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European Youth Circus 2022
Bericht ; Preisträger ; 276 Showfotos

Wiesbaden, 13. bis 16. Oktober 2022: Es ist einfach immer wieder eine tolle familiäre Atmosphäre, die alle zwei Jahre in Wiesbaden herrscht. Fast ein bisschen wie in Monte Carlo trifft man viele Freunde und prominente Menschen der Circuswelt rund um das Festivalgelände und tauscht sich gemeinsam über Neuigkeiten aus. In diesem Jahr ist die Freude besonders groß, gab es doch ganze vier Jahre lang keinen European Youth Circus in der hessischen Landeshauptstadt. Wenn Jurysprecher Johnny Klinke von ganz hohem Niveau spricht, hat der Direktor des Frankfurter Tigerpalasts nicht Unrecht.

Auch in diesem Jahr bietet das Festival wieder eine gelungene Mischung aus bereits bekannten Gesichter und echten Neuentdeckungen und das eben auf einem insgesamt sehr hohen artistischen Niveau.


Maria Shevchenko, Angelina Federka & Oleksandra Chala, Johann Prinz

Ein bekanntes Gesicht ist zum Beispiel Goldgewinnerin Maria Shevchenko. Die 20-Jährige Ukrainerin erhielt bereits 2019 auf dem Festival in Latina Silber und war diese Saison mit dem Cirkus Brazil Jack auf Tournee. In Wiesbaden überzeugt sie nicht nur die Fachjury mit ihren riskanten Abfallern und Flügen an den Schlaufentüchern. Auch die Zuschauer sind vollends begeistert, so dass sich Maria Shevchenko zudem über den Publikumspreis freuen kann. Das zweite Gold bei den über 18-Jährigen wird an Angelina Federka & Oleksandra Chala überreicht. Auch sie kommen aus der Ukraine, leben allerdings nun in Berlin und zeigen eine gefällige Duo-Kontorsionistik, in welche sie zudem Figuren aus der Partnerakrobatik einfließen lassen. Auch Silber gibt es bei den über 18-Jährigen zweimal. Zum einen für Alexandra Malter mit ihrer Hula-Hoop Nummer in einem reizvollen Kostüm, welches für ordentlich Gesprächsstoff sorgt. Zum anderen für Johann Prinz an den Strapaten. Was der Absolvent der Berliner Artistenschule an den Stoffbändern zeigt, ist ganz große Klasse. Kraftvoll und von höchster Schwierigkeit!


Fleuriane Cornet, Ezra Veldman, Gerardo Segura Macias

Entspannend und völlig entschleunigend wirkt hingegen die Fahrraddarbietung von Fleuriane Cornet. Die Französin gewinnt neben dem Sonderpreis des Verbandes Deutscher Varieté-Theater völlig zu Recht auch einen der Hauptpreise und kann sich über Bronze freuen. Auch die Gewinner der insgesamt neun Sonderpreise sind alle in der Galashow am Samstag zu erleben. Ezra Veldman macht in der Gala sowie im Programm A den Anfang. Bis zu vier Diabolos jongliert der junge Niederländer, welcher im Gegensatz zu den meisten seiner Konkurrenten nicht auf eine Circusschule ging, sondern sich alles selbst beibrachte. Während er sich über den Sonderpreis der Circus-, Varieté- und Artistenfreunde Schweiz freut, geht der GCD-Sonderpreis an den Spross einer echten Circusfamilie. Gerardo Segura Macias heißt der Nachwuchs des spanischen Circus Quiros, der ganz klassisch auf dem Drahtseil tanzt, inklusive Sprung über eine Barriere, aber ohne Salto. Auch die italienischen Circusfreunde vergeben ihren Preis mit der Verleihung an Asia Perris an die klassische Darbietung eines Circuskindes. Bereits im Winterprogramm des Circus Krone konnten wir zusehen, wie die 24-jährige Italienerin ihre Handstände und Kontorsionistikfiguren à la Zalewski drückte.


Stefan Dvorak, Daniela Lavina, Anna Levina

Ein ganz Großer wird bestimmt mal Stefan Dvorak. Was der 17-jährige Österreicher schon auf der Rola-Rola kann, ist schier unglaublich und lässt so manchen Profi alt aussehen. Wenn er das aufgrund des Sonderpreises versprochene Engagement  im Tigerpalast antritt, muss er allerdings aufgrund der großen Höhe seiner Türme auf sein Podest verzichten. Handstände sind bei den unter 18-Jährigen mehrmals vertreten. Aus der Ukraine kommen die Schwestern Anna und Daniela Levina. Während Daniela für ihre Handstände auf einer Sanduhr den Sonderpreis von Recirquel aus den Händen von Kristian Kristof entgegen nehmen kann, darf sich ihre jüngere Schwester Anna über Bronze freuen. Keck und kindlich verspielt, springt sie in Zwei- und Einarmern, zwischen roten Backsteinen, von Stab zu Stab. An Weihnachten kann man dann die beiden Artistinnen im Ulmer Weihnachtscircus erleben.


Gabriel Dell'Acqua, Sára Nagyhegyi, Jeka Dehtiarov

Während die beiden Schwestern auch durch ihre komplett unterschiedlichen Inszenierungen überzeugen, steht bei Gabriel Dell'Acqua ganz die Leistung im Vordergrund. Zu pompöser Filmmusik und als kleiner Encho verkauft, drückt der 13-Jährige Handstände wie ein Weltmeister. Der Großteil des Publikums erhebt sich bei seinen Auftritten zu begeisterten Standing Ovations, doch es gibt auch kritische Stimmen. So darf die Frage gestellt werden, ob es gesund ist, wenn einem lange noch nicht ausgewachsenen Jungen solche Höchstleistungen abverlangt werden. Auch die Frage der Ästhetik, ob es schön ist, einem kleinen Jungen mit noch recht dünnen Armen minutenlang dabei zuzusehen, wie er ohne abzusetzen in Handstandpositionen verharrt, beantwortet hier wohl jeder anders. Überzeugt wird auf jeden Fall die Jury, welche Gold verleiht. Nicht ganz so spektakulär, aber nicht minder beeindruckend ist die Luftringnummer von Sára Nagyhegyi, welche von Publikum und Jury ebenfalls mit Standing Ovations gefeiert wird. Sehr dynamisch bewegt sich die 17-jährige Ungarin mit ihrem Requisit durch die Luft und bildet dabei eine harmonische Einheit mit ihrem Luftring. Immer perfekt abgestimmt auf ihre Musik, Bravo! Ihre ältere Kollegin Aliz Papdi, ebenfalls von der Budapester Artistenschule, geht hingegen leer aus, was sicherlich auch daran liegt, dass sie aufgrund einer Schulterverletzung nicht alle Tricks ihrer Cyrrad-Darbietung im Flamencostil zeigen kann. Zumindest technisch gesehen kann Cyrrad-Artist Jeka Dehtiarov mehr überzeugen, wenn auch hier die sehr moderne, aber dynamische Inszenierung unterschiedlichen Anklang findet. Er gewinnt den Sonderpreis der Wiesbadener Kirchen.


Charlotte Fischer, Matthes Speidel, Markian Strotsiak

Bis auf Strapatenkünstler Johann Prinz fahren die weiteren deutschen Artisten ohne Preise nach Hause. An der Berliner Artistenschule werden im nächsten Jahr Charlotte Fischer sowie das Trio Cenzolkas absolvieren. Erstere zeigt eine Flying-Pole-Darbietung, die schon einige schöne Tricks beinhaltet, während sich die drei Jungs zu Rockmusik auf dem koreanischen Schleuderbrett in die Höhe katapultieren. Wohnhaft in Tübingen und Absolvent aus Stockholm ist Matthes Speidel, der durchaus ein guter Keulenjongleur ist, mit dessen moderner Inszenierung aber nicht jeder etwas anfangen kann. Ein Jongleur auf technisch ganz hohem Niveau ist der erst 17-jährige Ukrainer Markian Strotsiak. Dass sein großes Vorbild Antony Gatto ist, erkennt man bei seinem Zusammenspiel aus Ringen (neun Stück), Keulen sowie größeren und kleineren Bällen sofort. Für viel Gesprächsstoff sorgt die Diabolo-Nummer des Finnen Henry Kangas. Er kommt nicht dazu, viele Tricks zu zeigen, da seine Diabolos immer wieder in ihre Einzelteile zerfallen. Einen Preis hätte man durchaus der Polin Nelly Turek-Dmitriev gegönnt, die an den Strapaten raumfüllend durchs Chapiteau fliegt. Auch das Trio um Veronika Khistova, Mariia Vorobei und Ameli Bilyk wäre preisverdächtig gewesen. Die jungen Ukrainerinnen zeigen auf nur jeweils einem Stab synchron ihre Handstandfiguren (meist im Einarmer) und halten dabei noch Hula-Hoop-Reifen mit den Beinen in Bewegung. Leider arbeitet die Darbietung in beiden Auswahlshows recht unsicher. Bei der Bekanntgabe der Galateilnehmer entscheidet Johnny Klinke kurzerhand, dass die Seilspringerinnen des finnischen Jugendcircus Bravuuri auch an der Gala teilnehmen dürfen. In einer gelungenen Inszenierung bringen die sechs Artistinnen viel Tempo in die Show und sorgen für ein raumfüllendes Bild.

 
Szene aus dem Opening

Über einen Preis kann sich in der Gala am Samstagabend auch der European Youth Circus freuen. GCD-Präsident Stefan Nolte überreicht den Zukunftspreis der Gesellschaft der Circusfreunde an Kulturamtsleiter Jörg-Uwe Funk. Seit 1992 veranstaltet das Kulturamt der Landeshauptstadt das Nachwuchsfestival und leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Nachwuchsförderung in der europäischen Circuswelt. Der Preis ist daher absolut gerechtfertigt und war vielleicht sogar längst überfällig. Verpackt sind die einzelnen Vorstellungen wiederum in fantastische Choreographien, welche die beiden Programmteile einleiten. Ebenso zum Finale. Die Artisten treffen sich an einem hübschen Kiosk mit Lichterketten und feiern ausgelassen gemeinsam. Die Inszenierung liegt bei Sebastiano Toma. Axel S. übernimmt wiederum die Moderation und kündigt die Artisten sympathisch an. Dazu gibt es Filmeinspielungen, in denen sich die jeweils nächste Darbietung vorstellt. Diese werden auf den Artisteneingang projiziert. Über dem Vorhang hat die Band ihren Platz. Leider lassen sich nur wenige Nummern live begleiten. So bleibt den Musikern vor allen Dingen das Spiel zu den Ensembleszenen.

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Text von unserer Redaktion; Fotos: Stefan Gierisch