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Zum Teil äußerst
leistungsstarke, zum Teil sehr innovative Darbietungen sorgten
für ein interessantes 29. „Festival Mondial du Cirque de Demain“,
das vom 31. Januar bis 3. Februar in Paris stattfand –
zum zweiten Mail in den riesigen Zeltanlagen des Cirque Phénix
anstatt im alterwürdigen Cirque d’Hiver. Das Chapiteau.de-Team
sah die beiden Auswahlvorstellungen am 31. Januar und 1. Februar mit
komplett unterschiedlichen Programmen. Beide Auswahlvorstellungen
wurden im Laufe des Festivals wiederholt, außerdem gab es eine
Vorstellung als "Hommage an den französischen Circus" und natürlich
die Preisträgergala zum Abschluss. |
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Beide Auswahlvorstellungen begannen mit einem Einmarsch aller
Artisten. Anstatt einer runden Manege war in diesem Jahr eine
viereckige, erhöhte Bühne aufgebaut worden. Das Gradin im großen
Zelt war jeweils nur zum Teil gefüllt. |
Wei-Liang Lin,
Sergei Tymofieiev, Suining Acrobatic Troupe, Alexander Kulakov
Viermal wurde Gold vergeben, drei dieser
Entscheidungen gehen völlig in Ordnung: Wahnsinn war die
Leistung der beiden jungen Chinesen der Suining Acrobatic Troupe:
Einer der beiden zeigte den Klötzchen-Abfaller aus dem
einarmigen Handstand, hüpfte dann weiterhin auf einer Hand 13
Stufen einer Treppe hinunter und – unglaublich – ohne abzusetzen
wieder hinauf, zeigte oben noch einen schwierigen Trick mit dem
Partner, und dann ging es auf zwei Händen die 13 Stufen hinunter
– während der Partner auf einem Arm in seinem Nacken stand. Noch
eine weitere Goldmedaille ging verdient nach Fernost, und zwar
an den höllisch schnellen Diabolo-Spieler Wei-Liang Lin
(Taiwan), für den viele Besucher begeistert im Stehen
applaudierten. Ein Genuss auch die Jonglage des jungen Russen
Alexander Kulakov – mit variantenreichen, unbeschreiblichen
Wurfmustern, dargeboten in tänzerischen Posen zu einem
französischen Chanson. Seine sieben Ringe waren auf einer Seite
rot, auf der anderen weiß, was interessante Farbwechsel bei
seiner Arbeit mit Händen und Füßen ermöglichte. Weshalb es für
die Schwermut-Orgie ganz in Schwarz des ukrainischen
Handstandartisten Sergei Tymofieiev Gold geben musste, sollte
die 13-köpfige Jury unter Vorsitz von Coline Serreau
(Präsidentin der Akademie Fratellini) genauer erklären. |
Hebei Acrobatic Troupe, Flying
Garamov, Morgan
Klar für Silber
gesetzt war dagegen die sechsköpfige Flugtrapez-Truppe „Flying
Garamovs“ (Russland) im Piraten-Outfit mit großem Repertoire
inklusive dreifachem Salto. Die zusätzlich in den Luftapparat
integrierte Russische Schaukel ermöglichte besonders weite Sprünge.
Ebenso in Ordnung geht die Silbermedaille für den französischen
Jongleur Morgan, der mit Händen, Füßen und Kopf, anfangs noch auf
einem Stuhl sitzend, bis zu sieben Bälle jonglierte. Die dritte
Silbermedaille ging an die sechs Mädchen der Hebei Acrobatic Troupe,
für ihre Schirm-Antipoden – eine dieser merkwürdig
unübersichtlichen, ohne Anflug von Freude am eigenen Tun
präsentierten Truppen-Nummern aus China, die meines Erachtens Europa
nicht braucht. |
Duo Morosofie |
Mehr als nur Bronze
hätte man der Kontorsionistin und Equilibristin Arevik Seyranyan
(Armenien) gegönnt, die ihre Arbeit mit einem unfassbaren Trick
krönte: Sie steht im Handstand auf zwei Stangen, schwingt ihre Beine
nach vorne und drückt sie immer weiter, zwischen den Armen hindurch,
bis sie nach einer 360-Grad-Drehung die Ausgangsposition wieder
erreicht haben. Ebenfalls mit Bronze ausgezeichnet wurde die
originelle und starke Arbeit des männlich-weiblichen Duo Morosofie
(Argentinien/Brasilien) am auf dem Boden stehenden Fangstuhl, einer
etwa drei Meter hohen Stahlkonstruktion, die der Dame diverse Salti
und Pirouetten von den und in die Arme des Partners ermöglichte –
das ganze hübsch choreographiert als Auseinandersetzung eines Paars
im Zwist, die dann friedlich mit einem Kuss endete. |
Arevik Seyranyan |
Hors Cycle, Henry
Caycedo Casiero
Eine der originellsten und innovativsten Darbietungen des Festivals
zeigte das männliche Duo „Hors Cycle“. Die beiden Artisten fuhren
auf Fahrrädern über ein rundes Trampolin und hüpften darauf – bis
hin zum Rückwärtssalto auf zwei Rädern, untermalt von einer ziemlich
schrägen Version von „My fair Lady“-Klängen, einer von beiden
Akteuren als Senior mit Rauschebart kostümiert. Ebenso
einfallsreich agierte José Henry Caycedo Casiero auf dem
„dynamischen Seil“, einem Requisit ähnlich einem Drahtseil, nur dass
hier ein dickes Tau elastisch gespannt wurde: Das ermöglichte ihm
Sprünge ins Sitzen auf das Seil, aus denen er sich unter anderem in
Vorwärts- und Rückwärtssalti katapultierte und nach einem
Rückwärtssalto im Stehen auf dem Seil landete.
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Akoreacro, Cie Le Carre Curieux |
Nur wenige Darbietungen litten darunter, dass den Tricks eine
mehrminütige "Inszenierung" vorangestellt
war - zum Beispiel bei der Truppe „Akoreacro“ (Frankreich),
deren Handvoltigen technisch aber hervorragend waren. Ähnlich anstrengend: das französisch-schweizerische Jonglage- und Diabolo-Duo „Cie Le Carre Curieux“ in einem
Rollenspiel als Nervenarzt und Patient. |
Ruben, Starbugs,
Goos
Frappierend war
das Humordefizit beider Auswahlprogramme: Weder der
niederländische Clown Goos, unter anderem in einer Boxszene,
noch der Spanier Ruben, unter anderem als Insekten-Imitator,
schafften es, das Publikum zum Lachen zu bringen. Wenige Wochen
später konnten wir im kleinen Zelt des Schweizer Cirque
Starlight aber herzlich über sie - mit zum Teil anderen
Darbietungen - lachen. Das Publikum zu unterhalten, gelang im
Pariser Riesenzelt dem schweizerischen Trio „Starbugs“ wesentlich
besser, drei Jungs in weiß-roten Ringelshirts und Cargohosen, die
zu einem absurden Musik-Potpourri zwischen „Titanic“-Schmachtmusik,
„Y.M.C.A“ und „Final Countdown“ ein bisschen breakdancten, noch
mehr blödelten und größere Mädchengruppen von den Sitzen rissen
– großer Jubel.
Familie Goldini, Daniel Rossetti, Hakuna Matata Acrobats, Daria
Khramtsova
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Duo Madrona |
Zu
den eher klassischen Darbietungen gehörte das Duo Madrona
(Großbritannien) am stehenden Trapez, der vom jüngsten Heilbronner
Weihnachtscircus bekannte Handstandkünstler Daniel Rossetti (Italien)
und sein Genre-Kollege Dmitry Proudnikov (Russland) als kraftvoller
Gladiator in Einarmern auf einem Schwert. Eine Zierde für jedes
klassische Circusprogramm wäre auch Daria Khramtsova (Russland) als
weiblicher Torero am Schwungtrapez. Humorvoll und originell war die
Hand-auf-Hand-Nummer im Mambo-Rhythmus der „Famille Goldini“
(Frankreich), die – anders als der Name vermuten ließ – aus nur zwei
Akteuren besteht, Mann und Frau. Im Rahmen des Üblichen blieben
dagegen die „Hakuna Matata Acrobats“ in ihrer fröhlich-konventionellen
Darbietung am chinesischen Masten. |
Dmitry Proudnikov |
Galina Kuzmenko, Cie Les
7 Doigts de la Main, Calixte de Nigremont, Toby Walker
Über wenig Ausstrahlung verfügte der
britische Jongleur Toby Walker, der mit fünf Keulen jonglierte und
dabei einen Ball auf dem Kopf balancierte und abschließend sechs
Keulen in der Luft hielt. Die wohl schwächste Jonglage-Darbietung des
Festivals, hier mit Ringen, präsentierte ausgerechnet die
Victor-Kee-Schülerin Galina Kuzmenko (Russland), aber das immerhin –
als Asiatin – im schönsten Kostüm. Eine leistungsstarke Arbeit an zwei
chinesischen Masten zeigte die kanadische Truppe „Cie Les 7 Doigts de
la Main“, vier Männer und eine Frau, zu eindringlicher „Radiohead“-Musik
(„I want to be someone else“). Eröffnet wurden die Vorstellungen
jeweils von 16 jungen Artistinnen und Artisten der Zirkusschule aus
Rosny-sous-Bois mit einem Schaubild verschiedener Disziplinen:
Drahtseil und Schleuderbrett, chinesischer Mast und Schwungseil,
Strapaten und Bodenakrobatik. Bemerkenswert schließlich waren noch das
ausgezeichnete Orchester, das ebenso gute Licht und der prunkvolle
Artisteneingang.
Calixte de Nigremont gab wortreich
den Monsieur Loyal. |
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Text: Markus Moll; Fotos: Sven Rindfleisch
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