Der
besondere Reiz des „Festival Internacional del Circ Elefant d'Or“
besteht darin, dass dort nur Nummern zu sehen sind, die noch nicht in
Westeuropa gearbeitet haben. So ist es nicht verwunderlich, das man
hier auf wichtige Größen der Branche trifft. Vertreter vieler namhafter
Shows sind am Rande der Manege anzutreffen. Zum siebten Mal findet
dieses Festival in diesem Jahr statt, zum ersten Mal im spanischen
Girona. Die ersten Ausgaben wurden im nahen Figueres gespielt, der
Heimat von Genis Matabosch. Gemeinsam mit seiner Circus Arts Foundation
produziert er dieses Festival. Die Größe der Stadt und die bessere
Verkehrsanbindung mit TGV-Halt sowie Flughafen gaben letztendlich den
Ausschlag für den Umzug nach Girona.
Chapiteau
Und
dann ist so ein Festival, der Name beinhaltet es, ein großes Fest des
Circus. In diesem Fall insbesondere der Artistik. Auch was diesen
Aspekt angeht, haben Genis Matabosch und sein Team Großartiges
geleistet. Unzählige Menschen sorgen im Vorfeld der Veranstaltung und
während der fünf Tage dafür, dass Gäste und Mitwirkende ein optimales
Erlebnis haben. Gastgebertum par excellence. Ein großes Chapiteau ohne
Masten im Inneren gibt 2.200 Menschen je Vorstellung einen optimalen
Blick auf das Geschehen in der Manege. Es kommt vom Circo Americano der
Familie Faggione aus Italien. Der Viermaster als Vorzelt ist ebenfalls
in weiß gehalten. Den Backstagebereich bildet ein großes Zelt, welches
Garderoben, eine Kantine und reichlich Fläche zum Trainieren
beherbergt.
Genis Matabosch und das Royal Circus Ballet
Vom
Feinsten ist zudem der Rahmen, in dem die Vorstellungen stattfinden.
Die obere Etage des Artisteneingangs mit drei Torbögen gehört dem
Orchester. Die Instrumentalisten um Dirigent Camino D'Angelo musizieren
zum Niederknien schön. Ihr Spiel ist einfach grandios, man könnte die
Vorstellungen auch mit geschlossenen Augen genießen. Ganz egal welche
Stilrichtung für die jeweilige Darbietung benötigt wird, sie
beherrschen alle. Eine Sängerin und ein Sänger kommen bei Bedarf zum
Einsatz. Nur da, wo es nicht anders geht, kommt die Begleitung von der
Konserve. Fantastisch ist ebenfalls das grandiose Lichtdesign. Einen
ungemein starken optischen Akzent setzt das zwölfköpfige Royal Circus
Ballet von Gia Eradze. Traumhafte Kostüme, fantastische Choreographien
und professionelle Akteure sorgen für mannigfaltige visuelle Reize. Ein
wahres Fest für die Augen. Die Tänzerinnen und Tänzer eröffnen die
Programmhälften. Zudem sind sie beim Finale sehr präsent. An Opening
und Finale nehmen alle Mitwirkenden teil. Mit großen Fahnen ziehen sie
vom Gradin in die Manege. Genis Matabosch lässt es sich nicht nehmen,
selbst durch die Shows zu führen. Er macht das mit großer Präsenz und
viel Charme, ohne sich selbst zu sehr in den Vordergrund zu drängen.
Truppen vom Nationalcircus von Pyöngyang, Jinan Acrobatic Troupe
88
Artisten aus 18 Nationen wetteifern um die Preise. Die wichtigsten
Auszeichnungen, die Goldenen, Silbernen und Bronzenen Elefanten, werden
von der zehnköpfigen „offiziellen Jury“ vergeben. Diese besteht im
Wesentlichen aus Vertretern von namhaften Circussen. Maxim Nikulin jr.,
Nikolay Kobzov und Tatiana Zapashnaya seien hier stellvertretend
genannt. In Gold geht die einer Skulptur des in Figueres geborenen
Künstlers Salvador Dali nachempfundene Trophäe nach Nordkorea und
China. Der Nationalcircus von Pyöngyang erhält die Auszeichung für zwei
Darbietungen. Da ist zunächst ein Quartett auf dem Hochseil. In großer
Höhe springt einer der Artisten über seine drei auf dem Seil sitzenden
Partner. Ein anderer zeigt den Rückwärtssalto. Den Abschluss bildet
eine Pyramide zu dritt, bei der der Obermann auf einem Stuhl steht.
Gesichert werden die gefährlichen Tricks durch eine dicke Matte, die
von zwei Helfern auf dem Manegenboden unter den Artisten hin- und
hergetragen wird. Auf einer solchen landen auch die Akteure der zweiten
Nummer aus Nordkorea. Eine Dame und sieben Herren vereinen darin
Russische Schaukel, Schleuderbrett und Reck zu einer spannenden
Darbietung. Es werden wirklich alle denkbaren Sprungkombinationen
zwischen den drei Requisiten gezeigt. Am spektakulärsten sind aber die
meterhohen Sprünge von der Russischen Schaukel. Beim letzten dreht der
Artist unzählige Salti. 19 Personen umfasst die rein männliche Jinan
Acrobatic Troupe. Sie nehmen mit zwei Nummern am Festival teil. In der
einen arbeiten sie schier unglaubliche Varianten der Ikarischen Spiele.
In immer neuen Konstellationen bauen sie Türme, kreieren sie neue
faszinierende Abläufe, um sich gegenseitig mit den Füßen zu jonglieren.
Höchste Schwierigkeitsgrade werden spielend gemeistert. Noch mehr Spaß
macht das Zusehen bei ihren Hutjonglagen. Es beginnt mit einer
morgendlichen Szene, in der sich die Jungs in Gymnastik üben. Ihre
Konzentration wird von einem Mann mit Vogelkäfig gestört, der fröhlich
durch die Gruppe läuft. Die andächtige Stille weicht einem großen Bild
voller Lebendigkeit, Quirligkeit und Leichtigkeit. Die Hüte fliegen nur
so durch die Luft und werden immer wieder souverän aufgefangen. Wie bei
den Ikarischen Spielen entstehen immer neue, kreative Abläufe. Die
ungeheuer mitreißende Livemusik macht den Genuss perfekt.
Han Kuk Ryong, Truppe Shatirov, Our Story
Bei
den Gewinnern eines Silbernen Elefanten ist Nordkorea noch einmal
vertreten. Han Kuk Ryong beginnt seinen Auftritt mit
Handstandakrobatik am Boden im Stil von Anatoly Zalevsky. Den Hauptteil
seines Auftritts bestreitet er aber auf einer sich drehenden Plattform.
Immer mehr Handstäbe steckt er ineinander, bis es am Ende sieben Stück
auf jeder Seite sind. Auf dem schwankenden Gebilde hält er sich im
Handstand im Gleichgewicht. Schon während dieser Turm Etage für Etage
entsteht, fasziniert Han Kuk Ryong mit seinen Handstandvariationen. Ein
anspruchsvoller Hotelgast hält drei Pagen auf Trab – das ist die
Geschichte hinter den Leiterbalancen der Truppe Shatirov. Sie
inszenieren eine wilde Jagd auf eine Reisetasche. Dabei geht es die
Sprossen ihrer unkonventionellen Leiterkonstruktionen hinauf und
herunter. Die auf einer runden Plattform stehenden Leitern bilden so
schon eine Herausforderung. Das Quartett aus Russland erklimmt sie
sogar im Drei-Personen-Hoch. Die Artistik an sich ist sehr innovativ,
die Präsentation lebendig und fröhlich. Den Kontrast dazu bildet das
Duo „Our Story“. Die Liebesgeschichte der beiden Akrobaten aus der
Republik Moldau wird von getragenen Geigenklängen begleitet. Zu Beginn
ihrer Nummer treffen Iuliia Bezrukova und Igor Ticinschi erstmals
aufeinander, am Ende gehen sie wieder getrennte Wege. Dazwischen
zelebrieren sie eine ungemein ausdrucksstarke Kür am chinesischen Mast.
Diese intensive Auseinandersetzung zweier blendend aussehender junger
Menschen zieht einen in seinen Bann. In Szene gesetzt wurde sie von
Dmitry Chernov. Die artistische Leistung steht der schauspielerischen
in nichts nach.
Jack Dawson, Duo A & J, Audrey & Thomas
Bronze
gibt es für Jack Dawson. Der Australier zeigt als „Phoenix“ traumhafte
Sequenzen an den Tüchern. Er hat eine tolle Präsenz und arbeitet starke
Tricks, welche nicht ohne Risiko sind. Noch riskanter ist die Nummer
des Duo A & J. An den Strapaten nehmen sie uns mit ins Paradies.
Zumindest suggerieren das die Äpfel, die das attraktive Paar aus der
Ukraine in seinen Auftritt eingebaut hat. Dabei stellt insbesondere
Oleksii Malyi die Kraft seines Gebisses unter Beweis. Nämlich dann,
wenn er das Gewicht seiner Partnerin Julia Makarova und sein eigenes
mit den Zähnen hält. Die beiden schaffen wahrhaft paradiesische Bilder
unter der Kuppel, die ebenfalls mit einem Bronzenen Elefant belohnt
werden. Seinen großen Auftritt verdankt Alexander Dubinin dem
männlichen Teil des Royal Circus Ballets. Mit Queues in den Händen
entführen sie uns in einen Billardsaal. In dessen Zentrum jongliert der
blonde Russe mit weißen Bällen und wird so Teil der Szenerie. Dafür
gibt es noch einmal Bronze. An das Ballett vergibt die Jury einen
Spezialpreis. Der Publikumspreis geht an die Artisten aus Pyongyang,
die Kritikerjury zeichnet Handstandakrobat Han Kuk Ryong aus. Die
Fotografenjury entscheidet sich für Audrey (Labeau) & Thomas (Rhys
Evans). Die Französin und der US-Amerikaner lernten sich über Facebook
kennen. Ihre Darbietung aber beginnt ganz klassisch. Die beiden treffen
sich zum Rendezvous, das Telefon – mit Wählscheibe – klingelt. Sie
nimmt ab und spricht eine gefühlte Ewigkeit. Er nimmt Reißaus, begibt
sich ans Trapez. Kurz darauf folgt sie ihm und beide zeigen
leistungsstarke Akrobatik. Insbesondere die zahlreichen Handvoltigen
sind faszinierend. So leicht sie aussehen, so riskant sind sie auch.
Audrey wagt gefährliche Flüge, die von Thomas sicher aufgefangen
werden. Das Risiko ist nicht unerheblich. Die Zuschauer fiebern mit den
Artisten, genießen den charmanten Auftritt und sind am Ende doch
irgendwie froh, wenn Audrey & Thomas wieder den festen Boden der
Manege unter ihren Füßen haben.
Kalle Pikkuharju, Susana Reyes, Alyona Tsvetkova
Für
die meisten der weiteren Teilnehmer gibt es einen der zahlreichen
Sonderpreise. Aber auch wer leer ausgeht hat gute Chancen, ein
Engagement in einer renommierten Produktion zu erhalten. Denn die
Sichtbarkeit ist bei diesem Festival so oder so gegeben. Noch
ausdrucksstärker als bei seiner Teilnahme am European Youth Circus 2016
in Wiesbaden geworden ist Kalle Pikkuharju. Der Finne beherrscht die
für einen Mann ungewöhnliche Kunst der Kontorsion. Er hat seine
Aufmachung komplett umgestaltet und präsentiert sich jetzt im blauen
Kostüm als „Zephyr“. Der Kontorsion verschrieben hat sich ebenfalls
Susana Reyes. Sie verbindet ihre klassisch aufgemachte Nummer mit
Handstandakrobatik. Der Schuss mit einem Pfeil auf einen Luftballon
bildet den Schlusspunkt. Den Bogen bedient die Chilenin
selbstverständlich mit den Füßen. Abgesehen von drei Metallkugeln nutzt
Tulga große Baumstämme, um seine Kraft zu demonstrieren. Einen legt er
sich auf die Schultern und spielt damit Karussell für vier Artistinnen.
Einen anderen hält der Mongole mit den Zähnen, während er an Strapaten
in die Luft gezogen wird. Als Clou brennen die beiden Enden des Stamms.
Der Zehenhang am ausgestreckten Arm des Partners bildet den originellen
Höhepunkt der Tüchernummer von Veronika Rybchonak und Maksim
Vinahradau. Ansonsten verpackt das Paar aus Weißrussland viele
sehenswerte Tricks in seine Liebesgeschichte an den Bändern. Wie man
vier Personen übereinander auf eine schwingende Schaukel bekommt,
zeigen uns eindrucksvoll die Mitglieder der Formation De Tru aus
Vietnam. In farbenfrohen Kostümen arbeiten sie auf diesem für eine
Circusshow ungewöhnlichen Requisit spannende Balancen, die zumeist
mittels Longen gesichert werden. Zudem bringen sie die Folklore ihrer
asiatischen Heimat nach Spanien. Alyona Tsvetkova betritt die Manege in
einem roten Kleid und verlässt sie in diesem auch wieder. Bei ihrer
sinnlichen Kür an den Strapaten trägt sie allerdings nur ein
Nachtkleidchen. Wir dürfen die attraktive Russin also bei
ihrem Traum begleiten, in dem sie sich etwa ohne Hinzunahme der Hände
an den Strapaten im Spagat hält.