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29. Festival Mondial du Cirque de Demain 2008
www.cirquededemain.com ; Fotogalerie A ; Fotogalerie B

Zum Teil äußerst leistungsstarke, zum Teil sehr innovative Darbietungen sorgten für ein interessantes 29. „Festival Mondial du Cirque de Demain“, das vom 31. Januar bis 3. Februar in Paris stattfand – zum zweiten Mail in den riesigen Zeltanlagen des Cirque Phénix anstatt im alterwürdigen Cirque d’Hiver. Das Chapiteau.de-Team sah die beiden Auswahlvorstellungen am 31. Januar und 1. Februar mit komplett unterschiedlichen Programmen. Beide Auswahlvorstellungen wurden im Laufe des Festivals wiederholt, außerdem gab es eine Vorstellung als "Hommage an den französischen Circus" und natürlich die Preisträgergala zum Abschluss.

Beide Auswahlvorstellungen begannen mit einem Einmarsch aller Artisten. Anstatt einer runden Manege war in diesem Jahr eine viereckige, erhöhte Bühne aufgebaut worden. Das Gradin im großen Zelt war jeweils nur zum Teil gefüllt.


Wei-Liang Lin, Sergei Tymofieiev, Suining Acrobatic Troupe, Alexander Kulakov

Viermal wurde Gold vergeben, drei dieser Entscheidungen gehen völlig in Ordnung: Wahnsinn war die Leistung der beiden jungen Chinesen der Suining Acrobatic Troupe: Einer der beiden zeigte den Klötzchen-Abfaller aus dem einarmigen Handstand, hüpfte dann weiterhin auf einer Hand 13 Stufen einer Treppe hinunter und – unglaublich – ohne abzusetzen wieder hinauf, zeigte oben noch einen schwierigen Trick mit dem Partner, und dann ging es auf zwei Händen die 13 Stufen hinunter – während der Partner auf einem Arm in seinem Nacken stand. Noch eine weitere Goldmedaille ging verdient nach Fernost, und zwar an den höllisch schnellen Diabolo-Spieler Wei-Liang Lin (Taiwan), für den viele Besucher begeistert im Stehen applaudierten. Ein Genuss auch die Jonglage des jungen Russen Alexander Kulakov – mit variantenreichen, unbeschreiblichen Wurfmustern, dargeboten in tänzerischen Posen zu einem französischen Chanson. Seine sieben Ringe waren auf einer Seite rot, auf der anderen weiß, was interessante Farbwechsel bei seiner Arbeit mit Händen und Füßen ermöglichte. Weshalb es für die Schwermut-Orgie ganz in Schwarz des ukrainischen Handstandartisten Sergei Tymofieiev Gold geben musste, sollte die 13-köpfige Jury unter Vorsitz von Coline Serreau (Präsidentin der Akademie Fratellini) genauer erklären.


Hebei Acrobatic Troupe, Flying Garamov, Morgan

Klar für Silber gesetzt war dagegen die sechsköpfige Flugtrapez-Truppe „Flying Garamovs“ (Russland) im Piraten-Outfit mit großem Repertoire inklusive dreifachem Salto. Die zusätzlich in den Luftapparat integrierte Russische Schaukel ermöglichte besonders weite Sprünge. Ebenso in Ordnung geht die Silbermedaille für den französischen Jongleur Morgan, der mit Händen, Füßen und Kopf, anfangs noch auf einem Stuhl sitzend, bis zu sieben Bälle jonglierte. Die dritte Silbermedaille ging an die sechs Mädchen der Hebei Acrobatic Troupe, für ihre Schirm-Antipoden – eine dieser merkwürdig unübersichtlichen, ohne Anflug von Freude am eigenen Tun präsentierten Truppen-Nummern aus China, die meines Erachtens Europa nicht braucht.


Duo Morosofie

Mehr als nur Bronze hätte man der Kontorsionistin und Equilibristin Arevik Seyranyan (Armenien) gegönnt, die ihre Arbeit mit einem unfassbaren Trick krönte: Sie steht im Handstand auf zwei Stangen, schwingt ihre Beine nach vorne und drückt sie immer weiter, zwischen den Armen hindurch, bis sie nach einer 360-Grad-Drehung die Ausgangsposition wieder erreicht haben. Ebenfalls mit Bronze ausgezeichnet wurde die originelle und starke Arbeit des männlich-weiblichen Duo Morosofie (Argentinien/Brasilien) am auf dem Boden stehenden Fangstuhl, einer etwa drei Meter hohen Stahlkonstruktion, die der Dame diverse Salti und Pirouetten von den und in die Arme des Partners ermöglichte – das ganze hübsch choreographiert als Auseinandersetzung eines Paars im Zwist, die dann friedlich mit einem Kuss endete.


Arevik Seyranyan


Hors Cycle, Henry Caycedo Casiero

Eine der originellsten und innovativsten Darbietungen des Festivals zeigte das männliche Duo „Hors Cycle“. Die beiden Artisten fuhren auf Fahrrädern über ein rundes Trampolin und hüpften darauf – bis hin zum Rückwärtssalto auf zwei Rädern, untermalt von einer ziemlich schrägen Version von „My fair Lady“-Klängen, einer von beiden Akteuren als Senior mit Rauschebart kostümiert.  Ebenso einfallsreich agierte José Henry Caycedo Casiero auf dem „dynamischen Seil“, einem Requisit ähnlich einem Drahtseil, nur dass hier ein dickes Tau elastisch gespannt wurde: Das ermöglichte ihm Sprünge ins Sitzen auf das Seil, aus denen er sich unter anderem in Vorwärts- und Rückwärtssalti katapultierte und nach einem Rückwärtssalto im Stehen auf dem Seil landete.


Akoreacro, Cie Le Carre Curieux

Nur wenige Darbietungen litten darunter, dass den Tricks eine mehrminütige "Inszenierung" vorangestellt war - zum Beispiel bei der Truppe „Akoreacro“ (Frankreich), deren Handvoltigen technisch aber hervorragend waren. Ähnlich anstrengend: das französisch-schweizerische Jonglage- und Diabolo-Duo „Cie Le Carre Curieux“ in einem Rollenspiel als Nervenarzt und Patient.


Ruben, Starbugs, Goos

Frappierend war das Humordefizit beider Auswahlprogramme: Weder der niederländische Clown Goos, unter anderem in einer Boxszene, noch der Spanier Ruben, unter anderem als Insekten-Imitator, schafften es, das Publikum zum Lachen zu bringen. Wenige Wochen später konnten wir im kleinen Zelt des Schweizer Cirque Starlight aber herzlich über sie - mit zum Teil anderen Darbietungen - lachen.  Das Publikum zu unterhalten, gelang im Pariser Riesenzelt dem schweizerischen Trio „Starbugs“ wesentlich besser, drei Jungs in weiß-roten Ringelshirts und Cargohosen, die zu einem absurden Musik-Potpourri zwischen „Titanic“-Schmachtmusik, „Y.M.C.A“ und „Final Countdown“ ein bisschen breakdancten, noch mehr blödelten und größere Mädchengruppen von den Sitzen rissen – großer Jubel.


Familie Goldini, Daniel Rossetti, Hakuna Matata Acrobats, Daria Khramtsova


Duo Madrona

Zu den eher klassischen Darbietungen gehörte das Duo Madrona (Großbritannien) am stehenden Trapez, der vom jüngsten Heilbronner Weihnachtscircus bekannte Handstandkünstler Daniel Rossetti (Italien) und sein Genre-Kollege Dmitry Proudnikov (Russland) als kraftvoller Gladiator in Einarmern auf einem Schwert. Eine Zierde für jedes klassische Circusprogramm wäre auch Daria Khramtsova (Russland) als weiblicher Torero am Schwungtrapez. Humorvoll und originell war die Hand-auf-Hand-Nummer im Mambo-Rhythmus der „Famille Goldini“ (Frankreich), die – anders als der Name vermuten ließ – aus nur zwei Akteuren besteht, Mann und Frau. Im  Rahmen des Üblichen blieben dagegen die „Hakuna Matata Acrobats“ in ihrer fröhlich-konventionellen Darbietung am chinesischen Masten.


Dmitry Proudnikov


Galina Kuzmenko, Cie Les 7 Doigts de la Main, Calixte de Nigremont, Toby Walker

Über wenig Ausstrahlung verfügte der britische Jongleur Toby Walker, der mit fünf Keulen jonglierte und dabei einen Ball auf dem Kopf balancierte und abschließend sechs Keulen in der Luft hielt. Die wohl schwächste Jonglage-Darbietung des Festivals, hier mit Ringen, präsentierte ausgerechnet die Victor-Kee-Schülerin Galina Kuzmenko (Russland), aber das immerhin – als Asiatin – im schönsten Kostüm. Eine leistungsstarke Arbeit an zwei chinesischen Masten zeigte die kanadische Truppe „Cie Les 7 Doigts de la Main“, vier Männer und eine Frau, zu eindringlicher „Radiohead“-Musik („I want to be someone else“). Eröffnet wurden die Vorstellungen jeweils von 16 jungen Artistinnen und Artisten der Zirkusschule aus Rosny-sous-Bois mit einem Schaubild verschiedener Disziplinen: Drahtseil und Schleuderbrett, chinesischer Mast und Schwungseil, Strapaten und Bodenakrobatik. Bemerkenswert schließlich waren noch das ausgezeichnete Orchester, das ebenso gute Licht und der prunkvolle Artisteneingang. Calixte de Nigremont gab wortreich den Monsieur Loyal.

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Text: Markus Moll; Fotos: Sven Rindfleisch