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Cirque Starlight - Tour 2023
www.cirquestarlight.ch ; 92 Showfotos

La Chaux-de-Fonds, 7. Mai 2023: Der Cirque Starlight der Familie Jocelyne und Heinrich Gasser dürfte in dieser Form einzigartig sein. Nicht nur, dass das Unternehmen sich gewandelt und vor mehr als 20 Jahren einen neuen Weg eingeschlagen hat – von traditioneller Manegenunterhaltung hin zum Cirque Nouveau kanadischer Prägung. Der ältere Direktionssohn Johnny Gasser hatte dieses Konzept mit in die Schweiz gebracht und seine Eltern davon überzeugt. Nein, bei Starlight gelingt es darüber hinaus, dass der jüngere Sohn Christopher inzwischen selbst die Konzepte für die jährlich wechselnden Produktionen entwickelt.

Der Spross der weit verzweigten Schweizer Circusfamilie, diplomiert an französischen Theaterschulen, ist als Autor und Regisseur der Kopf eines ganzen Kreativteams, zu dem außerdem Lorène Martin (Kostüme), Edelio Lopez Vasquez (Choreographie), Antonin Bouvret (Bühnenbild), Manuel Voirol (Musik), Johnny Gasser (technische Diektion) und Claude Bariteau (Licht) gehören. Sicher mussten Jocelyne und Heinrich Gasser immer wieder auf ihre innere Stimme hören und dieser vertrauen, um die Wege mitzugehen, auf die ihre Kinder vordringen wollten. Dass der Weg der richtige war, davon sind sie schon lange fest überzeugt.


Schlangen vor der Kasse beim Gastspiel in La-Chaux-de-Fonds

Und das Bild eines ausverkauften Chapiteaus an diesem Sonntagmorgen in La Chaux-de-Fonds ist Beleg genug. Zwei Monate nach der Saisonpremiere spricht Heinrich Gasser von einem großen Erfolg. Während der dreimonatigen Tournee wechseln sich öffentliche Vorführungen und verkaufte Schulvorstellungen ab.


Batchimeg Batbeh und Azjargal Damba, Renaud Monthoux, Laurine Dumora

Um die innere Stimme geht es auch in „MOI“ (zu Deutsch: „mich“), der neuen Kreation von Christopher D. Gasser. Diese Stimme fordere uns jeden Tag und zu jeder Zeit. Sie sage uns, was und wie wir es tun sollen – in einer Welt zwischen Zweifeln und Perspektiven, in der unzählige Türen Zugang zu unseren Gedanken und unserer Vorstellungskraft bieten. Und so erleben wir im Opening das gesamte Ensemble, das durch verschiedene Türen auf der Bühne tritt oder sich in geöffneten Türen gegenübersteht wie vor einem Spiegel. Aus der Artistenschar sticht der junge Komiker und Sänger Renaud Monthoux hervor. Der Mann ganz in schwarz – mit Hose, Weste, Gehrock und Zylinder – entsteigt einem großen Käfig und ist offenkundig auf der Suche nach etwas. Es ist die „Lösung“, die er vermisst und der er hinterherjagt. Dazu blättert er immer und immer wieder in weißen Flugblättern, die eine besondere Rolle in dieser Produktion spielen und an verschiedensten Stellen zum Einsatz kommen. Die erste artistische Nummer gehört Laurine Dumora. Sie erwacht aus dem Schlaf und wechselt dann ans Tanztrapez, wo sie an den Seilen einen Überschlag zeigt, in der Luft kreist, Rückwärts-Umschwünge um die Stange beherrscht oder den Fershang wagt.


Eisuke Saito, Jessica Gasser, Alexia Voirol

Eisuke Saito bastelt für seine Angebetete ein Herz aus einem Luftballon, doch der Mann in schwarz zerstört den Ballon, worauf sein Gegenüber weinen muss. Nun tritt die Komikerin Alexia Voirol auf, in ein wundervolles Kleid aus mehr als 4000 leeren Luftballons gehüllt. Es wurde eigens im und für den Cirque Starlight gefertigt. Ohnehin zeichnet sich diese Produktion durch sehr schöne Kostüme aus, die schwarzen Grund mit vielfarbigen Zeichnungen kombinieren, wie sie sich auch auf dem Gesicht im Plakatmotiv wiederfinden. Neben seinem Beitrag zur Handlung beweist Eisuke Saito, dass er auch ein famoser Diabolojongleur ist. Bis zu drei von ihnen lässt er fliegen, begleitet von dynamischer Livemusik. Leistung und Musik lassen das Publikum gleich mitgehen. Letztere wird auf der Empore des Bühnenbildes von Sylvie Amadio (Akkordeon), Manuel Voirol (Violine) und Leonardo Francia (Percussion) gespielt – es ist das erste Mal in mehr als 15 Jahren, in denen wir den Cirque Starlight verfolgen, dass auf der Bühne Musik gemacht wird. Leonardo Francia und Direktionstochter Jessica Gasser haben übrigens während des Gastspiels in La Chaux-de-Fonds geheiratet, ebenso wie Christopher D. Gasser und seine Partnerin. Jessica Gasser ist nach längerer Pause wieder einmal in einem der Starlight-Programme vertreten. Eigentlich hat sie sich eine Duo-Trapeznummer gemeinsam mit Elise Martin erarbeitet, doch aufgrund einer Verletzung der Partnerin zeigt sie eine Ersatznummer am Luftring. Strapatenbänder am Requisit sorgen für zusätzliche Möglichkeiten.


Renaud Monthoux, Dimitri Terribilini, Jessica Gasser

Auf seiner Suche nach sich selbst rezitiert Renaud Monthoux, der Mann in schwarz bekannte Zitate der Weltliteratur („Sein oder nicht sein“) und die große Frage, was denn nun zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Wenn Dimitri Terribilini seine Akrobatik am Masten zeigt, dann tut er dies in einem Kranz aus Türen, die sein Requisit umringen. Scheinbar mühelos erklimmt er dieses, zelebriert kraftvolle Posen. Die Damen des Ensembles feuern ihn zunächst an, lassen ihn dann jedoch alleine. Schlussendlich saust er kopfüber den Mast hinunter, sich nur mit den Füßen haltend, und stoppt nur knapp über dem Boden. Jessica Gasser und weitere Artistinnen stehen im Mittelpunkt einer Nummer, bei der sich im Dunkeln fluoreszierende Hula-Hoop-Reifen drehen und mit ebenso leuchtenden Reifen jongliert und getanzt wird, begleitet von aufpeitschenden Klängen.


Batchimeg Batbeh und Azjargal Damba, Eisuke Saito, Laurine Dumora

Hälfte zwei nach der Pause startet ebenfalls mit in der Dunkelheit leuchtenden Requisiten. Insgesamt vier Diabolos hängen an langen Schnüren, die an dem unter der Zeltkuppel schwebenden Käfig befestigt sind. Eisuke Saito beweget sie mit dem Seil zwischen den Handstöcken in der Art einer Horizontaljonglage, wie wir sie mit Bällen kennen. Dazu lässt der schwarze Mann von oben seine Flugblätter regnen. Zurück am Boden, sammelt er diese hektisch wieder ein. Batchimeg Batbeh und Azjargal Damba zelebrieren Haltefiguren an einem interessanten luftakrobatischen Requisit. Es besteht aus zwei ineinander verschränkten Luftringen, so dass quasi eine Kugelform entsteht. Eine Mittelachse, aber auch zwei Handschlaufen bieten zusätzliche Möglichkeiten für Tricks. So hält sich eine der Artistinnen nur mit einem Fuß zwischen den Oberschenkeln der Partnerin. Ein doppelter Genickhangwirbel gehört ebenfalls zum Repertoire. Der rastlose Mann in schwarz wird von Jessica Gasser schließlich dazu aufgefordert, seine Suche zu beenden, sich zu befreien und lieber auf die innere Stimme zu hören. Er hört auf sie und zerknüllt seine Blätter, in denen er zuvor die Wahrheit suchte. Laurine Dumora dreht nun zu rockig-fröhlicher Musik ihre Runden im Rhönrad, nicht nur die Lichtstimmung wird zunehmend heller.
 


Batchimeg Batbeh und Azjargal Damba, Laurine Dumora, Alexia Voirol

Der aus seinen Zwängen befreite schwarze Mann wagt nun einen fröhlichen Tanz gemeinsam mit den anderen. Nochmals gibt es einen melancholischen Moment – bei einer Reminiszenz an das Programm 2022, in dem Renaud Monthoux ebenfalls das prägende Gesicht war und damals den Wächter des Limbus, der Vorhölle, spielte. Wieder ertönt sein damaliger, sehnsuchtsvoller Gesang und erscheinen die markanten Maskenfiguren. Sie verkörpern Seelen, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Doch schnell werden sie von den anderen weggezogen. Aexia Voirol erscheint nochmals in einer wundervollen Kostümkreation, einem eleganten roten Kleid, in dem sie mit dem Mann in schwarz einen Tango tanzt. Wunderbar sind auch die mit unzähligen Spiegeln besetzten Kleider, die Batchimeg Batbeh und Azjargal Damba tragen. In einer geöffneten Tür stehen sie sich zunächst gegenüber wie beim klassischen „Spiegelentree“, werfen sich ihre Jonglierkeulen dann bei Passings durch den Türrahmen zu, begleitet von treibender Musik. Rücken an Rücken, dann auf Einrädern und Hochrädern zeigen sie ihre Jonglagekunst. Zurück am Boden gelingt es der einen, sämtliche Requisiten zu fangen, die ihr von der Partnerin zugeworfen werden. Nun befreit sich der schwarze Mann endgültig von seinen Flugblättern und hört nur noch auf die innere Stimme. Laurine Dumor zelebriert ihre intensive Akrobatik am Vertikalseil, von eindringlichem Chorgesang begleitet. Nochmal defiliert Alexia in einem herrlichen Kleid, dieses erscheint nun wie aus Flugblättern gefertigt. Und aus der geöffneten Tür im Hintergrund weht ein Sturm der nun nutzlos gewordenen Flugblätter auf die Bühne.

In zwei intensiven Probenmonaten – davon einer in der Trainingshalle und einer im Chapiteau – haben Christopher D. Gasser, sein Kreativteam und das Artistenensemble diese eindrucksvolle Produktion geschaffen. Sie vereint in sich alle Facetten der darstellenden Künste. Dazu gehören natürlich starke akrobatische Leistungen, aber auch Schauspiel und Gesang, Musik und Tanz. Aspekte der bildenden Kunst wie Szenographie und Kostümdesign kommen hinzu. Letztendlich wird daraus ein Gesamtkunstwerk des modernen Circus, das vom Publikum stürmisch beklatscht wird. Bereits heute sind wir gespannt, mit welcher außergewöhnlichen Kreation uns der Cirque Starlight im nächsten Jahr überraschen wird.

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Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Moll