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Circus Knie - Tour 2023
www.knie.ch ; 209 Showfotos

Rapperswil, 10. März 2023: Wer im Orchester des Circus Knie arbeiten will, muss nicht nur musikalische Fähigkeiten mitbringen, sondern sollte auch einigermaßen schwindelfrei sein. Denn das Podium, auf dem das Ensemble unter der Leitung von Ruslan Fil sitzt, wechselt in jeder Vorstellung mehrfach die Höhe. Das in der Show eingesetzte Material ist in dieser Saison so imposant, dass dieses Auf und Ab notwendig wird. Da gibt es eine Wasserbühne, die mit einem Raupenfahrzeug bewegt wird, eine doppelte Halfpipe mit eindrucksvollen Ausmaßen und eine riesige Motorradkugel.

Hinzu kommt ein Ring, der den in der Werbung herausgestellten Wasservorhang erzeugt. Dieser hängt allerdings permanent in der Kuppel. Die Logistik dahinter ist immens, die so erzeugten Effekte einmalig. Und doch schaffen es bei aller Technik auch die Elemente des klassischen Circus, das Publikum zu überzeugen. Wenn Ivan Pellegrini 32 Pferde dirigiert, ist das einfach „magisch“. Wenn Chanel Marie Knie die Hohe Schule mit einer unglaublichen Präsenz reitet, zieht einen das sofort in seinen Bann. Und wenn beider Bruder Maycol junior ein Pony vorführt, ist das schlichtweg hinreißend goldig. Das sind jene Glücksmomente, die der Schweizer National-Circus in diesem Jahr ganz besonders verspricht.


Opening

Bereits beim Opening wird klar, dass die Plätze in der ersten Reihe in dieser Saison nicht die besten sind. Denn das Charivari findet auf der große und eben auch hohen Bühne statt. Um alles zu erkennen, muss man ganz vorne ordentlich die Hälse strecken. Der Auftakt gerät bereits imposant. Nicht nur ein Bingo-Ensemble ist dabei, sondern ebenfalls ein Großteil des vielköpfigen Ensembles. Alle Akteure sind in schicke rote Outfits gekleidet. Es wird getanzt, die Schlangenmädchen verbiegen sich geschmeidig, die Schleuderbrett-Truppe zeigt ihre Fähigkeiten als Seilspringer und an zwei Spiralen erleben wir Luftakrobatik. Gleich von Anfang an volle Power, volle Dynamik. Die Musik ist in diesem Jahr wieder sehr modern und mitreißend. Das Licht wurde weiter optimiert, sprich umfangreicher gestaltet und unterstützt die Gesamtwirkung enorm.


Jeka Dethairov, Marcel Haller

Dann gehört die Szene einem Solisten. Jeka Dethiarov sahen wir im vergangenen Jahr beim European Youth Circus. Jetzt gibt er den „Silver Boy“, der mit seinem Roue Cyr zunächst kurz über der Bühne arbeitet, während die ersten Tropfen Wasser fallen. Dann geht es auf dem Boden weiter, wo der junge Ukrainer eine ausgefeilte, anspruchsvolle Kür zelebriert. Vor den letzten Posen am Boden wird er an einer Luftschlaufe nochmals in die Höhe gezogen. Wieder setzt Regen ein. Es entsteht ein eindrucksvolles Bild. Letztendlich bilden Dethiarov und sein großer Reifen auch das Plakatmotiv. Dann erscheint aus dem Publikum Marcel Haller alias „Erwin aus der Schweiz“. 8.000 Schweizer Franken ist ihm sein Engagement im Circus Knie wert, wie er in einem seiner ersten Gags bemerkt. Der liebenswürdige Komiker begleitet uns durch den Abend. Einige seiner zumeist hintergründigen Witze kennt man bereits, die meisten sind aber zumindest für uns neu und damit originell. Er wirkt zunächst ein wenig zurückhaltend, hat es aber letztendlich doch faustdick hinter den Ohren. Zudem ist er ein wunderbarer Zauberer. Er lässt Weinflaschen erscheinen und verschwinden, „verwandelt“ sich in Maycol junior oder bringt zwei Zuschauer beim Anheben eines großen Kartons zur Verzweiflung. Aktuell kann man sich seine Einlagen noch eher auf einer Kleinkunstbühne vorstellen. Aber vermutlich wächst er im Verlauf der Saison noch weiter in die dieses Jahr besonders große und moderne Show von Knie herein. So oder so sorgt er für viele heitere Momente.


Mongolian Contortion, Extreme Light, Truppe Zola

Mongolian Contortion nennt sich das Quartett, das eine klassische Kontorsionsdarbietung zeigt. Die Artistinnen verblüffen in Ganzkörperkostümen mit extremer Körperbeherrschung und kreieren so anmutige Bilder. Erst wenn die Artistinnen am Ende auf einer kleinen Rundbühne nach oben gefahren werden, ist die Sicht auch von ganz vorne optimal. Zur vollen Geltung kommt der große Wasservorhang erstmals, wenn Ekaterina Errani, Oksana Errani und Tetyana Bitkine ihre rockige Kür an den Strapaten vollführen. Immer wieder geht es für eine oder zwei von ihnen in die Luft, während die anderen am Boden tanzen. Ein rotes Tuch wird in ihr Spiel einbezogen. Dazu fällt der Regen aus der Kuppel. Auf der Wasserfläche werden verschiedene Ornamente erzeugt. Es entstehen fantastische, großflächige Effekte. Dann stellen die Spots Violinistin Evgeniya Aknazarova auf einem der Aufgänge des Gradins in den Mittelpunkt des Geschehens. Mit diesem „Ablenkungsmanöver“ wird das Herausfahren der Bühne überbrückt. Nach der Flaschenzauberei von Marcel Haller gehört die Manege Extreme Light, die aus dem Vorjahr prolongiert wurden. Bei ihrem Auftritt im Dunkeln spielen wiederum beleuchtete Kostüme eine wichtige Rolle. Diese können Farbe und Muster wechseln, wenn die Akteure tanzen. Hinzu kommen nun raumgreifende Lasereffekte, die aufwendig gestaltet sind und für Staunen sorgen. Die Truppe Zola sahen wir beim Heilbronner Weihnachtscircus noch in traditionellen Kostümen ihrer mongolischen Heimat. Für ihr Engagement bei Knie bekamen die Akteure der Schleuderbrett-Truppe eine neue Choreographie im Bingo-Stil. Die Kostüme sind jetzt weiß mit bunten Applikationen, die Musik ist modern und es wird dynamisch getanzt. Sogar Mitglieder von Bingo wirken in der Nummer mit. Geblieben sind die starken Tricks bis hin zum Sechs-Personen-Hoch mit Perchestange. Ebenfalls dabei ist die Landung in einem Sessel, der auf einer Perchestange ruht. Dessen Träger steht mit Stelzen auf einer horizontalen Stange, die auf den Schultern von zwei weiteren Artisten liegt. Vermutlich eine der aktuell stärksten Darbietungen des Genres, die eine perfekte Schluss-, zumindest aber Pausennummer abgeben würde.


Chanel Marie Knie, Maycol junior

Letztere gehört aber der achten Generation der Familie Knie. Maycol junior übernimmt die Begrüßung. Er erscheint auf magische Weise und wird von zwei Bingo-Artistinnen in die Manege geleitet. Noch mehr Bingo-Akteure begleiten vor dem Artisteneingang die Hohe Schule von Chanel Marie Knie. Und damit überrascht die Zwölfjährige das Publikum in allen Belangen. Sie wirkt deutlich älter, ja erwachsener als noch im vergangenen Jahr. Souverän und mit einer gewinnenden Ausstrahlung sitzt sie im Sattel. Reiterisch überzeugt sie ebenfalls voll und ganz. Anspruchsvolle Elemente der Hohen Schule reiht sie zu einer abgerundeten Choreographie aneinander. Obwohl noch nicht einmal Teenagerin, zeigt Chanel hier ausgereifte Reitkunst. Deutlich spielerischer gibt sich da natürlich Maycol junior, wenngleich auch er konzentriert bei der Sache ist. Gemeinsam mit seinem großen Bruder Ivan Frédéric dirigiert er ein Groß und Klein. Zur Belohnung gibt es für sein am Ende im Sägemehl liegendes Pony ausgiebige Streicheleinheiten. 2015 führte Maycol Errani das große Pferdekarussell vor, 2019 sein Schwiegervater Fredy Knie junior und wiederum vier Jahre später zeigt nun dessen Enkelsohn Ivan Frédéric diese Königsdisziplin der Freiheitsdressur. Ruhig und souverän lenkt er nicht weniger als 32 Pferde, die am Ende auf drei Bahnen gegeneinander laufen. Dies sogar mit beleuchteten Geschirren im Dunkeln. Immer wieder ein faszinierendes Schauspiel zu erleben, wie diese große Gruppe an Tieren präzise den Anweisungen ihres Vorführers folgt und die Trickfolge wirklich wie am Schnürchen abläuft. Vor dem gemeinsamen Kompliment mit den Geschwistern verwöhnt uns Ivan Frédéric Knie noch mit verschiedenen Steigern.


Ordonez Freestyle BMX, Five Boys, Kateryna Korneva

Zu Beginn des zweiten Teils erweisen sich die vermeintlichen besten Plätze wieder als problematisch. Denn für die Besucher in den ersten Reihen in der Mitte ist die Sicht aufgrund einer Plexiglaswand und Metallstreben stark eingeschränkt. Sie sind Teil der riesigen Konstruktion, auf der Juan Ordonez und seine drei Mitstreiter rasante Stunts mit BMX-Rädern wagen. Das Requisit ist wirklich imposant und die Sprünge, die die Kolumbianer auf ihren Bikes riskieren, sind es ebenfalls. Die beiden Halfpipes ermöglichen viel Action, die wir letztendlich auch zu sehen bekommen. Für musikalische Akzente sorgen Violinistin Evgeniya Aknazarova und der E-Gitarrist des Orchesters in der Manege. Während Bingo-Artistinnen auf den Treppen des Gradins flotte Moves präsentieren, wird der Parcours für die BMX-Artisten herausgebracht und die große Bühne hereingefahren. Und das, obwohl die folgenden drei Darbietungen ohne Wassereffekte auskommen. Die Five Boys sind zumindest am Premierenabend nur zu viert. Zwei von ihnen erleben wir mit Hand-auf-Hand-Akrobatik, die beiden anderen an zwei Masten. Da alle zum Circus-Theater Bingo gehören, verwundert es nicht, dass beide Disziplinen in einer durchgehenden Choreographie zusammengefügt werden. Kateryna Korneva war 2022 als Teil des Duo El Beso bei Knie. Jetzt arbeitet sie wiederum am Flying Pole, aber eben im Solo. Auch der kleine Ring ist wieder dabei. Nun ist er für die gefährlichsten Tricks am Ende der fliegenden Stange befestigt. Wenn Kateryna daran mit nur einer Ferse hängt, hält das Publikum den Atem an. Auch davor begeistert sie mit einer wunderbaren Kür, die durchaus riskant ist. Das Geigenspiel von Evgeniya Aknazarova auf der Bühne begleitet ihre Höhenflüge.


Dust in the Wind, Evgeniya Aknazarova, Globe of Speed

Maite Ramirez und Julio Fajardo bilden das Duo Dust in the Wind. Hand-auf-Hand, Kopf-auf-Hand und Kopf-auf-Kopf – das alles sind Bestandteile ihrer Partner-Equilibristik. Ebenso elegante Flüge von Maite, nach denen sie sicher von Julio wieder aufgefangen wird. Eingebettet ist ihre Artistik in einer feurigen Tanz lateinamerikanischer Prägung. Bis zur Sommerpause werden Dust in the Wind bei Knie zu erleben sein. In der zweiten Tourneehälfte gibt es dann eine andere akrobatische Nummer. Während hinter einem im Zuschauerraum Marcel Haller mit Maycol junior über Poesie und Circus philosophiert, pflügen sich in der Manege die Ketten des Bühnenfahrzeugs durch das Sägemehl. Da fällt es schon ein wenig schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenig später sitzt Maycol junior auf einem kleinen Quad und zieht vermeintlich die große Motorradkugel hinter sich herein. Diese Version des Globe of Speed ist wirklich gigantisch. Zudem erlauben die vergleichsweise dünnen Streben eine gute Sicht auf das Geschehen im Inneren. Am Ende sind es eine Fahrerin und neun Fahrer, die gleichzeitig auf ihren Maschinen durch den runden Gitterkäfig donnern. Zusätzlichen Nervenkitzel liefern die verschiedenen Figuren, die sie fahren. Etwa dann, wenn sich die Wege der Maschinen kreuzen. Rot und weiß sind die Farben des Finales. Natürlich ist wieder die große Bühne aufgebaut. In ihrer Mitte steht die Violinistin, darum herum die Artisten und auf einem Podium dahinter die Bingo-Mitglieder. Während Evgeniya Aknazarova musiziert, wird sie auf einer Plattform nach oben gefahren. Unter dem rhythmischen Klatschen des restlichen Ensembles erleben wir noch einmal eindrucksvolle Bilder, die auf der Wasserfläche des Rundvorhangs entstehen. Wenn sich Chanel Marie und Maycol junior zur Geigerin gestellt haben, spritzen Fontänen vom Rand der großen Bühne in Richtung Mitte. Nach den Abschiedsworten von Geraldine Knie und den ausdauernden Standing Ovations des Rapperswiler Publikums geht die große Party weiter, bis sich der Vorhang ein letztes Mal schließt. Einen erheblichen Anteil an der grandiosen Stimmung haben natürlich auch das Orchester sowie Ton- und Lichtregie. Nicht nur beim Finale, sondern während der gesamten Show.

Für die Saison 2023 hat Knie weiter in die Technik investiert. Die in den letzten drei Jahren eingesetzte Bühne, welche unter die Kuppel gezogen werden konnte, wirkt gegen das Equipment der aktuellen Tour fast schon beschaulich. Natürlich muss das Material auch optimal eingesetzt werden, um seine volle Wirkung zu entfalten. Das ist dem Team um die artistische Direktorin Geraldine Knie ohne Zweifel fantastisch gelungen. Auch dem Anspruch, dem Schweizer Stammpublikum jedes Jahr wieder neue Attraktionen zu bieten, ist man mit dieser Wassershow in besonderer Weise gerecht geworden. Die umfangreichen Umbauten während der laufenden Vorstellung liegen in der Verantwortung des technischen Direktors Maycol Errani und sind fast so beeindruckend wie die Attraktionen, die im Scheinwerferlicht stattfinden. Aber die eingangs zitierten Glücksmomente stellen sich dann zumindest bei mir doch dann ein, wenn Menschen (und Tiere) zu erleben sind, die den direkten Weg zu den Zuschauern finden. Echte Künstlerpersönlichkeiten eben, die durch Technik nicht zu ersetzen sind.

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Text und Fotos: Stefan Gierisch