Und
so wurden gleich zwei Highlights für die Spielzeit 2020 angekündigt.
Ursus & Nadeschkin sind wieder dabei. Die Schweizer Komiker sorgten
bereits 2002 für wahre Lachsalven im stets knallvollen Knie-Chapiteau.
Noch sensationeller, zumindest für die Circusfans, klang die Nachricht
einer Kooperation mit Flic Flac. Spektakuläre Neuigkeiten, die an eine
Katerstimmung gar nicht erst denken ließen. Es wurde konzipiert, in
erheblichem Umfang investiert und unermüdlich geprobt. Alles war bereit
für die Saisonpremiere in Rapperswil, die auf den 19. März datiert war.
Doch wenige Tage davor erreichte Corona auch die Schweiz. Von heute auf
morgen wurde das Leben deutlich eingeschränkt, an das Abhalten einer
Circusvorstellung war nicht zu denken. Der Zustand hielt über Wochen,
ja Monate an. Was tun? Wann kann die Tournee starten? Vor wie vielen
Zuschauern? Ist es nicht vielleicht am sinnvollsten, für 2020 alles
abzusagen? Die Familie Knie entschied sich für eine verkürzte Tournee
von Anfang August bis Ende Dezember. Ende Juni wurden zunächst zwölf
Orte angekündigt. Ein weiterer kam hinzu, dann wurden aus Kostengründen
wieder Städte gestrichen. Die Unsicherheit wird den Circus Knie auf der
diesjährigen Reise begleiten. Die aktuellen Entwicklungen können
jederzeit Anpassungen erforderlich machen.
 
Entree, Hygienehinweise
Doch
die Premiere ist geschafft. Nicht wie sonst in Rapperswil, sondern auf
der Allmend in Bern. Am 4. September wird die neue Show erstmalig vor
großem Publikum gespielt. Wobei „groß“ hier relativ ist. Denn aufgrund
von Hygienevorschriften dürfen im Chapiteau nur maximal 1.000 Sitze
belegt werden. Die Gäste müssen auf dem gesamten Platz und während der
Vorstellung eine Mund-Nase-Bedeckung tragen. Das Gradin ist in vier
Sektoren eingeteilt, zu denen speziell ausgewiesene Wege führen. Jeder
Bereich hat eigene Toiletten, eigene Gastronomie. An zentralen Orten
gibt es Spender mit Desinfektionsmittel. Das Hygienekonzept existiert
nicht nur auf dem Papier, es wird auch gelebt. Wir jedenfalls fühlten
uns rundum wohl.

Bingo
Dass
man eine Maske vor Mund und Nase trägt, merkt man in den rund
zweieinhalb Stunden Spieldauer - Pause inklusive - nicht. So
spektakulär, so mitreißend, so begeisternd ist die diesjährige
Produktion. Und so anders. Hinzu kommt, dass die Gäste so geschickt im
Zelt platziert sind, dass die verringerte Auslastung so wenig wie
möglich auffällt. Genauso, wie wir Corona während der Show ausgeblendet
haben, wollen wir dies auch für die folgende Betrachtung der
Vorstellung tun. Lassen wir uns also ein auf die Show im Jahr Eins nach
dem Jubiläum. Wie soll das funktionieren mit zwei so unterschiedlichen
Circus-Stilen – Knie und Flic Flac? Haben sich die Musiker um
Ruslan Fil im Winter ausgiebig mit dem Werk von Rammstein befasst?
Werden wir Klosterfrauen in der Manege des Schweizer National-Circus zu
sehen bekommen? Wie passt das zusammen? Gibt es zwei ganz
unterschiedliche Programmteile? Einen typisch Knie, den anderen
typische Flic Flac? Was passiert mit den Tierdressuren? Und wie baut
man da noch ein bekanntes Komikerduo ein?
 
Mad Flying Bikers
All
diese Fragen beantworten sich bei der Premiere. Befürchtungen, ein
Stückwerk serviert zu bekommen, erweisen sich als unbegründet. Vielmehr
haben die artistische Direktorin Géraldine Knie und ihr Team eine Show
aus einem Guss kreiert. In der Gastronomie würde man von Fusion Kitchen
sprechen. Es passt alles zusammen, es harmoniert vorzüglich. Beim
Betreten des Spielzelts fällt neben der erweiterten Lichtanlage der
neue Artisteneingang auf. Im Stil an den bisherigen angelehnt, aber
jetzt nur noch mit einem einzigen, breiten und hohen Vorhang versehen,
über dem das Orchester sitzt. Dessen Ouvertüre klingt noch vertraut.
Doch wenn eine Bingo-Formation zum Opening bittet, wird es deutlich
rockiger als bislang. Dieser kantigere Musikstil begegnet uns immer
wieder im Laufe der Vorstellung. Für mich genau richtig, da
schwungvoller und mitreißender als die oftmals eher „sphärischen“
Sounds der letzten Jahre. Die Bingo-Mitglieder kombinieren wie gewohnt
Tanz und Artistik zu einer ganzheitlichen Choreographie. Dies tun sie
auf einer runden, mit Scheinwerfern versehenen Bühne in der
Manegenmitte. Dazu gibt es wirklich spektakuläre Feuereffekte. Der
erste Flic Flac-Moment, auf den der zweite folgt. In einer Aussparung des
mittleren Gradins steht eine Rampe, von der aus die Mad Flying Bikers zu
atemberaubenden Sprünge mit dem Motorrad starten. Gelandet
wird auf einem Podium vor dem Artisteneingang. Fünf Fahrer, oder richtiger:
Flieger, sind im Einsatz. Ihre Riesensätze werden von Feuersäulen
begleitet. Das Überraschungsmoment ist enorm. Das Publikum spendet
Standing Ovations und da ist die Show gerade mal ein paar Minuten alt.
  
Ursus & Nadeschkin
Während
die Bühne Richtung Kuppel gezogen wird, fegen Ursus & Nadeschkin
mit ihrem ganz eigenen Motorrad durch die Reihen. Nach 18 Jahren sind
sie zu Knie zurückgekehrt. Ihre Karton-Rössli von damals sind wieder
mit dabei. Ansonsten erleben wir sie in komplett neuen Auftritten, die
perfekt auf dieses Circus-Gastspiel abgestimmt sind. So korrigieren sie mit
großen Buchstaben und der Hilfe des Publikums das diesjährige
Plakatmotiv. Jetzt – anders als in der Werbung - mit den Lettern
in der richtigen Reihenfolge. Dabei trifft der strukturierte, auf
Perfektion bedachte Ursus auf die eher chaotische Nadeschkin mit dem
Wuschelkopf. Kreativ sind sie beide. Aber eben jeder auf seine ganz
eigene Weise. Durch diese Gegensätze, die letztendlich dann doch
harmonieren, ergeben sich herrliche Szenen. Hinzu kommt ihr
einzigartiger Wortwitz und ein perfektes Timing. In ihrem nächsten
Einsatz entdecken sie das in der Manege aufgebaute Schlappseil, welches
hier eine Slackline ist. Nach anfänglicher Ehrfurcht vor dem
Artistenrequisit traut sich Nadeschkin auf das Band und hält sich
professionell in Balance. Ursus „rettet“ die Szene aus der Luft,
wodurch sich neue Möglichkeiten ergeben. Wie etwa ein Spagat auf dem
Seil, zumindest fast. Herrlich auch die Nummer, bei der Ursus im
glänzenden Artistenkostüm den durchaus achtbaren Reifenjongleur gibt.
Seine ernsthaften Akrobatikambitionen gehen so lange gut, bis
Nadeschkin im Jockeyoutfit mit Rennkuh die Szenerie betritt. Die beiden
geraten sich ordentlich in die Haare. Es entspinnen sich urkomische
Dialoge. Normalerweise würde das Chapiteau hier vor Lachsalven erbeben.
Doch die Masken verhindern dies. Schade, denn es bringt die beiden um
einen Teil ihres verdienten Lohns. Ich jedenfalls kann versichern, dass
ich unter meinem Stofftuch vor Mund und Nase herzlich gelacht habe. Ihr
Nummern sind schlichtweg genial erdacht und werden hinreißend gespielt.
Chapeau! Vielleicht haben wir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal
die Chance, ihre Auftritte ohne Einschränkungen genießen zu können. Als
Zugabe gibt es Ursus & Nadeschkin im Kleinformat. In den gleichen
Aufmachungen tanzen Nadja Siegers Sohn Sidney und dessen Freund Raoul
durch den Regen. Die kleine Ausgabe von Nadeschkin übernimmt zudem eine
Herkulesaufgabe, wenn sie die Motorradkugel in die Manege zieht.
  
Chanel Marie Knie, Ivan Frédéric Knie, Flash of Splash
Artistisch
geht es nach dem ersten Comedy-Act weiter mit den Fratelli Errani.
Maycol, Wioris und Guido zeigen noch einmal ihre Bodenakrokatik aus dem
Knie-Programm 2011. Bei den Handvoltigen wird Guido von seinen Brüdern
in die Luft geworfen und nach beherzten Sprüngen wieder aufgefangen.
Weitere artistische Kabinettstückchen schließen sich an. Alles
dargeboten mit viel Temperament. Auch abseits des Scheinwerferlichts
ist das Trio zu einer unverzichtbaren Stütze des Unternehmens geworden.
So hat etwa Guido in diesem Jahr die Rolle des Abendregisseurs
übernommen. Präzision ist gefragt, wenn das Duo Double Risk die Nerven
des Publikums strapaziert. Marco Moressa zielt mit Pfeilen und Messern
immer ganz knapp an Partnerin Priscilla Errani vorbei. Doch auch
Priscilla versteht sich auf die Kunst des Armbrustschießens. Wilhelm
Tell hätte seine wahre Freude an den beiden gehabt, wenngleich
Priscilla den von Marco durchschossenen Apfel nicht auf dem Kopf
balanciert, sondern in der Hand hält. Die erste von zwei Tiernummern
gehört den Geschwistern Chanel Marie und Ivan Frédéric Knie. Die
neunjährige Chanel Marie dirigiert selbstbewusst ein weißes Pony durch
große Ringe, die von Bingo-Artistinnen gehalten werden. Für den
besonderen Effekt sind weiße Tauben in die Vorführung integriert.
Während sich Chanel Marie für „Let it go“ aus dem Disney-Film
Eiskönigin als Musik entschieden hat, begleiten die Beats von
Michael Jacksons „Smooth Criminal“ die Hohe Schule von Ivan Frédéric.
Souverän und richtig cool reitet der blendend aussehende 19-Jährige auf
einem weißen Araber anspruchsvolle Schritte. Mit zwei synchron
gezeigten Steigern verabschieden sich die beiden. Als Pausennummer
erleben wir das Duo Flash of Splash. Amalia Avanesian und Yevgen
Abakumov begeistern einmal mehr mit Akrobatik an den Strapaten.
Ausdrucksstark agieren sie über der erneut herabgelassenen Bühne. Diese
sorgt jetzt mit Wasserfontänen für eben jenen „Splash“. Ein traumhaftes
Lichtdesign macht die Inszenierung perfekt. Schlusstrick ist der Wirbel
im doppelten Zahnhang, bei dem Amalia den tragenden Part übernimmt.

The Gerlings
Mit
einer Flic Flac-erfahrenen Formation startet der zweite Teil. Acht
Mitglieder der Gerlings sorgen auf dem Hochseil für Spannung. Natürlich
ist auch die Pyramide auf drei Ebenen mit sieben Akteuren im Repertoire.
Aber schon vor diesem spektakulären Finale beweisen die Südamerikaner
bei einer anspruchsvollen und abwechslungsreichen Trickfolge ihr
Können. Ihre Outfits sind gar nicht Flic Flac-Style. Vielmehr trägt das
Oktett schicke weiße Kostüme mit blauen Applikationen. Nach dieser
Nummer werden die beiden Gittermasten, zwischen denen das Seil gespannt
ist, in Windeseile durch die flinken Requisiteure abgebaut. Überhaupt
gilt es an vielen Stellen in der Show große Mengen an Material in
möglichst kurzer Zeit zu bewegen. Während die Aufbauten für das
Hochseil verschwinden, tanzen die Bingo-Artisten in den Aufgängen des
Gradins und später in der Manege. Dort erleben wir zwischenzeitlich
auch Joseph Stenz. Der Feuerkünstler aus der Schweiz lässt
eindrucksvolle Bilder entstehen. Er versteht sich glänzend auf das
Spiel mit dem heißen Element. Das zweite Tableau mit Pferden gehört
Géraldine Knie und Ehemann Maycol Errani. Es beginnt effektvoll mit der
auf einem Friesen sitzenden Géraldine Knie. Auf einem angestrahlten,
verspiegelten Podest drehen sich die beiden um die eigene Achse. Es
folgen Elemente der Hohen Schule auf dem Sägemehl. Dann nimmt die
artistische Direktorin sechs weitere Friesen in Empfang. Unter der
Anleitung von Maycol Errani zeigen diese eine intensive, ausgefeilte
Freiheit. Sie scheinen geradezu mit ihrem Dresseur zu spielen. Ein
vertrautes Spiel. Ohne dieses Vertrauen wären die anspruchsvollen
Tricks wohl so nicht möglich. Den farblichen Kontrast zu den schwarzen
Friesen setzt Géraldine Knie mit vier weißen Arabern. Wir erleben
Steiger sowie eine Version der Korbpferde, bei der die Körbe durch
Cavaletti ersetzt werden.   
Katerina Abakarova, Duo Flame, Globe of Speed
Traumhaft
ist die Choreographie zur Strapatennummer von Katerina Abakarova, die
sie gemeinsam mit Bingo-Mitgliedern zelebriert. Bingo in weißen
Kostümen, Katerina in einem roten Kleid. Auf der Bühne wird
ausdrucksstark getanzt, in der Luft werden schöne Figuren und
anspruchsvolle Tricks gearbeitet. Zu Beginn gehen auch zwei der
Bingo-Artistinnen mit auf die Flugreise. Der Hauptpart aber gehört
Katerina Abakarova. Regen aus der Kuppel steigert die Attraktivität der
Darbietung enorm. Musikalisch bildet „I'll never love again“ von Lady
Gaga die passgenaue Begleitung. Regen und Gesang gehört auch zur
Hand-auf-Hand-Akrobatik des Duo Flame. „Je t'aime“ heißt der Song von
Lara Fabian. Dazu erzählen Vladyslav Ivashkin und Aiusha Khadzh
Khamed eine Liebesgeschichte. Die Ukrainer kommen vom Spitzensport und
sind auch privat ein Paar. Ihre Kür ist ungeheuer stark und gewinnt der
bekannten Disziplin viele neue Facetten ab. Leistung sowie Inszenierung
sind auf höchstem Niveau und garantieren so ein einmaliges Erlebnis.
Spektakulärer Höhepunkt der Show ist die Motorradkugel. Nicht weniger
als zehn Biker, darunter eine Frau, jagen durch den Globe of Speed. Die
Kolumbianer und Argentinier geben bei aberwitzigen Formationen Vollgas.
Standing Ovations sind ihnen Gewiss. Die gibt es auch zum Finale,
welches auf eine kurze Einleitung von Ursus & Nadeschkin folgt.
Sogar
deutlich spontaner, als wir das aus früheren Jahren in
Erinnerung haben. Daran hat sicherlich die neue Finalmusik
ihren Anteil. Es geht los mit einer Originalkomposition für
Knie. Dann folgen rockige Sounds. Dazu erleben wir eine
fetzige Choreographie, die jeden Zuschauer mitreißt.
Einige
Zugaben gibt es genauso obendrauf wie ein kleines Feuerwerk
vor dem Musikerpodium. Damit sei noch einmal das fulminant
spielende Orchester erwähnt. Ebenso die geniale Lichtregie.
Sogar die Piste lässt jetzt neuartige Beleuchtungseffekte
zu.
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