Ihr Tag, so hat sie uns erzählt, begann
um fünf Uhr in der Frühe. Dann sind sie, in der Fahrzeugkolonne des
Circus Medrano von Raoul Gibauld in die neue Stadt gefahren. Voraus ihr
Mann Marcello im Lkw und dem Raubtierwagen, sie folgt mit dem Camping am
Geländewagen. Sie hatten sich gefreut auf dieses Engagement, zum ersten
Mal in Frankreich, bei einem, als seriös seinen Verpflichtungen
nachkommend bekannten, großen Circus. Nur hatte dieser Anfang des Jahres
seine Tourneeplanung gravierend geändert und bereist in diesem Jahr
kleine und kleinste Städte, so dass es lange Wochen mit Eintagesplätzen
zu ertragen gilt. In den letzten drei, vier Jahren war man in Italien
mit dem ‘Circo di Vienna’ der Familie Vassallo unterwegs. Da dieser
Circus jährlich die gleichen Städte hält und inzwischen eine eigene
Raubtiernummer besitzt, wurde das Engagement nicht mehr verlängert. “In
Italien ist es anders. Dienstag und Mittwoch ist Reise- und Aufbautag.
Vorstellungen sind von Donnerstag bis Montag. Aber jetzt”, sagt sie mit
einem Lächeln, “ist das Schlimmste ja überstanden - die Tournee ist zur
Hälfte um. Wenn man, so wie wir, mit eigenen Tieren reist, gibt es den
ganzen Tag Arbeit. Einen Kutscher kann ich nicht bezahlen und so müssen
wir alles allein machen. Fahren, aufbauen, Tiere versorgen, zwei
Vorstellungen, abbauen. Da bleibt kaum noch Zeit zum schlafen, wenn es
richtig gut läuft mal fünf Stunden in der Nacht. Zum Proben mit Dagmar,
der jungen Braunbärin, komme ich kaum noch und das Material ist auch
nicht mehr richtig sauber”. Am Vormittag hatten sie den Raubtierwagen
mit einer großen Veranda versehen und die Absperrungen aufgestellt, die
umfangreichen Requisiten entladen und vorbereitet und… und… und…, nun
ist etwas Ruhe und aus einer kurzen Frage entwickelt sich ein
interessantes Gespräch zu dem sich Frau Niedermeyer immer wieder einige
Minuten Zeit nimmt. Jacky, die fast sechsunddreißigjährige Eisbärin, hat
gesundheitliche Probleme. Das Herz macht nicht mehr richtig mit. “Sie
ist wohl die älteste Eisbärin auf der Welt und zu vergleichen mit einem
Menschen von über einhundert Jahren. Zwei Städte zuvor hatten wir den
Tierarzt da, der hat ihr fünf Stärkungsspritzen gegeben und die nächsten
Tage müssen wir das noch mal wiederholen. Wir hoffen, dass sie so noch
etwas leben kann. Ich lasse sie nur noch abends in die Manege, nur noch
in der Kutsche mitfahren. Da hat sie noch ein bisschen Bewegung, muss
sich aber nicht anstrengen. Mittags arbeitet dafür dann schon die junge
Bärin”. Dann wird eine Veranda am Lkw vor das Küchenabteil gebaut und
sie bereitet die Mahlzeit für ihre drei Bären, es gibt noch eine rund
dreißigjährige Braunbärin in der Gruppe, Obst, Gemüse und
Hähnchenschenkel stehen auf dem Speiseplan, während im Abteil nebenan
das Pferd mit Huftritten auf sich aufmerksam macht.

Maxy Niedermeyer erzählt,
dass sie 1940 auf der Reise geboren wurde. Ihre Eltern hatten zunächst
eine Hunde- und eine Ziegennummer. Direkt nach dem Krieg waren sie beim
Circus Renz-Nock in der DDR engagiert und “da kamen dann zwei Bären
dazu. In der DDR war Kinderarbeit strikt untersagt und unter vierzehn
durften wir auch nicht in die Manege. Als wir 1951 bei Aeros waren,
musste mein Vater für ein paar Tage ins Krankenhaus. Als selbstständige
Artisten konnten die Eltern sich keinen Assistenten leisten und meine
Mutter entschied: ’heute Abend assistierst du mir bei den Bären’. Das
war mein Premierenauftritt. Nur gut, dass ich als elfjährige schon recht
erwachsen aussah und als vierzehnjährig durchgehen konnte. Als mein
Vater wieder gesund war, haben wir zu proben begonnen und im Laufe der
Zeit wurde ich in die Nummer integriert“. In dieser Zeit kam der erste
Eisbär, ein Jungtier aus der Gruppe von Francesco Capri zu den
Niedermeyers und wurde im Wohnwagen großgezogen. “Ein ganz besonders
liebes Tier, wie ich nie wieder einen Bären erlebt habe. Auch als er
längst erwachsen war konnte ich, wenn er fraß direkt neben ihm stehen,
mit ihm zusammen mich schlafen legen und ohne Maulkorb mit ihm ringen.
Nie hat er attackiert, war nie aggressiv“. Früh, mit achtzehn oder
neunzehn Jahren hat sie sich Bären gekauft und ihre eigene Nummer
aufgebaut. Die Idee mit Kutsche und Pferd war schnell geboren und so
gelangten ihre Bären immer reitend und fahrend in die Manegen der
östlichen Welt. Dreißig Jahre lang gehörte sie zum Ensemble des
bulgarischen Staatscircus und die Tourneen führten sie außer in die
sozialistischen Bruderstaaten auch nach Griechenland und den vorderen
Orient. Ihre weiteste Reise war zu einem Gastspiel in Taiwan. Für einige
Jahre hatte man ein eigenes Winterquartier in Bulgarien, “aber das habe
ich wieder verkauft. Die Saisonpausen sind zu kurz und die Anfahrt aus
Westeuropa zu weit. Es lohnt sich nicht, der Aufwand ist zu groß”.

Ihr ganzes Leben lang hat
Maxy Niedermeyer mit Bären gearbeitet, die aktuell mitwirkende Tigerin
ist ihre erste Raubkatze, ist eine der wenigen Dompteure, die mit
Eisbären an der Longe auftreten, da stellt sich die Frage nach Gefahr
und Zwischenfällen fast ganz von alleine. “Jacky war etwa drei Jahre
alt, als wir in St. Petersburg im Circusbau waren. Wir waren an der
Reihe und sie kam zum Auftritt aus dem Abteil, da entdeckte sie einen
fremden Hund unter dem Wagen. Sie wollte ihn gleich greifen, aber ich
riss sie an der Longe zurück. Sofort war ich ihr Gegner, der ihr die
Beute wegnehmen wollte und sie ging blitzartig auf mich los. Der erste
Tatzenschlag warf mich zu Boden, zerfetzte das Kostüm und dann war sie
über mir. Obwohl sofort andere Artisten und Circusarbeiter zur Stelle
waren, auf sie einschlugen - sie wegzerren wollten, lies sie nicht von
mir ab. Sie streifte sich blitzschnell den Maulkorb ab, bearbeitete mich
minutenlang mit Schlägen mit den Vordertatzen. Dann hat ein erfahrener
ehemaliger Raubtierkutscher ihr einen Eisenanker über den Schädel
geschlagen und sie war ziemlich ko. So konnte man mich unter ihr
herausziehen. Ich war komplett grün und blau, voller Striemen und es
dauerte gut eine Woche, ehe meine Augen soweit abgeschwollen waren, dass
ich wieder sehen konnte. Dann haben wir wieder miteinander zu arbeiten
begonnen und eine längere Zeit haben wir einander nicht sehr
vertraut. Dann war der Vorfall irgendwann vergessen und viele viele
Jahre sind wir prächtig miteinander ausgekommen. Nun zickt sie
manchmal mit der jungen Bärin herum, ist eifersüchtig, sieht in ihr
eine Rivalin."
  
Ausdrücklich besteht Frau
Niedermeyer darauf, dass wir uns nach der Abendvorstellung noch treffen.
Unseren Einwand, es sei doch ein weiterer langer anstrengender Tag in
der Folge vieler für sie gewesen, wischt sie beiseite “Heute ist doch
kein Abbau, wir bleiben doch zwei Tage. Da ist genug Zeit zum ausruhen”.
So sitzen wir denn bis spät in die Nacht vor dem Camping und hören und
sehen Interessantes aus einer langen Dompteurkarriere. Marcello hat
längst einen Fernseher ins offene Wohnwagenfenster gestellt und Videos
aus den achtziger Jahren zeigen die Veränderungen der Nummer im Laufe
der Jahre. In früheren Jahren arbeitete neben Eisbärin Jacky und der
Braunbärin, ein Kragenbär - an seine Stelle trat die Tigerin, “da zu der
Zeit seines Ablebens partout kein Bär zu kaufen war”, sowie - eine
absolute Rarität in Circusmanegen - ein Malaienbär. Dazu kam noch ein
Waschbär und für relativ kurze Zeit ein Nasenbär. “Seine Haltung war
allerdings delikat und auf die Dauer zu schwierig, so dass wir davon
wieder Abstand nahmen. Es hat mich immer gereizt einen Baribal in die
Nummer zu nehmen, doch es ist mir nie geglückt ein solches Tier zu
bekommen”. Zehn Jahre lang wurde ein kräftezehrender Trick geboten. Der
Kragenbär erklomm eine Perch, die von der Dompteurin im Gürtel gehalten
wurde und drehte einige Wellen um die Querstange. “Dann war mein Rücken
so kaputt, dass es nicht mehr ging. Der Bär hatte etwa das Gewicht eines
Menschen, aber er bewegt sich ‘unvorsichtiger’, heftiger. Das
auszugleichen und zu balancieren verlangt sehr viel Kraft. Wir haben
dann die Perch auf einen freistehenden Ständer montiert, es war
natürlich nicht mehr ganz so spektakulär aber die einzige Möglichkeit”.
Bekanntermaßen veränderte
sich Europa nach 1989, die Grenze zwischen Ost und West öffnete sich.
Nach dem ’Aus’ des bulgarischen Staatscircus reiste Maxy Niedermeyer
erstmals 1991 zu einem Engagement in den Westen - nach Italien. Bis
dahin unbekannte Probleme mussten gelöst werden. War bisher der Circus
für den Transport ihres Equipements zuständig, war sie nun selbst
gefordert. So musste zunächst ein Lkw, der erste war ein “schon recht
betagter FIAT”, angeschafft und mangels geeignetem Führerschein ein
Circusarbeiter als Fahrer aktiviert werden. Hier in Italien lernte sie
auch ihren Mann Marcello kennen und seither sind sie zu zweit mit den
Circussen unterwegs. Pläne für die Zukunft sind gemacht. “Zunächst muss
Dagmar fest in die Nummer eingebaut werden und mehr Tricks sicher
beherrschen, im Moment macht ja der Tiger die halbe Nummer, denn Jacky
wird nicht mehr ewig da sein. Ihren Platz wird sie dann einnehmen.
Optisch ist die Nummer mit Eisbär zwar attraktiver, aber einen neuen
wird es nicht mehr geben. Einen zu bekommen wäre wohl möglich, wenn auch
sehr teuer aber die Anforderungen der Haltung…. Nun ja, wir sehen uns
erstmal nach einem neuen Waschbären um, dass wäre eine schöne Ergänzung.
Ein weiterer junger Braun- oder Kragenbär als Ersatz für meine alte
Braunbärin. Im Winter wird eine neue Kutsche gebaut, aus Edelstahl. Das
ist haltbarer und muss nicht gestrichen werden, so wie die jetzige, es
sieht einfach immer sauber aus. So lange ich laufen kann, will ich mit
meinen Tieren arbeiten. Ich bin jetzt fast achtundsechzig, ans aufhören
denke ich nicht. Ein Leben ohne meine Bären mag ich mir nicht
vorstellen”. |