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Circus-Theater Roncalli 2019
www.roncalli.de ; 218 Showfotos

Hannover, 28. September 2019: Wer erfolgreich am Markt sein will, der muss seine Zielgruppe kennen sowie Produkt und Marketing darauf abstimmen. Das macht wohl kaum ein Circus-Unternehmen so entschlossen wie Roncalli. Das „Circus-Theater“ spielt nur in Großstädten und hat sich mehr denn je auf ein urbanes Publikum ausgerichtet. Auf dem Programmheft prangen Vokabeln, die heutige Metropolen-Bewohner gerne lesen: „Tierfrei“ sei Roncalli, „plastikfrei“, „vegan“, „vegetarisch“ sowie mit „historischen Foodtrucks“ und „Streetfood“ ausgestattet.

In jedem Fall gibt der Circus nach wie vor ein herrliches Bild ab. Mitten in Hannover ist das Zelt aufgeschlagen, umringt vom nostalgischen Wagenpark. Man würde sich wünschen, dass das vegetarisch-vegane Angebot konsequenter ausgebaut wird und sich nicht vorwiegend auf Fruchtsmoothies beschränkt. Einigermaßen „plastikfrei“ ist die Restauration tatsächlich, mit Popcorn in Papiertüten und Getränken in Glasflaschen. Die „Tierfreiheit“ bezieht sich nur auf das Geschehen in der Manege. Auf leckere Bratwurst vom Grill oder gar ein saftiges Rumpsteak im Café des Artistes muss niemand verzichten. Wohl aber auf die Wildtierdressuren früherer Jahrzehnte sowie auf die Pferde- und Ponynummern der vergangenen Saisons – obwohl sie so herrlich ins Bild eines nostalgischen Circus passen würden.


Hologramm-Elefant, Adèle Fame

Als Ersatz hat Roncalli-Direktor Bernhard Paul seine „Hologramme“ ersonnen. Zu Beginn der Vorstellung ist rund um die Manege ein Vorhang aus halbtransparentem Gazestoff gespannt, auf den mit vielen Projektoren dreidimensionale Bilder von Pferden, Elefant und Goldfisch geworfen werden. Zudem erscheinen Bernhard Paul im Heißluftballon und Weißclown Gensi als Lichtbilder. Eine Pferdepuppe gibt es noch dazu. „Hologramme statt Tiere“, mit dieser einfachen Formel haben der Circusdirektor und sein Medienchef Markus Strobl einen weltweiten PR-Erfolg gelandet. In 141 Ländern sei in den Abendnachrichten darüber berichtet worden. Dies mag dazu beitragen, dass die besuchte Vorstellung nahezu ausverkauft ist. Die Faszination der echten Begegnung von Mensch und Tier ist aber nicht zu ersetzen. Ganz real sind die Hologramme nicht mehr als ein Prolog zur Show, ehe die emotionale Reise in die Roncalli-Welt richtig beginnt. Das eigentliche Opening vereint acht hübsche Mädchen in Livrees, Weißclown Gensi mit einer Glockenschelle sowie den poetischen Clown Paolo Carillon im Schottenrock und mit Dudelsack in der Manege. Spektakulär wird es gleich bei Adèle Fames starker Luftakrobatik an den Strapaten. Anspruchsvolle Tricks wie kraftvolle Überschläge oder das Aufstehen aus dem Spagat werden geradezu ekstatisch zelebriert und vom Publikum mit kräftigem Applaus gefeiert.


Kai Eikermann, Quincy Azzario, Chistirrin

Viele Jahre lang prägten Fumagalli und später David Larible als große Starclowns die Roncalli-Programme. In den letzten Jahren hingegen hat Bernhard Paul eine ganze Komiker-Riege geschaffen, die so wohl einzigartig ist. Sie ist mehr gemeinsam stark als einen eindeutigen Superstar zu haben. Zu den Mitgliedern gehört Kai Eikermann, der Glatzkopf mit der markanten Kopfform. Er gibt zunächst den menschlichen Cola-Automaten. Gleich darauf übernehmen Eddy Neumann und Anatoli Akermann, richtige Clowns in farbenfrohen Kostümen, mit ihrer Zauber-Persiflage. Zum geheimnisvollen Platzwechsel wird da schon mal gut sichtbar unter dem Manegenteppich durchgekrabbelt. Quincy Azzario hat sich dem Handstand verschrieben. Sie beeindruckt mit Ausstrahlung und Können, beispielsweise bei ihren Drehungen auf Händen und dem Klötzchen-Abfaller. Immer wieder hat Bernhard Paul herausragende Clownstalente aufgespürt und geformt. Die neueste Entdeckung ist Chistirrin. Der Mexikaner ist geradezu unverschämt sympathisch, äußerst extrovertiert und hat den Schalk im Nacken. Während der sanfte Weißclown Gensi als Magier in der Manege arbeiten will, wird er von Chistirrin immer wieder gestört. Mit Michael-Jackson-Tanz, mit artistischen Kabinettstückchen und mit musikalischen Einlagen. Schlussendlich gibt Chistirrin eine ganze Kapelle, spielt gleichzeitig Trompete, Posaune, Trommel und Becken.


Cedenos, Robert Wicke und "Dietmar", Hamza Benini

Begleitet von den vier hübschen Ballettgirls und im Sambarhythmus entern die vier Cedenos die Manege. Sie begeistern bei ihren doppelten ikarischen Spielen – mit zwei Trinkas sowie je zwei Untermännern und Fliegern – mit südländischem Temperament und akrobatischem Können. Die siebenköpfige Komiker-Crew wird komplettiert durch Beatboxer Robert Wicke. In der herrlichen Pausennummer wirkt das gesamte Septett mit, Wicke findet dabei im Publikum einen talentierten Mitspieler. Das Ganze endet mit einer handfesten Überraschung. Heiter geht es auch im zweiten Programmteil weiter, wenn die vier Cedenos und Chistirrin mit haarsträubenden Aktionen ein Mini-Flugtrapez erobern. Als zweite „Tiernummer“ reiten Moustapha Niasse und Hamza Benini auf zwei Plüsch-Elefanten um die Manege – eine kurze Hommage an Chocolat, einen der ersten erfolgreichen schwarzen Entertainer im modernen Frankreich, und seinen Bühnenpartner Footit.


Bello Sisters, Paolo Carillon, Vivian Paul und Natalia Rossi

Nun rückt zunehmend die Artistik in den Mittelpunkt, zunächst mit den drei hübschen Bello Sisters und ihrer Partnerakrobatik. Für Poesie und leise Töne sorgt Paolo Carillon. Mit seinen wundersamen Maschinen – wie die Eisenbahn auf seinem Hut – und der viktorianisch inspirierten Kleidung wird das Steampunk-Thema vortrefflich umgesetzt. Später folgen noch zwei kurze clowneske Reprisen, unter anderem die „Reparatur“ eines Scheinwerfers durch Anatoli Akermann und Eddy Neumann. In die Zeit des Barock entführen Vivian Paul, die ältere Tochter des Direktors, und Natalia Rossi bei ihrer starken Luftakrobatik am Kronleuchter. Die Kostüme der Artistinnen und des begleitenden Balletts sind perfekt dem Thema angepasst.


Paul Herzfeld, Zhenyu Li, Chistirrin und Gensi

Bei allem nostalgischen Ambiente überrascht Roncalli immer wieder auch mit innovativen Elementen. Und so ist die faszinierendste Nummer des Programms ein Duett von Mensch und Maschine. Dabei steht in der Mitte der Manege ein Industrieroboter mit einem in alle Richtungen beweglichen Arm. Daran angebracht ist ein Mast. Während der Roboter unaufhörlich in Bewegung ist, zeigt Artist Paul Herzfeld daran seine Kunst. Er balanciert auf der Stange, er hängt kopfüber daran, er klettert am Requisit, saust den Pole hinunter, schlägt einen Vorwärtssalto. So ergibt sich ein variantenreiches Zusammenspiel. Wie im Vorjahr sorgt ein chinesischer Artist für die Schlussnummer, Genre und Besetzung wurden jedoch geändert. Nun präsentiert Zhenyu Li seine Equilibristik-Nummer auf flexiblen Stäben. Diese verlängert er durch zusätzliche Teile in immer neue Höhen. An der Spitze balanciert er auf Händen oder im Spagat zwischen den auseinander strebenden Stangen.

„Storyteller – gestern, heute, morgen“ heißt diese schöne Produktion, die aber gar keine durchgehende Geschichte erzählt. Vielmehr ist sie ein hochwertiges Nummernprogramm mit zwei unterschiedlichen Hälften: Vor der Pause erhalten die Komiker breiten Raum, die zweite Halbzeit ist vollgepackt mit Akrobatik. Somit sind die Komponenten im Durchschnitt ausgewogen vertreten. Getragen werden alle Künstler von der wunderbaren Musik des Orchesters unter der Leitung von Georg Pommer.

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Text: Markus Moll; Fotos: Stefan Gierisch