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Cirque Arlette Gruss - Tour 2022/23
www.cirque-gruss.com ; 164 Showfotos

Straßburg, 20. Mai 2023: Im gleißenden Sonnenlicht steht L'Arche auf einem eher schmucklosen Platz am Rande des Zentrums von Straßburg. Der weiße Zeltbau mit der zugehörigen rollenden Stadt in imposanten Ausmaßen bringt Glanz an diesen unspektakulären Ort. Ebenso das, was darin geschieht. „Extravagant“ heißt die Produktion 2022/23, die im Inneren des Chapiteaus zu erleben ist. Beides - Spielstätte und Show - zeugt von ungeheurer Kreativität und Originalität. Für beides steht Direktor Gilbert Gruss. Er hat die genialen Ideen für Infrastruktur sowie Spektakel und setzt diese konsequent um.

Und noch etwas kommt hinzu. Der Innenraum schafft genau die richtige Atmosphäre, damit die Show ihre volle Wirkung entfalten kann. Im Ganzen wirkt die langgestreckte L'Arche mit ihren ausschließlich außenliegenden Masten sehr groß. Das Interieur aber ist geschickt aufgeteilt. Es beinhaltet vorne die Restauration und hinten den Backstage-Bereich. Der Zuschauerraum in der Mitte ist äußerst kompakt und bietet Platz für rund 1.300 Gäste. Es gibt Balkonlogen und gepolsterte Klappsitze auf dem Gradin. Dieses geht bis an die Manege, sodass die Reihen schon in den Ringlogen ansteigen.


L'Arche in Straßburg

Wie schon eine Spielzeit zuvor, werden wieder einzelne Abendvorstellungen als Diner Spectacle angeboten. Dann wird jede zweite Stuhlreihe in Tische umgebaut. Ein lokaler Caterer sorgt für ein mehrgängiges Menü, das begleitend zur leicht angepassten Show serviert wird. Der Schriftzug „Arlette Gruss“ prangt am höhenverstellbaren Artisteneingang. Das Licht verstärkt beim Einlass den kompakten, edlen Gesamteindruck. Eine gewisse Intimität entsteht. Die Vorfreude auf das Kommende steigert sich so weiter.


Szene aus dem Finale

Die Erwartungen werden in den folgenden zwei Stunden plus Pause aufs Beste erfüllt. „Extravagant“ ist eine logische Weiterentwicklung der Gruss-Programme der letzten Jahre. Wir erleben große Bilder mit dem gesamten Ensemble. Es gibt traumhafte, fantasievolle Kostüme. Sie stammen einmal mehr von Roberto Rosello. Das feudale, ungemein stimmungsvolle Lichtdesign hat Julien Lambotte inszeniert. Die Arrangements der Begleitmusik hat Antony Saugé geschrieben. Cédric Pontieux sorgt als Toningenieur dafür, dass der Sound perfekt in den Ohren der Zuschauer ankommt. Igor Nita schließlich dirigiert die Musiker. Die spielen ungemein druckvoll auf. Die Qualität ist beeindruckend. Ohne Zweifel leistet sich der Cirque Arlette Gruss eines der derzeit besten Circusorchester. In diesem Jahr sind vermehrt bekannte Stücke zu hören.


Szene aus dem Opening, Kevin Sagau

Während des Einlasses steht ein Puppentheater in der Manege. Ein Plakat davor kündigt den Beginn der Show in wenigen Augenblicken an. Und siehe da, pünktlich um 14:30 Uhr heißen uns die Clowns Gregory Bellini und André als Handpuppen willkommen. Dann wird es groß und bunt. Beim Opening begrüßen uns farbenfroh Fantasiefiguren. Auch Circus-typische Charaktere wie ein starker Mann oder ein Stelzenläufer sind dabei. Später kommen Menschen in schicken Straßenkleidern dazu. Die Choreographie holt einen ohne Umschweife ab in die bunte Welt der Arena. Alles, was einem davor durch den Kopf geschwirrt ist, verschwindet. Der Circus nimmt einen gefangen. Als erste kurze Tiernummer ist die Dressur mit zwei Ponys und einem Hund in das Charivari integriert. Sarah Houcke führt diese vor. Die im Zuschauerraum gesprochenen Begrüßungsworte gehören Kevin Sagau, dem langjährigen Monsieur Loyal. Er ist zudem im edlen roten Gewand, welches er auch jetzt trägt, das Plakatmotiv von „Extravagant“. Mit dabei ist Mailys Loyal, die Sängerin der Show, die mit ihrer wunderbaren Stimme verschiedene Auftritte hat.


Desirée Cardinali Chaves, Sarah Houcke, Anna Demeter

Sogleich begibt sie sich in die Manege, um dort gesanglich Desirée Cardinali Chaves zu begleiten. Diese erleben wir einmal mehr mit ihrer wunderbaren Equilibristikkür. Nach variantenreichen Handständen schießt sie einen Luftballon mit Pfeil und Bogen ab. Ausgelöst wird der Pfeil kopfüber mit den Füßen. Mit seiner Armbrust will der als Wilhelm Tell kostümierte Gregory Bellini einen Apfel durchbohren. Kevin Sagau ist wenig begeistert, Teil dieser sicher nicht ungefährlichen Aktion zu werden. Und so nimmt Bellini die Sache selbst in die Hand, trägt er das Brett mit der Zielscheibe doch ohnehin schon die ganze Zeit auf dem Rücken. Letztendlich ist das Ganze natürlich ein wunderbarer Spaß. Männer mit freien Oberkörpern und Widdermasken bringen Lamas herein. Mit dieser mystischen Szene beginnt die Vorführung von sechs Lamas durch Sarah Houcke. Zu Beginn wird mit Longen gearbeitet. Erst bei den flotten Runden in Freiheit und dem Überspringen eines Hindernisses kommt die volle Eleganz der Tiere zur Geltung. Durch den Gesang von Mailys Loyal erfährt die ohnehin schon traumhafte Luftnummer von Anna Demeter eine weitere Aufwertung. Die junge Ungarin beginnt mit Sequenzen am Vertikalseil. Ihr eigentliches Requisit ist aber das auch Wolkenschaukel genannte Schwungseil. Daran schaukelt sie raumgreifend, lässt ihr langes Haar fliegen und begeistert mit fantastischen Tricks wie dem Fersenhang. Ein wirklicher artistischer Hochgenuss.


Gregory Bellini und Kevin Sagau, Gruppenjonglage

Auf einen Flug der besonderen Art will Gregory Bellini im eleganten Frack seinen weißen Plüschhasen schicken. Schließlich handelt es sich dabei um eine „lebende Kanonenkugel“. Die Requisiten sind liebevoll nostalgisch gestaltet. Und natürlich nimmt das Drumherum viel Zeit ein und sorgt für etliche Lacher. Auch Kevin Sagau bleibt wiederum nicht verschont. Am Ende erreicht der Nager dann tatsächlich sein Ziel. Wenn auch anders, als Bellini das angekündigt hat. Die gesamte Szene ist wunderbar kreativ inszeniert und wird hinreißend gespielt. In einer Zeit, in der die Komik im Circus nicht selten von der schnellen Kopie lebt, eine echte Wohltat. Acht Personen umfasst die Formation, die mit großen Ringen jongliert. In ihrem Zentrum stehen Nathalie und Zdenek Supka, die den Cirque Arlette Gruss schon seit unzähligen Tourneen begleiten. Die aktuelle Darbietung wird in historischen Kostümen präsentiert. In immer neuen Varianten fliegen die Reifen durch die Luft. Es ergeben sich faszinierende Bilder, die das menschliche Auge schwerlich in Gänze erfassen kann. Es passiert einfach zu viel. Präzise verlassen die Requisiten die Hand eines Artisten, um nicht minder präzise von einem Kollegen wieder gefangen zu werden. Zum Grande Finale werfen sieben der Jongleure ihre Reifen immer schneller zu Zdenek Supka, der sie auffängt und sich dann um den Hals hängt. Natürlich gelingt das Kunststück erst im zweiten oder dritten Anlauf. Der Applaus wird dadurch riesig.


Alexis und Eros Gruss, André, Duo Lyd

Alexis und Eros sind die beiden jüngsten Kinder von Gilbert Gruss und Linda Biasini Gruss. Bereits im Programm 2017/18 zeigten die Geschwister im Rahmen des Openings erste Kostproben ihrer Ikarischen Spiele. Nun ist daraus eine ausgereifte, eigenständige Darbietung geworden. Kraftvoll katapultiert Eros seine Schwester mit den Beinen in der Luft. Dort wagt Alexis immer neue, elegante und sicher nicht ungefährliche Drehungen. Seine starke Akrobatik serviert das Duo mit einer bereits erstaunlich professionellen Attitüde. Clown André (Broger) ist ein immerwährender Quell an Kreativität. Er hat der Circuswelt Klassiker wie den Kampf mit einem Hai in der Badewanne beschert. Für seinen ersten größeren Auftritt an diesem Nachmittag ist ein Mikrofon samt zugehörigem Ständer aufgebaut. Man ahnt, was folgt. Doch weit gefehlt. Das mit Hilfe eines Wischmobs gespielte Duett ist es nämlich nicht. Vielmehr verteilt André zunächst großzügig im Publikum Blumen. Kaum hat er sich mit Krone und Umhang in einen König verwandelt, geht er den Weg retour und lässt sich die Blumen wieder schenken. Auf einem roten Teppich nimmt er sodann den Weg zum Mikrofon. Allerdings ist der Läufer zu kurz. Da eine König aber ganz offensichtlich nicht auf blankem Boden geht, wird der Teppich auf äußerst originelle Weise immer weiter verlängert. Das Duo Lyd haben wir schon mit Akrobatik auf dem Fahrrad sowie am Mast erlebt. Für die aktuelle Saison haben sie sich den Fangstuhl ausgesucht. Was Liss und Darien daran zeigen, steht ihren bisherigen Darbietungen in nichts nach. Die waghalsigen Sprünge wirken immer kontrolliert. Stets landet Liss nach ihren Salti wieder sicher in den Händen von Darien. Mit ihrer starken Nummer an diesem aktuell selten zu sehenden Requisit bilden die beiden die Pausennummer. In diese verabschiedet uns letztendlich eine junge Dame, die mittels Sänfte von Gregory Bellini und André hereingetragen wurde. Figuranten in bunten Kostümen komplettieren die Szene.


Geoffrey Berhault, Laura-Maria Gruss

Zum zweiten Teil begrüßen uns Kevin Sagau und weitere Mitglieder des Ensembles. Bereits aufgebaut sind zwei sich kreuzende Drahtseile in unterschiedlicher Höhe. Auf diesen balanciert sodann Geoffrey Berhault. Die ungewöhnliche Nutzung gleich zweier gespannter Drähte lässt originelle Sprünge zu. Von oben nach unten, von unten nach oben und vom unteren über das obere Seil. Die Klassiker des Genres sind ebenfalls dabei. So das Seilspringen und der Rückwärts- sowie der deutlich anspruchsvollere Vorwärtssalto, welcher nicht allzu oft gewagt wird. Zum Grand Prix der Rennschweine lädt Clown André. Gleich mehrere der rosa Stofftiere mit Batterieantrieb lässt er gegeneinander antreten. Ein Junge aus der dem Artisteneingang gegenüberliegenden Loge markiert mit Reifen und schwarz-weiß karierter Flagge das Ziel. Startpunkt ist das eine Ende der Piste. Geschwindigkeit der Schweine und zurückzulegender Weg lassen auf einen langen Nachmittag schließen. Doch André sorgt für ordentlich Tempo und so wird in kurzer Zeit der Sieger gekürt. Die Pferdedressuren werden hier wie gewohnt von Linda Biasini Gruss und Tochter Laura-Maria vorgeführt. Zunächst geleiten sie die auf einem Pferd reitende Alexis Gruss herein. Dann leitet Linda drei Friesen zum Flechten an. Daraufhin dirigiert sie einen Sechserzug Friesen. Laura-Maria übernimmt mit einem Steiger und präsentiert danach eine Dressur mit drei schwarzen und zwei weißen Pferden. Zum da capo gibt es ein auf den Hinterbeinen laufendes Pony.


Julia Friedrich und Kevin Gruss, Haustruppe

Zaubereien mit auf einem Tisch liegenden Hühnereiern sind ganz offensichtlich die Spezialität von Gregory Bellini. Er stülpt einen Zylinder über ein Ei und lässt es unter einem anderen Hut wieder erscheinen. Kevin Sagau traut der Sache nicht und versucht das Spiel zu manipulieren. Und so endet dieses in einem höchst vergnüglichen Chaos. Ein im wahrsten Sinne des Wortes „Traum in Rot“ ist die Luftnummer an Tüchern von Julia Friedrich und Kevin Gruss. Denn diese beginnt und endet in einem großen roten Bett, welches als Sicherheitsmatte dient. Kostüme und Tücher sind ebenfalls in dieser Farbe gehalten. So erleben wir ein erotische Kür in der Luft mit riskanten Haltefiguren, Flugsequenzen und Umschwüngen. Es ergeben sich wunderschöne Szenen, in denen das Werben umeinander und die Akrobatik verschmelzen. Michael Jackson ist der musikalische Taktgeber für die fulminante Schlussnummer. Zu seinen Songs sehen wir Handvoltigen über mehrere Ebenen und Sprünge auf dem Schleuderbrett. Die Damen tragen entweder schwarze Trikots oder lange Abendkleider. Die Herren sind klassisch mit weißen Hemden, schwarzen Hosen, Hosenträgern und Krawatten bekleidet. Wer nicht artistisch agiert, sitzt an Bistrotischen oder tanzt. Zu dieser Haustruppe gehört unter anderem die Compania Havanna. Auch Mitglieder der Direktionsfamilie sind dabei. Es entsteht eine ungeheure Dynamik, alle sind ständig in Bewegung. Die artistischen Elemente sind äußerst vielfältig, immer wieder fliegen die Artisten in neuen Kombinationen durch die Luft. Ein mitreißendes Bild. Zum Finale dann schon wieder neue Outfits. Die Damen tragen rote Kleider, die Herren blaue Anzüge, ihre Krawatten korrespondieren mit den Kleidern der Frauen. Inhaltlich sind die Abschiedsszenen eine Hommage an Roncalli: Von dort kennen wir die Musik, den Paartanz und die Rückwärtssalti von der Piste.

Am Ende applaudieren nicht nur wir im Stehen, das gesamte Publikum im nahezu ausverkauften Chapiteau spendiert Standing Ovations. Hinter uns liegt eine fulminante, genial zusammengestellte sowie in Szene gesetzte Show. Klassischer Circus mit den Elementen Artistik, Clownerie und Tierdressur, aber eben in einer modernen Interpretation. Das alles im fantastischen Ambiente. Ein circensischer Hochgenuss, der in jedem Augenblick begeistert!

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Text und Fotos: Stefan Gierisch