CHPITEAU.DE

Christoph Haese
Ein Höhenflug, ein tiefer Fall, ein neuer Anfang
www.christoph-haese.de

Stuttgart, 18. Juli 2006: Den Nadelstreifenanzug fürs Finale trägt er noch, auch die Schminke hat er noch nicht abgelegt. Der Applaus im mondänen Stuttgarter Friedrichsbau-Varieté ist eben erst verklungen. Christoph Haese, Trapezkünstler mit frischem Abschlusszeugnis als staatlich geprüfter Artist, sitzt hinter den Kulissen an einem großen Tisch und raucht, die Beine übereinander geschlagen. Um ihn herum die anderen Absolventen der Staatlichen Schule für Artistik Berlin: Die einen sitzen und plaudern, die anderen sind geschäftig. Alle haben sie das gleiche Ziel: entdeckt werden – nicht mehr nur für die Artistenausbildung, jetzt geht es um Engagements an Varietés, für Galas, vielleicht im Zirkus. Die gemeinsame Tournee mit der „Absolventenshow“ soll dabei helfen. Christoph, gerade mal 18 Jahre alt, hat die ungewöhnlichsten Nummern im Repertoire: Er kombiniert Kontorsion mit der Arbeit am Solotrapez und schafft daraus etwas Neues.

Seine Zweitnummer ist Hula Hoop. Die Kunst, den eigenen Körper extrem zu verbiegen; elegant in der Luft schweben, Ringe um die Hüften kreisen lassen – klingt nach einem Frauenjob. „Ich habe lange Ballett gemacht, deshalb war die Beweglichkeit vorhanden. In der Artistenschule habe ich mit Trapez angefangen, da hat sich die Verbindung angeboten“, sagt Christoph knapp. Die Trainer seien anfangs dagegen gewesen: „Die sagen, Männer sollen eher Kraftsachen machen. Aber man muss doch etwas bieten, das außergewöhnlich ist, am Markt eine Chance hat – die meisten Sachen gibt es ja doppelt und dreifach.“

Die Künstler müssen das Varieté verlassen. Christoph verschwindet noch kurz in der Garderobe, legt die Schminke ab und kommt in Zivil zurück: ein weißes Muskelshirt, auf das er mit Glitzersteinen selbst den Schriftzug „Diva“ geklebt hat, ein weißer Hut, eine weiße Herrenhandtasche. Beim Marsch durch die Einkaufsmeile Königstraße zieht er die Blicke auf sich – und böse Kommentare. „Ey, Daniel Küblböck“, ruft einer. „So sehe ich doch gar nicht aus“, überspielt er den Satz leise. Anderes hört er scheinbar gar nicht. Eigentlich, erzählt er weiter, wollte er Ballettänzer werden. Mit fünf Jahren habe er „Anna“ im Fernsehen gesehen, die legendäre ZDF-Weihnachtsserie. Die Geschichten mit Silvia Seidel als junger Ballettänzerin, der strengen „Kralowa“ und Madame Valentine d’Arbanville bescherten den Ballettschulen ohnehin regen Zulauf.

Christoph fing bei „König-Sräga“ in seiner Heimatstadt Kaufbeuren an; trainierte am Ende dreimal in der Woche dort. „Irgendwann war ich auf einem Level, wo es hieß: Das sieht gut aus, kannst du dir vorstellen, das professionell zu machen?“ Dafür musste er Kaufbeuren aber verlassen. Christoph war zehn, als er die Aufnahmeprüfungen an der Paloca-Schule Dresden und der Staatlichen Ballettschule in Berlin schaffte. Für Berlin entschied er sich dann, weil hier das Internat für die ersten vier Jahre – ab Schulklasse fünf – im Obergeschoss der Ballettschule liegt. Der Zehnjährige zog aus der bayerischen Klein- in die deutsche Hauptstadt. Allein, ohne Eltern. Im September 1998 ging es los. Nun wurde täglich trainiert – und im ersten Jahr, wie Christoph sagt, „schon kräftig aussortiert“. „Wer ist dem Druck gewachsen? Wer besitzt die physischen Vorausetzungen?“ – um diese Fragen geht es im „Projektjahr“, dem Probejahr. Bald kamen neue Facetten zur Ausbildung hinzu: Historischer Tanz, Charaktertanz, Folklore, Modern Dance. Dazu die Möglichkeit, in verschiedenen Stücken auf der Bühne mitzuarbeiten – vor Publikum. Schließlich erkrankte ein Solist der Staatsoper Unter den Linden. Christoph erzählt, dass er einspringen und die Rolle ein Jahr lang tanzen durfte. „Ich bekam mit elf oder zwölf Jahren den Höhenflug, gab Fernsehinterviews, war Solist an der Staatsoper, das Lieblingskind bei den Trainern...“Der Höhenflug endete jäh, als die Inszenierung abgesetzt wurde. „Ich fiel in ein tiefes Loch“, sagt Christoph, „und die Trainer haben mich nicht aufgefangen. Ich war zu klein für große Rollen und zu groß für Kinderollen.“ Christoph magerte rapide ab. „Irgendwann ging es nicht mehr. Ich fuhr nach Hause, ich hatte keinen Bock mehr“. Dann die Erkenntnis: „Der Unterricht an der Ballettschule war doch sehr praxisorientiert – ich hätte kaum Chancen gehabt, an einer normalen bayrischen Schule den Abschluss zu schaffen.“ Er wählte, wie er sagt, die „dritte Möglichkeit“ neben Weitermachen und Aufgeben und wechselte zum Hauptfach Artistik. Dort machte er die übliche Grundausbildung in fünf Genres: Jonglage, Drahtseil, Equilibristik, Bodenakrobatik, Trapez. Nach einem Jahr folgt eine Vorspezialisierung, ab Klasse elf spezialisieren sich die Schüler auf ein Genre und arbeiten ihre Nummer für die Abschlussprüfung aus.

„Die Trainer machen dabei eher Vorschläge, sagen zum Beispiel, dass nach diesem Trick jener passen könnte.“ Im Prinzip könnten sie aber nur Tipps geben, vieles entwickelten die Schüler eher selbstständig – bis hin zu Musikauswahl und Kostümierung. Christoph raucht wieder. Geht das als Artist? Er wisse ja über die Risiken genau Bescheid, sagt er, und gehe damit um. Und betont, dass er viel reifer sei als andere 18-Jährige. „Es war auch wirklich mein Wunsch damals, nach Berlin zu gehen, auch wenn ich dadurch nie eine richtige Kindheit hatte. Ich liebe meine Eltern dafür, dass sie mir dies ermöglicht haben.“ Der Spaziergang endet bei Bifteki und Cola light vor einem griechischen Gasthaus; Christophs Weg als Artist aber ist noch weit – die nächsten Marksteine werden eine Gala im August und ein Auftritt im Friedrichstadt-Palast am 11. September zum Jubiläum der Staatlichen Artistenschule sein.

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Text
: Markus Moll; Fotos: Markus Moll, Christoph Haese, Sven Rindfleisch