Vor
allen Dingen ist es aber das Musical selbst, das fasziniert. Alle
Komponenten sind für sich genommen hervorragend gelungen. Zudem bilden
sie eine fantastische Einheit. Die Musik ist wunderbar und
abwechslungsreich, geht gut ins Ohr. Die Dramaturgie sorgt dafür, dass
der Spannungsbogen nie abreißt. Die Kostüme sind aufwendig und sehr
geschmackvoll. Die gesamte Ausstattung ist beeindruckend. Wir erleben
kleine, intime Szenen und große Bilder. Insbesondere die
ausschweifenden Darstellungen von Circusvorstellungen begeistern.
Natürlich gibt es Artistik zu sehen. Zaubertricks bereichern die
Handlung, sorgen für Staunen. Die Besetzung aller Genres – Sänger,
Artisten, Schauspieler, Tänzer – ist vortrefflich. Zu alledem bekommen
wir noch Geschichte vermittelt. Die des Circus Knie.
Szene aus dem 1. Teil mit Friedrich Knie und Ensemble
Dabei
beschränken sich die Macher nicht auf die 100 Jahre, die der Circus
2019 besteht. Die Erzählung beginnt bei dem 1784 geborenen Friedrich
Knie, dem Gründer der Dynastie. In der ersten Szene eröffnet er 1803
seinem wenig erfreuten Vater, dem Leibarzt von Maria Theresa, dass er
sich dem fahrenden Volk anschließen will. Natürlich ist der Herr Papa
wenig erfreut. Es kommt zum Zerwürfnis. Friedrich aber geht seinen Weg,
gründet eine Artistentruppe und zieht über die Marktplätze. Bei einem
dieser Gastspiele lernt er Antonia Staufer kennen und lieben. Sie wird
schließlich seine Frau. Anlässlich eines umjubelten Auftritts der Compagnie vor
dem Kaiser kommt es zum Wiedersehen von Vater und Sohn sowie zu ihrer
Versöhnung. Die Freude währt aber nur kurz, denn Friedrich Knie stirbt.
Sein Vater kann ihm nicht mehr helfen. Antonia Knie führt die Geschäfte
fort, das Ensemble ist in Trauer. Als Soldaten Napoleons eine
Extravorstellung am Feld verlangen, tritt die neue Direktorin resolut
auf. Einen Auftritt gibt es nur in der Stadt. Und nur dann, wenn sie ihre
konfiszierten Pferde wiederbekommt - „geputzt und gestriegelt“, so ihre
letztendlich erfolgreiche Forderung. Dann macht die Geschichte einen
Sprung zur 3. Generation. Maria Heim-Knie spricht bei den Oberen der
Stadt Rapperswil vor, um mit ihrem Unternehmen dort ansässig zu werden.
Als sie scheitert, nehmen ihre vier Söhne die Angelegenheit in die
Hand. Sie haben Fortune, und so siedelt die Arena Knie von Österreich in
die Schweiz über. Dort gründen die Brüder Friedrich, Karl, Eugen und
Rudolf 1919 den Schweizer National-Circus Gebrüder Knie. Offenbar
erfolgreich, denn das auf Pump gekaufte Chapiteau kann schneller
abbezahlt werden als gedacht. Ein größeres wird sogleich bestellt. Mit
einer prächtigen Circusvorstellung endet der erste Teil.
Szene aus dem 2. Teil mit der 5. und 6. Generation
Nach
der Pause erleben wir das Bruder-Quartett im Streit. Eugen darf nicht
mehr auf dem Hochseil auftreten und spricht deswegen dem Alkohol zu.
Dann geht es um die große India-Show. Sie ist zwar wahrhaft prächtig,
bringt aber nicht den gewünschten Erfolg. Zur Ankurbelung des
Geschäfts schlägt ein Vertreter der nächsten Generation vor,
glatzköpfige Männer mit dem Knie-Logo auf dem Kopf durch die Stadt zu
schicken und zwei Löwen freizulassen. Zudem gibt es jetzt Paraden in
den Gastspielorten. Thematisiert wird auch die Zeit des
Nationalsozialismus. Als die Nazis feststellen, dass vor dem Chapiteau
nicht die Hakenkreuz-Fahne hängt, drohen sie damit, die Artisten aus
Deutschland und den von Deutschland besetzten Ländern abzuziehen. Auch
diese Situation wird gelöst. Quasi als Gegenleistung gehen Rolf und
Fredy Knie im Winter 1942/43 mit Pferden und Elefanten ins Engagement
nach Berlin. Bei der letzten Vorstellung im Wintergarten ist auch Adolf
Hitler zugegen. Um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden, verladen sie
ihre Tiere unmittelbar nach der Show in die Eisenbahnwaggons und reisen
zurück in die Schweiz. Gerade noch rechtzeitig entgehen sie einem
Bombenangriff auf die Stadt, der im Theater eindrucksvoll dargestellt
wird. Filmsequenzen aus der Wochenschau ergänzen diesen Teil der
Geschichte. Anhand von Plakaten und wunderbaren Spielszenen wird an die
Programme der folgenden Jahre erinnert. Rolf und Fredy Knie
thematisieren die Bedrohung durch das Fernsehen. Als Gegenmaßnahme
sehen sie unter anderen die Öffnung des Chapiteaus für die
Morgenarbeit, um so das Training mit den Tieren transparent zu machen.
Dann gehört die Bühne der 6. Generation. Fredy, Franco, Rolf und Louis
Knie präsentieren sich in einer großen, lebendigen Schlussszene. Zum
Epilog erleben wir noch einmal Friedrich Knie.
Jozsef Pakucza, Sabina Muradova, Victor Rossi
Die
Handlung wird äußerst gelungen umgesetzt. So unterhaltsam, anschaulich
sollte Geschichtsvermittlung immer sein. Besonders packend sind die
verschiedenen Gaukler- und Circusvorstellungen. Zunächst sind es die
Gastspiele unter freiem Himmel auf den Marktplätzen, später dann die
großen Shows unter dem Chapiteau. Immer individuell, immer aufwendig
gestaltet. Sehr originell etwa sind die Tierdarstellungen. Die Figuren
wurden eigens für das Musical erdacht und gebaut. Natürlich sind auch
Profiartisten dabei, die allerdings nicht en bloc ihre Nummern spielen,
sondern immer nur Sequenzen zeigen. So läuft Nicol Nicols in zwei
Szenen über das Drahtseil, demonstriert Jozsef Pakucza seine Kraft,
jonglieren Elena Drogaleva und ihre Gentlemen in mehrere Auftritten und
zeigt Sabina Muradova Luftakrobatik. Zudem müssen sich die Artisten als
Schauspieler beweisen. Herzig etwa ist es, wenn Nicol Nicols als Sohn
von Friedrich Knie unter Tränen Abschied vom Vater nimmt. Bestens in
der Circuswelt bekannt sind auch Victor Rossi und Antoninio de Jesus
Ferreira (Manducas), die zusammen mit dem kleinwüchsigen Schauspieler
Peter Brownbill unsere Begleiter durch den Nachmittag sind. Immer
wieder tauchen sie auf und sorgen für Heiterkeit.
Szene aus dem
Jahr 1919
Stark besetzt ist auch die Riege der
Sängerinnen und Sänger. Am bekanntesten dabei ist Alexander
Klaws, Gewinner der ersten Staffel von „Deutschland sucht den
Superstar“. Er ist in den Rollen von Friedrich Knie und Fredy
Knie sen. zu erleben. In der von uns besuchten Vorstellung
agiert stattdessen Friedrich Rau. Er macht seine Sache, wie
auch alle anderen Vokalisten, ganz hervorragend. Musik und
Liedtexte stammen von Martin de Vries sowie Patric Scott.
Letzteren kennen wir als Sänger mehrerer Ausgaben von Salto
Natale. Die Komponisten verstehen es, eingängige Melodien zu
schreiben, für musikalische Abwechslung zu sorgen und alles zu
einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen. Ebenfalls von Salto
Natale bekannt ist Peter Pfändler. Dort ist er als Comedian
aufgetreten. Für das Musical hat er die Texte erdacht. Für die
herrlichen Bühnenbilder zeichnet Peter Rothe verantwortlich,
für das wunderschöne Lichtdesign Jacques Rouveyrollis. Die
prächtigen Kostüme haben Stela Verebceanu und Sonia Salado
kreiert. Der Magier Dany Lary hat die Spezialeffekte
beigesteuert. Produzent, Regisseur und Autor schlussendlich
ist Rolf Knie. Er hat hier ein wahres Meisterwerk erschaffen,
hat einen enormen Aufwand auf sich genommen. Künstlerisch hat
sich dieser ohne jeden Zweifel gelohnt. Wie es wirtschaftlich
aussieht, muss sich noch zeigen. Nach Dübendorf wird die
kostspielige Produktion im Sommer für einen Monat in Bern und
von Anfang November bis in die zweite Dezemberhälfte in Basel
gezeigt. In Bern wird wiederum im Chapiteau gespielt, in Basel
im Musical Theater.
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