Musiker vorbereitete. Anschließend ging ich zu den Proben, sowohl zu denen der Musiker als auch zu denen des kompletten Ensembles, um nicht isoliert zu sein und alles mitzubekommen. Nach dem Dinner schlief ich drei Stunden und begann wieder von vorn. Zum Glück hatte ich immer großartige Musiker und musikalische Leiter, die diese Prozesse immer wesentlich einfacher gemacht haben.

Chapiteau.de: Herr Jutras, vielen Dank für das interessante Gespräch.

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Interview
: Benedikt Ricken, Fotos: Cirque du Soleil