CHPITEAU.DE

Circus Knie - Tour 2020
www.knie.ch ; 182 Showfotos

Bern, 5. September 2020: Im vergangenen Jahr feierte der Schweizer National-Circus seinen 100. Geburtstag mit einer grandiosen Show, die dem Jubiläum in jeder Hinsicht würdig war. Die Zuschauer kamen so zahlreich wie nie zuvor in der Geschichte des Unternehmens. Eine einzige rauschende Party mit abschließendem Zusatz-Gastspiel in Rapperswil. Auf die große Party folgt oftmals ein ebensolcher Kater. Den gilt es zu verhindern. Es darf nach dem großen Fest keinen Absturz geben, keine enttäuschten Zuschauer. Auch bei Knie war klar, dass man nicht einfach so weiter machen kann wie vor dem Jubiläum.

Und so wurden gleich zwei Highlights für die Spielzeit 2020 angekündigt. Ursus & Nadeschkin sind wieder dabei. Die Schweizer Komiker sorgten bereits 2002 für wahre Lachsalven im stets knallvollen Knie-Chapiteau. Noch sensationeller, zumindest für die Circusfans, klang die Nachricht einer Kooperation mit Flic Flac. Spektakuläre Neuigkeiten, die an eine Katerstimmung gar nicht erst denken ließen. Es wurde konzipiert, in erheblichem Umfang investiert und unermüdlich geprobt. Alles war bereit für die Saisonpremiere in Rapperswil, die auf den 19. März datiert war. Doch wenige Tage davor erreichte Corona auch die Schweiz. Von heute auf morgen wurde das Leben deutlich eingeschränkt, an das Abhalten einer Circusvorstellung war nicht zu denken. Der Zustand hielt über Wochen, ja Monate an. Was tun? Wann kann die Tournee starten? Vor wie vielen Zuschauern? Ist es nicht vielleicht am sinnvollsten, für 2020 alles abzusagen? Die Familie Knie entschied sich für eine verkürzte Tournee von Anfang August bis Ende Dezember. Ende Juni wurden zunächst zwölf Orte angekündigt. Ein weiterer kam hinzu, dann wurden aus Kostengründen wieder Städte gestrichen. Die Unsicherheit wird den Circus Knie auf der diesjährigen Reise begleiten. Die aktuellen Entwicklungen können jederzeit Anpassungen erforderlich machen.


Entree, Hygienehinweise

Doch die Premiere ist geschafft. Nicht wie sonst in Rapperswil, sondern auf der Allmend in Bern. Am 4. September wird die neue Show erstmalig vor großem Publikum gespielt. Wobei „groß“ hier relativ ist. Denn aufgrund von Hygienevorschriften dürfen im Chapiteau nur maximal 1.000 Sitze belegt werden. Die Gäste müssen auf dem gesamten Platz und während der Vorstellung eine Mund-Nase-Bedeckung tragen. Das Gradin ist in vier Sektoren eingeteilt, zu denen speziell ausgewiesene Wege führen. Jeder Bereich hat eigene Toiletten, eigene Gastronomie. An zentralen Orten gibt es Spender mit Desinfektionsmittel. Das Hygienekonzept existiert nicht nur auf dem Papier, es wird auch gelebt. Wir jedenfalls fühlten uns rundum wohl.


Bingo

Dass man eine Maske vor Mund und Nase trägt, merkt man in den rund zweieinhalb Stunden Spieldauer - Pause inklusive - nicht. So spektakulär, so mitreißend, so begeisternd ist die diesjährige Produktion. Und so anders. Hinzu kommt, dass die Gäste so geschickt im Zelt platziert sind, dass die verringerte Auslastung so wenig wie möglich auffällt. Genauso, wie wir Corona während der Show ausgeblendet haben, wollen wir dies auch für die folgende Betrachtung der Vorstellung tun. Lassen wir uns also ein auf die Show im Jahr Eins nach dem Jubiläum. Wie soll das funktionieren mit zwei so unterschiedlichen Circus-Stilen – Knie und Flic Flac? Haben sich die Musiker um Ruslan Fil im Winter ausgiebig mit dem Werk von Rammstein befasst? Werden wir Klosterfrauen in der Manege des Schweizer National-Circus zu sehen bekommen? Wie passt das zusammen? Gibt es zwei ganz unterschiedliche Programmteile? Einen typisch Knie, den anderen typische Flic Flac? Was passiert mit den Tierdressuren? Und wie baut man da noch ein bekanntes Komikerduo ein?


Mad Flying Bikers

All diese Fragen beantworten sich bei der Premiere. Befürchtungen, ein Stückwerk serviert zu bekommen, erweisen sich als unbegründet. Vielmehr haben die artistische Direktorin Géraldine Knie und ihr Team eine Show aus einem Guss kreiert. In der Gastronomie würde man von Fusion Kitchen sprechen. Es passt alles zusammen, es harmoniert vorzüglich. Beim Betreten des Spielzelts fällt neben der erweiterten Lichtanlage der neue Artisteneingang auf. Im Stil an den bisherigen angelehnt, aber jetzt nur noch mit einem einzigen, breiten und hohen Vorhang versehen, über dem das Orchester sitzt. Dessen Ouvertüre klingt noch vertraut. Doch wenn eine Bingo-Formation zum Opening bittet, wird es deutlich rockiger als bislang. Dieser kantigere Musikstil begegnet uns immer wieder im Laufe der Vorstellung. Für mich genau richtig, da schwungvoller und mitreißender als die oftmals eher „sphärischen“ Sounds der letzten Jahre. Die Bingo-Mitglieder kombinieren wie gewohnt Tanz und Artistik zu einer ganzheitlichen Choreographie. Dies tun sie auf einer runden, mit Scheinwerfern versehenen Bühne in der Manegenmitte. Dazu gibt es wirklich spektakuläre Feuereffekte. Der erste Flic Flac-Moment, auf den der zweite folgt. In einer Aussparung des mittleren Gradins steht eine Rampe, von der aus die Mad Flying Bikers zu atemberaubenden Sprünge mit dem Motorrad starten. Gelandet wird auf einem Podium vor dem Artisteneingang. Fünf Fahrer, oder richtiger: Flieger, sind im Einsatz. Ihre Riesensätze werden von Feuersäulen begleitet. Das Überraschungsmoment ist enorm. Das Publikum spendet Standing Ovations und da ist die Show gerade mal ein paar Minuten alt.


Ursus & Nadeschkin

Während die Bühne Richtung Kuppel gezogen wird, fegen Ursus & Nadeschkin mit ihrem ganz eigenen Motorrad durch die Reihen. Nach 18 Jahren sind sie zu Knie zurückgekehrt. Ihre Karton-Rössli von damals sind wieder mit dabei. Ansonsten erleben wir sie in komplett neuen Auftritten, die perfekt auf dieses Circus-Gastspiel abgestimmt sind. So korrigieren sie mit großen Buchstaben und der Hilfe des Publikums das diesjährige Plakatmotiv. Jetzt – anders als in der Werbung - mit den Lettern in der richtigen Reihenfolge. Dabei trifft der strukturierte, auf Perfektion bedachte Ursus auf die eher chaotische Nadeschkin mit dem Wuschelkopf. Kreativ sind sie beide. Aber eben jeder auf seine ganz eigene Weise. Durch diese Gegensätze, die letztendlich dann doch harmonieren, ergeben sich herrliche Szenen. Hinzu kommt ihr einzigartiger Wortwitz und ein perfektes Timing. In ihrem nächsten Einsatz entdecken sie das in der Manege aufgebaute Schlappseil, welches hier eine Slackline ist. Nach anfänglicher Ehrfurcht vor dem Artistenrequisit traut sich Nadeschkin auf das Band und hält sich professionell in Balance. Ursus „rettet“ die Szene aus der Luft, wodurch sich neue Möglichkeiten ergeben. Wie etwa ein Spagat auf dem Seil, zumindest fast. Herrlich auch die Nummer, bei der Ursus im glänzenden Artistenkostüm den durchaus achtbaren Reifenjongleur gibt. Seine ernsthaften Akrobatikambitionen gehen so lange gut, bis Nadeschkin im Jockeyoutfit mit Rennkuh die Szenerie betritt. Die beiden geraten sich ordentlich in die Haare. Es entspinnen sich urkomische Dialoge. Normalerweise würde das Chapiteau hier vor Lachsalven erbeben. Doch die Masken verhindern dies. Schade, denn es bringt die beiden um einen Teil ihres verdienten Lohns. Ich jedenfalls kann versichern, dass ich unter meinem Stofftuch vor Mund und Nase herzlich gelacht habe. Ihr Nummern sind schlichtweg genial erdacht und werden hinreißend gespielt. Chapeau! Vielleicht haben wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal die Chance, ihre Auftritte ohne Einschränkungen genießen zu können. Als Zugabe gibt es Ursus & Nadeschkin im Kleinformat. In den gleichen Aufmachungen tanzen Nadja Siegers Sohn Sidney und dessen Freund Raoul durch den Regen. Die kleine Ausgabe von Nadeschkin übernimmt zudem eine Herkulesaufgabe, wenn sie die Motorradkugel in die Manege zieht.


Chanel Marie Knie, Ivan Frédéric Knie, Flash of Splash

Artistisch geht es nach dem ersten Comedy-Act weiter mit den Fratelli Errani. Maycol, Wioris und Guido zeigen noch einmal ihre Bodenakrokatik aus dem Knie-Programm 2011. Bei den Handvoltigen wird Guido von seinen Brüdern in die Luft geworfen und nach beherzten Sprüngen wieder aufgefangen. Weitere artistische Kabinettstückchen schließen sich an. Alles dargeboten mit viel Temperament. Auch abseits des Scheinwerferlichts ist das Trio zu einer unverzichtbaren Stütze des Unternehmens geworden. So hat etwa Guido in diesem Jahr die Rolle des Abendregisseurs übernommen. Präzision ist gefragt, wenn das Duo Double Risk die Nerven des Publikums strapaziert. Marco Moressa zielt mit Pfeilen und Messern immer ganz knapp an Partnerin Priscilla Errani vorbei. Doch auch Priscilla versteht sich auf die Kunst des Armbrustschießens. Wilhelm Tell hätte seine wahre Freude an den beiden gehabt, wenngleich Priscilla den von Marco durchschossenen Apfel nicht auf dem Kopf balanciert, sondern in der Hand hält. Die erste von zwei Tiernummern gehört den Geschwistern Chanel Marie und Ivan Frédéric Knie. Die neunjährige Chanel Marie dirigiert selbstbewusst ein weißes Pony durch große Ringe, die von Bingo-Artistinnen gehalten werden. Für den besonderen Effekt sind weiße Tauben in die Vorführung integriert. Während sich Chanel Marie für „Let it go“ aus dem Disney-Film Eiskönigin als Musik entschieden hat, begleiten die Beats von Michael Jacksons „Smooth Criminal“ die Hohe Schule von Ivan Frédéric. Souverän und richtig cool reitet der blendend aussehende 19-Jährige auf einem weißen Araber anspruchsvolle Schritte. Mit zwei synchron gezeigten Steigern verabschieden sich die beiden. Als Pausennummer erleben wir das Duo Flash of Splash. Amalia Avanesian und Yevgen Abakumov begeistern einmal mehr mit Akrobatik an den Strapaten. Ausdrucksstark agieren sie über der erneut herabgelassenen Bühne. Diese sorgt jetzt mit Wasserfontänen für eben jenen „Splash“. Ein traumhaftes Lichtdesign macht die Inszenierung perfekt. Schlusstrick ist der Wirbel im doppelten Zahnhang, bei dem Amalia den tragenden Part übernimmt.


The Gerlings

Mit einer Flic Flac-erfahrenen Formation startet der zweite Teil. Acht Mitglieder der Gerlings sorgen auf dem Hochseil für Spannung. Natürlich ist auch die Pyramide auf drei Ebenen mit sieben Akteuren im Repertoire. Aber schon vor diesem spektakulären Finale beweisen die Südamerikaner bei einer anspruchsvollen und abwechslungsreichen Trickfolge ihr Können. Ihre Outfits sind gar nicht Flic Flac-Style. Vielmehr trägt das Oktett schicke weiße Kostüme mit blauen Applikationen. Nach dieser Nummer werden die beiden Gittermasten, zwischen denen das Seil gespannt ist, in Windeseile durch die flinken Requisiteure abgebaut. Überhaupt gilt es an vielen Stellen in der Show große Mengen an Material in möglichst kurzer Zeit zu bewegen. Während die Aufbauten für das Hochseil verschwinden, tanzen die Bingo-Artisten in den Aufgängen des Gradins und später in der Manege. Dort erleben wir zwischenzeitlich auch Joseph Stenz. Der Feuerkünstler aus der Schweiz lässt eindrucksvolle Bilder entstehen. Er versteht sich glänzend auf das Spiel mit dem heißen Element. Das zweite Tableau mit Pferden gehört Géraldine Knie und Ehemann Maycol Errani. Es beginnt effektvoll mit der auf einem Friesen sitzenden Géraldine Knie. Auf einem angestrahlten, verspiegelten Podest drehen sich die beiden um die eigene Achse. Es folgen Elemente der Hohen Schule auf dem Sägemehl. Dann nimmt die artistische Direktorin sechs weitere Friesen in Empfang. Unter der Anleitung von Maycol Errani zeigen diese eine intensive, ausgefeilte Freiheit. Sie scheinen geradezu mit ihrem Dresseur zu spielen. Ein vertrautes Spiel. Ohne dieses Vertrauen wären die anspruchsvollen Tricks wohl so nicht möglich. Den farblichen Kontrast zu den schwarzen Friesen setzt Géraldine Knie mit vier weißen Arabern. Wir erleben Steiger sowie eine Version der Korbpferde, bei der die Körbe durch Cavaletti ersetzt werden.


Katerina Abakarova, Duo Flame, Globe of Speed

Traumhaft ist die Choreographie zur Strapatennummer von Katerina Abakarova, die sie gemeinsam mit Bingo-Mitgliedern zelebriert. Bingo in weißen Kostümen, Katerina in einem roten Kleid. Auf der Bühne wird ausdrucksstark getanzt, in der Luft werden schöne Figuren und anspruchsvolle Tricks gearbeitet. Zu Beginn gehen auch zwei der Bingo-Artistinnen mit auf die Flugreise. Der Hauptpart aber gehört Katerina Abakarova. Regen aus der Kuppel steigert die Attraktivität der Darbietung enorm. Musikalisch bildet „I'll never love again“ von Lady Gaga die passgenaue Begleitung. Regen und Gesang gehört auch zur Hand-auf-Hand-Akrobatik des Duo Flame. „Je t'aime“ heißt der Song von Lara Fabian. Dazu erzählen Vladyslav Ivashkin und Aiusha Khadzh Khamed eine Liebesgeschichte. Die Ukrainer kommen vom Spitzensport und sind auch privat ein Paar. Ihre Kür ist ungeheuer stark und gewinnt der bekannten Disziplin viele neue Facetten ab. Leistung sowie Inszenierung sind auf höchstem Niveau und garantieren so ein einmaliges Erlebnis. Spektakulärer Höhepunkt der Show ist die Motorradkugel. Nicht weniger als zehn Biker, darunter eine Frau, jagen durch den Globe of Speed. Die Kolumbianer und Argentinier geben bei aberwitzigen Formationen Vollgas. Standing Ovations sind ihnen Gewiss. Die gibt es auch zum Finale, welches auf eine kurze Einleitung von Ursus & Nadeschkin folgt. Sogar deutlich spontaner, als wir das aus früheren Jahren in Erinnerung haben. Daran hat sicherlich die neue Finalmusik ihren Anteil. Es geht los mit einer Originalkomposition für Knie. Dann folgen rockige Sounds. Dazu erleben wir eine fetzige Choreographie, die jeden Zuschauer mitreißt. Einige Zugaben gibt es genauso obendrauf wie ein kleines Feuerwerk vor dem Musikerpodium. Damit sei noch einmal das fulminant spielende Orchester erwähnt. Ebenso die geniale Lichtregie. Sogar die Piste lässt jetzt neuartige Beleuchtungseffekte zu.

Experiment geglückt! Diese Show ist eine fantastische Mischung aus zwei sehr gegensätzlichen Circusstilen. Diese werden so genial verbunden, dass daraus ein neues Ganzes entsteht. Eine Produktion, die ungeheuer mitreißend ist. Rockiger, fetziger als bisher, aber im Kern dem Stil des Hauses nicht untreu werdend. Seien wir gespannt, welche Ausstrahlung die Show 2020 auf die der kommenden Jahre hat. - A New Knie is born. But it's still Knie!

_______________________________________________________________________
Text und Fotos: Stefan Gierisch