Hinzu kommt ein Ring, der den in der Werbung herausgestellten
Wasservorhang erzeugt. Dieser hängt allerdings permanent in der
Kuppel. Die Logistik dahinter ist immens, die so erzeugten
Effekte einmalig.
Und doch
schaffen es bei aller Technik auch die Elemente des klassischen
Circus, das Publikum zu überzeugen. Wenn Ivan Pellegrini 32
Pferde dirigiert, ist das einfach „magisch“. Wenn Chanel Marie
Knie die Hohe Schule mit einer unglaublichen Präsenz reitet,
zieht einen das sofort in seinen Bann. Und wenn beider Bruder Maycol junior ein Pony vorführt, ist das schlichtweg hinreißend
goldig. Das sind jene Glücksmomente, die der Schweizer
National-Circus in diesem Jahr ganz besonders verspricht.
Opening
Bereits
beim Opening wird klar, dass die Plätze in der ersten Reihe in
dieser Saison nicht die besten sind. Denn das Charivari findet
auf der große und eben auch hohen Bühne statt. Um alles zu
erkennen, muss man ganz vorne ordentlich die Hälse strecken. Der
Auftakt gerät bereits imposant. Nicht nur ein Bingo-Ensemble ist
dabei, sondern ebenfalls ein Großteil des vielköpfigen
Ensembles. Alle Akteure sind in schicke rote Outfits gekleidet.
Es wird getanzt, die Schlangenmädchen verbiegen sich
geschmeidig, die Schleuderbrett-Truppe zeigt ihre Fähigkeiten
als Seilspringer und an zwei Spiralen erleben wir Luftakrobatik.
Gleich von Anfang an volle Power, volle Dynamik. Die Musik ist
in diesem Jahr wieder sehr modern und mitreißend. Das Licht
wurde weiter optimiert, sprich umfangreicher gestaltet und
unterstützt die Gesamtwirkung enorm.
Jeka
Dethairov, Marcel Haller
Dann
gehört die Szene einem Solisten. Jeka Dethiarov sahen wir im
vergangenen Jahr beim European Youth Circus. Jetzt gibt er den „Silver
Boy“, der mit seinem Roue Cyr zunächst kurz über der Bühne
arbeitet, während die ersten Tropfen Wasser fallen. Dann geht es
auf dem Boden weiter, wo der junge Ukrainer eine ausgefeilte,
anspruchsvolle Kür zelebriert. Vor den letzten Posen am Boden
wird er an einer Luftschlaufe nochmals in die Höhe gezogen.
Wieder setzt Regen ein. Es entsteht ein eindrucksvolles Bild.
Letztendlich bilden Dethiarov und sein großer Reifen auch das
Plakatmotiv. Dann erscheint aus dem Publikum Marcel Haller alias
„Erwin aus der Schweiz“. 8.000 Schweizer Franken ist ihm sein
Engagement im Circus Knie wert, wie er in einem seiner ersten
Gags bemerkt. Der liebenswürdige Komiker begleitet uns durch den
Abend. Einige seiner zumeist hintergründigen Witze kennt man
bereits, die meisten sind aber zumindest für uns neu und damit
originell. Er wirkt zunächst ein wenig zurückhaltend, hat es
aber letztendlich doch faustdick hinter den Ohren. Zudem ist er
ein wunderbarer Zauberer. Er lässt Weinflaschen erscheinen und
verschwinden, „verwandelt“ sich in Maycol junior oder bringt
zwei Zuschauer beim Anheben eines großen Kartons zur
Verzweiflung. Aktuell kann man sich seine Einlagen noch eher auf
einer Kleinkunstbühne vorstellen. Aber vermutlich wächst er im
Verlauf der Saison noch weiter in die dieses Jahr besonders
große und moderne Show von Knie herein. So oder so sorgt er für
viele heitere Momente.
Mongolian Contortion, Extreme Light, Truppe Zola
Mongolian
Contortion nennt sich das Quartett, das eine klassische
Kontorsionsdarbietung zeigt. Die Artistinnen verblüffen in
Ganzkörperkostümen mit extremer Körperbeherrschung und kreieren
so anmutige Bilder. Erst wenn die Artistinnen am Ende auf einer
kleinen Rundbühne nach oben gefahren werden, ist die Sicht auch
von ganz vorne optimal. Zur vollen Geltung kommt der große
Wasservorhang erstmals, wenn Ekaterina Errani, Oksana Errani und
Tetyana Bitkine ihre rockige Kür an den Strapaten vollführen.
Immer wieder geht es für eine oder zwei von ihnen in die Luft,
während die anderen am Boden tanzen. Ein rotes Tuch wird in ihr
Spiel einbezogen. Dazu fällt der Regen aus der Kuppel. Auf der
Wasserfläche werden verschiedene Ornamente erzeugt. Es entstehen
fantastische, großflächige Effekte. Dann stellen die Spots
Violinistin Evgeniya Aknazarova auf einem der Aufgänge des
Gradins in den Mittelpunkt des Geschehens. Mit diesem
„Ablenkungsmanöver“ wird das Herausfahren der Bühne überbrückt.
Nach der Flaschenzauberei von Marcel Haller gehört die Manege
Extreme Light, die aus dem Vorjahr prolongiert wurden. Bei ihrem
Auftritt im Dunkeln spielen wiederum beleuchtete Kostüme eine
wichtige Rolle. Diese können Farbe und Muster wechseln, wenn die
Akteure tanzen. Hinzu kommen nun raumgreifende Lasereffekte, die
aufwendig gestaltet sind und für Staunen sorgen. Die Truppe Zola
sahen wir beim Heilbronner Weihnachtscircus noch in
traditionellen Kostümen ihrer mongolischen Heimat. Für ihr
Engagement bei Knie bekamen die Akteure der
Schleuderbrett-Truppe eine neue Choreographie im Bingo-Stil. Die
Kostüme sind jetzt weiß mit bunten Applikationen, die Musik ist
modern und es wird dynamisch getanzt. Sogar Mitglieder von Bingo
wirken in der Nummer mit. Geblieben sind die starken Tricks bis
hin zum Sechs-Personen-Hoch mit Perchestange. Ebenfalls dabei
ist die Landung in einem Sessel, der auf einer Perchestange
ruht. Dessen Träger steht mit Stelzen auf einer horizontalen
Stange, die auf den Schultern von zwei weiteren Artisten liegt.
Vermutlich eine der aktuell stärksten Darbietungen des Genres,
die eine perfekte Schluss-, zumindest aber Pausennummer abgeben
würde.
Chanel
Marie Knie, Maycol junior
Letztere
gehört aber der achten Generation der Familie Knie. Maycol
junior übernimmt die Begrüßung. Er erscheint auf magische Weise
und wird von zwei Bingo-Artistinnen in die Manege geleitet. Noch
mehr Bingo-Akteure begleiten vor dem Artisteneingang die Hohe
Schule von Chanel Marie Knie. Und damit überrascht die
Zwölfjährige das Publikum in allen Belangen. Sie wirkt deutlich
älter, ja erwachsener als noch im vergangenen Jahr. Souverän und
mit einer gewinnenden Ausstrahlung sitzt sie im Sattel.
Reiterisch überzeugt sie ebenfalls voll und ganz. Anspruchsvolle
Elemente der Hohen Schule reiht sie zu einer abgerundeten
Choreographie aneinander. Obwohl noch nicht einmal Teenagerin,
zeigt Chanel hier ausgereifte Reitkunst. Deutlich spielerischer
gibt sich da natürlich Maycol junior, wenngleich auch er
konzentriert bei der Sache ist. Gemeinsam mit seinem großen
Bruder Ivan Frédéric dirigiert er ein Groß und Klein. Zur
Belohnung gibt es für sein am Ende im Sägemehl liegendes Pony
ausgiebige Streicheleinheiten. 2015 führte Maycol Errani das
große Pferdekarussell vor, 2019 sein Schwiegervater Fredy Knie
junior und wiederum vier Jahre später zeigt nun dessen Enkelsohn
Ivan Frédéric diese Königsdisziplin der Freiheitsdressur. Ruhig
und souverän lenkt er nicht weniger als 32 Pferde, die am Ende
auf drei Bahnen gegeneinander laufen. Dies sogar mit
beleuchteten Geschirren im Dunkeln. Immer wieder ein
faszinierendes Schauspiel zu erleben, wie diese große Gruppe an
Tieren präzise den Anweisungen ihres Vorführers folgt und die
Trickfolge wirklich wie am Schnürchen abläuft. Vor dem
gemeinsamen Kompliment mit den Geschwistern verwöhnt uns Ivan
Frédéric Knie noch mit verschiedenen Steigern.
Ordonez
Freestyle BMX, Five Boys, Kateryna Korneva
Zu Beginn
des zweiten Teils erweisen sich die vermeintlichen besten Plätze
wieder als problematisch. Denn für die Besucher in den ersten
Reihen in der Mitte ist die Sicht aufgrund einer Plexiglaswand
und Metallstreben stark eingeschränkt. Sie sind Teil der
riesigen Konstruktion, auf der Juan Ordonez und seine drei
Mitstreiter rasante Stunts mit BMX-Rädern wagen. Das Requisit
ist wirklich imposant und die Sprünge, die die Kolumbianer auf
ihren Bikes riskieren, sind es ebenfalls. Die beiden Halfpipes
ermöglichen viel Action, die wir letztendlich auch zu sehen
bekommen. Für musikalische Akzente sorgen Violinistin Evgeniya
Aknazarova und der E-Gitarrist des Orchesters in der Manege.
Während Bingo-Artistinnen auf den Treppen des Gradins flotte
Moves präsentieren, wird der Parcours für die BMX-Artisten
herausgebracht und die große Bühne hereingefahren. Und das,
obwohl die folgenden drei Darbietungen ohne Wassereffekte
auskommen. Die Five Boys sind zumindest am Premierenabend nur zu
viert. Zwei von ihnen erleben wir mit Hand-auf-Hand-Akrobatik,
die beiden anderen an zwei Masten. Da alle zum Circus-Theater
Bingo gehören, verwundert es nicht, dass beide Disziplinen in
einer durchgehenden Choreographie zusammengefügt werden. Kateryna Korneva war 2022 als Teil des Duo El Beso bei Knie.
Jetzt arbeitet sie wiederum am Flying Pole, aber eben im Solo.
Auch der kleine Ring ist wieder dabei. Nun ist er für die
gefährlichsten Tricks am Ende der fliegenden Stange befestigt.
Wenn Kateryna daran mit nur einer Ferse hängt, hält das Publikum
den Atem an. Auch davor begeistert sie mit einer wunderbaren
Kür, die durchaus riskant ist. Das Geigenspiel von Evgeniya
Aknazarova auf der Bühne begleitet ihre Höhenflüge.
Dust in
the Wind, Evgeniya Aknazarova, Globe of Speed
Maite
Ramirez und Julio Fajardo bilden das Duo Dust in the Wind.
Hand-auf-Hand, Kopf-auf-Hand und Kopf-auf-Kopf – das alles sind
Bestandteile ihrer Partner-Equilibristik. Ebenso elegante Flüge
von Maite, nach denen sie sicher von Julio wieder aufgefangen
wird. Eingebettet ist ihre Artistik in einer feurigen Tanz
lateinamerikanischer Prägung. Bis zur Sommerpause werden Dust in
the Wind bei Knie zu erleben sein. In der zweiten Tourneehälfte
gibt es dann eine andere akrobatische Nummer. Während hinter
einem im Zuschauerraum Marcel Haller mit Maycol junior über
Poesie und Circus philosophiert, pflügen sich in der Manege die
Ketten des Bühnenfahrzeugs durch das Sägemehl. Da fällt es schon
ein wenig schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Wenig später sitzt Maycol junior auf einem kleinen Quad und
zieht vermeintlich die große Motorradkugel hinter sich herein.
Diese Version des Globe of Speed ist wirklich gigantisch. Zudem
erlauben die vergleichsweise dünnen Streben eine gute Sicht auf
das Geschehen im Inneren. Am Ende sind es eine Fahrerin und neun
Fahrer, die gleichzeitig auf ihren Maschinen durch den runden
Gitterkäfig donnern. Zusätzlichen Nervenkitzel liefern die
verschiedenen Figuren, die sie fahren. Etwa dann, wenn sich die
Wege der Maschinen kreuzen. Rot und weiß sind die Farben des
Finales. Natürlich ist wieder die große Bühne aufgebaut. In
ihrer Mitte steht die Violinistin, darum herum die Artisten und
auf einem Podium dahinter die Bingo-Mitglieder. Während Evgeniya
Aknazarova musiziert, wird sie auf einer Plattform nach oben
gefahren. Unter dem rhythmischen Klatschen des restlichen
Ensembles erleben wir noch einmal eindrucksvolle Bilder, die auf
der Wasserfläche des Rundvorhangs entstehen. Wenn sich Chanel
Marie und Maycol junior zur Geigerin gestellt haben, spritzen
Fontänen vom Rand der großen Bühne in Richtung Mitte. Nach den
Abschiedsworten von Geraldine Knie und den ausdauernden Standing
Ovations des Rapperswiler Publikums geht die große Party weiter,
bis sich der Vorhang ein letztes Mal schließt. Einen erheblichen
Anteil an der grandiosen Stimmung haben natürlich auch das
Orchester sowie Ton- und Lichtregie. Nicht nur beim Finale,
sondern während der gesamten Show. |