Gilching, März 2011: Wenn die 18-jährige Lavinia in der Luft die waghalsigsten
Kunststücke vorführt, denkt sie an die anstehenden Abiturprüfungen.
Sie führt ein Leben zwischen Schule und Zirkus – zwischen
Luftakrobatik und Stochastik. Chapiteau.de hat sie einen Tag lang
begleitet. |
Das
rotorangene Licht sammelt sich gleichmäßig am blauen Sternenhimmel
des nach oben spitz zulaufenden Zirkuszelts. In acht Metern Höhe
wickelt Lavinia gekonnt das Seil um ihr rechtes Bein, streckt das
andere Bein und ihre Arme von sich weg. Was viele ihrer Zuschauer
nicht einmal am Boden schaffen würden, das führt Lavinia in der Luft
am Seil vor. Sie klettert höher, steckt einen Fuß in die Schlaufe am
oberen Ende und zieht sie fest. Noch eine kleine Drehung und Körper,
Hände und Bein bilden eine Horizontale. Im nächsten Moment lässt sie
sich fallen. Lavinia hängt jetzt kopfüber am Seil. Sicherung gibt es
keine. Sie wechselt die Position, greift mit der linken dann mit der
rechten Hand am Seil entlang, die Füße haben keinen Kontakt mehr zum
Seil. Lavinias Schwester steht am Boden und dreht das Seil.
Schneller, schneller, schneller. Lavinia schraubt durch die Luft.
Als ich Lavinia Ende März zum ersten Mal im Küchenwagen des Zirkus
Rio begegne, bin ich überrascht: Sie sieht nicht aus wie eine
klassische Zirkusartistin, die in der Luft am Seil turnt. Lavinia
ist zwar recht klein, etwa 1,60 Meter, aber nicht zierlich. Sie hat
ein rundes, volles Gesicht. Lavinia zeigt sich offen und gelassen,
obwohl es in ihrem Leben derzeit besonders hektisch zugeht. Denn die
18-Jährige ist nicht nur Artistin im Zirkus Rio ihrer Eltern,
sondern auch Schülerin der 12.Klasse einer Fachoberschule in
München. Es sind nur noch wenige Monate bis zu den
Abschlussprüfungen in Mathematik, Englisch, Deutsch und
Pädagogik/Psychologie. Der Zirkus Rio hat seine Lager derzeit in
Gilching aufgeschlagen – eine Gemeinde westlich von München.
Plötzlich Hektik: Es sind Pferde von einem nahe gelegenen Bauernhof
ausgebrochen. |
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Lavinia und andere
Zirkusleute haben die Vierbeiner kurzerhand im großen Tierhänger des
Zirkus untergebracht - damit sie nicht auf die Straße laufen und
überfahren werden, bis sich der Besitzer meldet und die Tiere
abholt. So ist es 14:40 Uhr als Lavinia eilig ins Zirkuszelt huscht.
Viel zu spät. Die Vorstellung beginnt in 20 Minuten. Sie muss noch
den Arialring fertig machen. Per Knopfdruck fährt der nach unten.
Sie zieht zwei weiße Tücher aus der Plastiktasche, die mit am Seil
befestigt ist. Wickelt die Tücher um den Arialring. Entfernt die
Plastiktüte. Lässt den Ring wieder nach oben fahren. Währenddessen
kommen die ersten Gäste ins Zelt. Sie wollen Popcorn und Getränke.
„Lavinia, du bist am Wochenende für den Imbiss zuständig.“ ruft ihre
Mutter Renate forsch. Im Zirkus muss alles schnell gehen. Die
Sprache passt sich an.´„Du musst mir dann noch Bio erklären.“
fordert Lavinia eine Freundin auf, die gerade beim Zirkus Rio zu
Besuch ist. Mit dem Fachabitur will sich Lavinia die Möglichkeit
offen halten zu studieren, um später auch außerhalb des Zirkus gute
Berufschancen zu haben. Was genau sie später beruflich machen
möchte, weiß sie noch nicht genau. Wahrscheinlich aber mit Kindern
arbeiten – wie bei der Zirkusfreizeit, die der Zirkus Rio in
Zusammenarbeit mit der Adventoura-Eventagentur mehrmals im Jahr
veranstaltet: Kinder und Jugendliche schnuppern Zirkusluft und
führen am Ende eigene Nummern vor, die von Jongliage, über Fakir bis
hin zu Akrobatik reichen. Lavinia und andere Artisten sowie Trainer
darunter auch ihre 25-jährige Schwester Joana und ihr 17-jähriger
Bruder Marcel helfen den Schülern beim Einstudieren der Auftritte
und zeigen wichtige Kniffe und Tricks, sodass bei der abschließenden
Vorstellung vor Elternpublikum auch alles klappt.

Kurz nach fünf endet
die Vorstellung. Für 1,50 Euro dürfen die kleinen Zirkusgäste in der
Manege Pony reiten. Lavinia führt einen Schecken am langen Strick
und hält gleichzeitig einen Rappen am Halfter, den ihr erst
zweijähriger Neffe führt. Während für viele ihrer Altersgenossen das
Wochenende Zeit für Hobbies, Freunde, Entspannen und auch Lernen
auf wichtige Schulaufgaben und Kurzarbeiten bedeutet, packt Lavinia
im Zirkus Rio mit an – ein reiner Familienbetrieb, in dem jeder vom
Tiere versorgen, über Werbeplakate ausfahren bis hin zu den
Auftritten in der Manage alles macht. Nach einigen Runden geht es
für die Ponys zurück ins Stallzelt. „Jetzt komm!“ ruft Lavinia ihrem
Neffen laut und bestimmt zu, als sich dieser auf dem Weg aus dem
Stallzelt von den Cowboy-Hüten, Lassos und Schuhen ablenken lässt,
die als Requisiten auf einem Biertisch am Artisteneingang liegen. Im
Stallzelt - fernab vom Zirkuszelt sind sieben kugelrunde
Shetland-Ponys, ein Kaltblutpferd, ein Schecken-Pony, vier Lamas und
fünf Hunde untergebracht. Am imposantesten aber sehen die schwarzen
Friesen aus – Pferde mit Hufen so groß wie Frühstücksteller, starken
Beinen, einem korpulenten, muskelstarken Torso und gewellter Mähne.
Mächtige, elegante Tiere. Nach absatteln, striegeln und Füttern der
Ponies, verschwindet Lavinia kurz in ihrem Wohnwagen – zum Umziehen.
Eine Metallstufe führt in Lavinias mobiles Zimmer. Den Wagen teilt
sie sich derzeit mit der 20-jährigen Jessi. Die gelernte
Kosmetikerin kennt die Zirkusfamilie schon seit dem Grundschulalter
und entschied sich vor zwei Monaten dazu mit dem Familienzirkus
durch Bayern zu reisen. Normalerweise hat jeder sein eigenes Reich,
aber Lavinia lebt unter der Woche ohnehin nicht beim Zirkus Rio,
sondern in München. Ihr Snowboard, mit dem Sie im Winter, wenn das
Zirkusleben etwas ruhiger ist die Pisten unsicher macht, liegt auf
der schmalen Eckbank am einen Ende ihres Wohnwagens. In der Mitte
steht ein Schreibtisch – ein Chaos aus Dosen und Tuben mit Glitter,
Lidschatten und sonstigen Schmink-Utensilien findet sich auf dem
braunen Holztisch. Ihre Alltagskleidung verstauen die beiden Frauen
in den Schränken unter der Decke des Wohnwagens. |
 
Durch den
unaufhörlichen Regen haben sich in den zahlreichen Löchern und
Senken des Festplatzes Pfützen gebildet. Lavinia spurtet von ihrem
Wohnwagen aus Richtung Küche und springt auf das gut einen halben
Meter hohe Metallgitter, das Küchenwagen und Bad miteinander
verbindet. Sie trägt Chuks – Halbschuhe mit einer dünnen
Plastiksohle und Leinen als Außenmaterial. Schon nach wenigen Metern
sind die komplett durchnässt. „Jetzt brauch ich erstmal andere
Socken.“ Nachdem sie nasse gegen trockene Socken und Chuks gegen
Gummistiefel eingetauscht hat, holt sie aus dem Küchenwagen einen
Topf mit heißem Spülmittelwasser und stapft vorsichtig ins
Zirkuszelt – zum Imbisswagen. Eine Woche gastierte der Zirkus Rio in
Gilching, am nächsten Tag geht es weiter Richtung Starnberg. Sie
muss noch die Popcornmaschine, die Arbeitsfläche und die
Verkaufsvitrine im Wagen reinigen, bevor die Familie morgen das Zelt
abbaut. Für Lavinias kleinsten Bruder Leon, der ist 6 Jahre,
bedeutet der meist wöchentliche Platzwechsel nach der Einschulung im
kommenden September eine andere Schule, andere Klassenkameraden und
Lehrer. Bis zur achten Klasse Hauptschule lief das bei Lavinia
genauso – sie musste immer an dem Ort die Schule besuchen, an dem
der Zirkus Rio gerade gastierte. Nach der Hauptschule entschloss sie
sich dazu noch zwei Jahre Fachoberschule dranzuhängen - mit Erfolg:
Lavinia steht kurz vor den Fachabiturprüfungen. Jeden Sonntag
verlässt sie ihre Eltern, Geschwister und den Zirkus Rio und fährt
in zurück nach München – zur Fachoberschule.Von montags bis freitags
lebt sie in einem Wohnheim: Neben Lernen, Hausaufgaben und
Schularbeiten steht Kochen, Waschen, Bügeln und Putzen auf dem
Tagesplan – Lavinia muss ihren Haushalt selbst organisieren.

Es ist Ende Juni und
Lavinia hält die Ergebnisse ihrer Fachabiturprüfung in den Händen:
Sie hat bestanden! Das Lernen zwischen Zirkus- und Alltagsstress hat
sich also ausgezahlt. Was Lavinia nach dem Fachabitur machen will?
Jetzt hat Lavinia erstmal frei – naja nicht wirklich: Bis sie im
September in ein freiwilliges soziales Jahr startet und anschließend
eine Ausbildung als Erzieherin machen will, arbeitet sie sozusagen
Vollzeit im Zirkus. Gleichzeitig muss sie bis Ende Juli aus ihrem
Zimmer im Wohnheim ausgezogen sein und sich um eine neue Wohnung in
München kümmern, in der sie während sie das freiwillige soziale Jahr
absolviert wohnen kann. Am Wochenende und in den Ferien wird Lavinia
weiterhin im Zirkus Rio auftreten – denn das Zirkusleben will sie
einfach nicht so schnell missen. Hoch oben unter dem Dach des
Zirkuszelts, im rotorangenen Licht und mit einem Bein in der
Schlaufe des Seils. Schrauben in der Luft drehend.
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Text: Andrea Maurer; Fotos: Peter Dittert
(www.circusbilder.de),
Andrea Maurer
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