Auf dem Kinderzoo-Parkplatz
erwartet uns im Prinzip ein neuer Circus. Dank der außen
liegenden Metallbögen gibt es im Inneren des Chapiteaus keine
Masten mehr. Die 2340 bequemen Klappsitze wurden statt genau
hintereinander jeweils leicht versetzt angeordnet, um wirklich
jede Beeinträchtigung der Sicht bestmöglich zu vermeiden. Der
2017 erneuerte Artisteneingang wurde mit einer
„100“-Leuchtschrift versehen, Licht und Ton auf den
neuesten Stand gebracht.
Außenansicht
Überwältigend ist der Anblick des
Circus von außen. "100 Jahre Knie" leuchtet eine Schrift in der
Nacht über dem Eingangsportal. Die Bogenmasten sind blau
illuminiert, die schneeweiße neue Plane wird festlich in rot
und blau angestrahlt. Das ebenso neue, viermastige Vorzelt
schwingt sich elegant um die vordere Hälfte des Chapiteaus und
ist höchst geschmackvoll eingerichtet. Plakatmotive aus 100
Jahren, rote Stoffbahnen, Lichterketten und bequeme
Sitzgelegenheiten schaffen ein wunderbares Ambiente. Das
bekannte Büffet wird durch neue Verkaufsstände und -wagen mit
einem deutlich erweiterten gastronomischen Angebot ergänzt.
Truppe Bingo und
Tanja Dankner
Als das Orchester unter der
Leitung von Ruslan Fil die Ouvertüre spielt, steht in der Manege
bereits ein kleines Circuszelt. Das Jubiläumslogo wird auf den
halbtransparenten Stoff projiziert. Ebenso wie schöne Bilder aus
100 Jahren, von den Gründern bis zu den heutigen Circusmachern
der 6., 7. und 8. Generation Knie. Unter diesem Zelt schläft
Circusprinzessin Chanel und träumt vom Zwiegespräch mit ihrem
Großvater Fredy Knie jun. Wie sie den Circus erhalten könne,
möchte sie von ihrem „Nonno“ wissen: „Folge deinem Herzen und
öffne deine Augen“, lautet sein guter Rat. Ein weißes Pferd in
der Videoprojektion verliert eine blaue Feder aus dem Puschel an
seinem Kopf. Die erwachte Chanel fängt diese ganz real. Weiter geht das Opening mit einem Charivari der Truppe
Bingo. Verschiedene akrobatische Genres am Boden und in der Luft
werden von den sechs Mädels und zwei Jungs aus der Ukraine
präsentiert. In diesem Jahr erhält ihre Eröffnung eine ganz neue
Prägung, denn dazu wird live gesungen. Erstbesetzung ist die
bekannte Schweizer Sängerin Nubya. Wenn diese andere
Verpflichtungen hat, wird sie vertreten. Darüber informiert das
umfangreiche Jubiläums-Programmheft, welches fast einem Buch
gleicht. An diesem Samstagabend ist es Tanja Dankner, die den
emotionalen Song über den Circus Knie interpretiert – den Ort,
an dem seit Generationen Träume wahr werden, wie es im
englischsprachigen Text heißt. Dazu trägt die Sängerin ein
fantastisches, farbenfrohes Kostüm mit Knie-Schriftzug. Es wurde
von Gia Eradze kreiert. Die gesamte Eröffnung der Vorstellung
geht direkt ins Herz.
Golden Dream, Fratelli Errani,
Victor Kee
Maycol
Errani – der Ehemann von Géraldine Knie – und seine jüngeren
Brüder Guido und Wioris bereichern im 12. Jahr in Folge die
Programme des Circus Knie mit ihrem vielseitigen Können und in
immer neuen Disziplinen. Die Geschichte begann 2005, als Maycol
und Guido Errani erstmals mit ihren ikarischen Spielen bei Knie
engagiert waren. Was lag da näher, als diese fantastische Nummer
fürs Jubiläum neu aufzulegen? Sie bringt als erste akrobatische
Darbietung nach dem Opening gleich Tempo und Stimmung. Salti und
Pirouetten im direkten Wechsel, der Kopfstand auf dem Fuß von
Untermann Maycol, die Landung im Stehen auf einem Fuß des
Bruders: All das macht nach wie vor Eindruck. Große Gefühle
zelebrieren Ambra und Yves Nicols mit ihrer Nummer „Golden Dream“.
Als Goldmenschen und im römischen Stil arbeiten sie an den
Tüchern. Atemberaubend, wie Ambra sich mit beiden Händen am
Nacken des Partners hält, loslässt und sich mit seinen Füßen
fangen lässt – und dies alles in großer Höhe. Einen großen Namen
trägt Victor Kee. Vollkommen künstlerisch ist sein Auftritt
gestaltet, in dem er mit fünf Bällen jongliert. Die Requisiten
fliegen ihm aus der Kuppel zu, werden von ihm in der Luft
gefangen und sofort zum Jonglieren verwendet.
Chanel Knie, Fredy Knie jun.
Mit einem Pferde-Block geht es
Richtung Pause. Viele Jahre ist Géraldine Knie nicht mehr als
Reiterin aufgetreten. Sie war mit Freiheitsdressuren zu erleben
und legte zuletzt eine Babypause ein. Nun feiert sie ihr
Comeback mit einer vorzüglich gerittenen Hohen Schule. „Here I
go – feel better now“, heißt es im Begleitsong, der von Tanja
Dankner live interpretiert wird, mitten in der Manege im weißen
Kleid. Dabei wird sie von der Reiterin umkreist, die sich
selbstbewusst und strahlend lächelnd präsentiert. Auf Géraldine
folgt ihre Mutter Mary-José mit einer Doppelfreiheit Schecken
zur Filmmusik aus „Greatest Showman“. Géraldines Tochter Chanel
sorgt für den herzigsten Moment der Show. Dann, wenn sie mit
großer Ernsthaftigkeit sechs Ponys in Freiheitsdressur anleitet.
Die Tiere springen über Hürden, versammeln sich zur
Leckerli-Gabe, und drei von ihnen verabschieden sich mit einem
gemeinsamen Steiger. Der Clou aber ist, dass die Ponys beritten
sind – mit Puppen in Gestalt von Chanel, sechs Doubles mit den
gleichen, langen Haaren. Die Oberkörper der Puppen wippen witzig
vor und zurück. Das Vergnügen im Publikum ist riesig. Ernsthaft
anrührend wird es gleich darauf. Aus der Kuppel fährt eine
zylinderförmige Leinwand. Darüber laufen Bilder und Videos, die
vorwiegend Nummern aus der jahrzehntelangen Manegen-Karriere von
Fredy Knie jun. und seines Zweigs der Circusfamilie zeigen.
Schließlich tritt der Direktor selbst in den Ring. Zum Jubiläum
hat er einen ganz großen Auftritt. Erst formt er 18 Pferde zum
Stern in drei Gruppen, dann dirigiert er das Karussell mit 30
Rössern auf drei Bahnen. Das Licht erlischt, und die Pferde
drehen mit leuchtenden LED-Geschirren ihre Kreise. Ein
fantastisches Bild, das heute nirgendwo anders mehr zu sehen
ist. Mit feurigen Steigern geht der Pferdeblock zu Ende,
gemeinsam und im Wechsel präsentiert von Fredy Knie jun. und
Enkel Ivan. Zum Schlusskompliment kommt Fredy Knies ganze
Familie in die Manege: Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn, die drei
Enkel. Gemeinsam verneigen sie sich vor einem Porträtbild von
Fredy Knie sen., das auf eine Leinwand im Artisteneingang
projiziert wird.
Ivan Frédéric
Knie, Anastasia Makeeva mit Truppe Bingo, Duo Ballance
Den zweiten Programmteil eröffnen
die Bingo-Damen mit einem Tanz in Weiß, der sich wieder von der
bekannten Machart deutlich abhebt. Nun sind auf der
Zylinder-Leinwand Fotos und Videos aus dem Familienzweig Rolf
Knie und Franco Knie sen. zu sehen, vorwiegend von den
Elefantennummern, die jahrzehntelang den Circus Knie prägten.
Auf dem Artisteneingang leuchten die Umrisse eines Elefanten,
doch Franco Knie jun., Ehefrau Linna und Sohn Chris Rui stellen
heuer wesentlich kleinere Tiere vor: farbenprächtige Papageien
und Sonnensittiche von Alessio Fochesato in einer tiergerechten
Dressur. Dabei kommt die Schönheit dieser Tiere voll zur
Geltung. Anastasia Makeeva war mit ihrer großartigen,
hochriskanten Strapaten-Arbeit bald in allen großen Häusern zu
sehen. Wunderbar die Einleitung mit sechs Bingo-Girls. In ihren
langen roten Kleidern bedecken sie zunächst die Artistin. Eine
nach der anderen erhebt sich, bis der Blick frei wird auf
Anastasia Makeeva. Im Tango-Rhythmus schwingt sie sich in die
Luft. Ohnehin steigert sich das Programm immer weiter in einen
wahren Rausch. Für einen der ganz großen Höhepunkte sorgen die
beiden Rumänen Constantin Ciobotaru und Dan-Florin Tazlaunau
alias Duo Ballance mit
ihrer Hand-zu-Hand-Akrobatik. Ohne einmal abzusetzen,
zelebrieren sie über zehn Minuten weg Höchstschwierigkeiten des
Genres und Passagen, die wir so noch nicht gesehen haben. Schon
im ersten Drittel gibt es beispielsweise einen Trick, bei dem
Dan-Florin auf Constantins Kopf steht. Der Untermann setzt sich
hin, dreht eine Pirouette im Sitzen und steht wieder auf, mit
dem weiter stehenden Partner auf dem Kopf. Ivan
Frédéric Knie und Wioris Errani sorgen mit der Doppelpost noch
einmal für Tempo. Jeder auf
zwei pechschwarzen Friesen stehend, reiten sie um die Manege.
Zunächst lassen sie jeweils einen Friesen unter sich kreisen,
dann lässt jeder sechs weiße Vorauspferde unter sich
durchlaufen, bis sie nach und nach alle zwölf Rösser an langen
Bändern führen. Zwei imaginäre Gespanne drehen rasante Runden um
die Manege, dirigiert in deren Mitte von Maycol Errani.
Victor Giaccobo
und Mike Müller, Truppe Sokolov
Ein
Stück weit ist das Jubiläumsprogramm auch „Best of“. Und so
wurde nach vier Jahren noch einmal die 14-köpfige
Schleuderbrett-Truppe Sokolov verpflichtet. Man wird sie als die
beste unserer Zeit bezeichnen dürfen. „Neu“ ist die Nummer in
gewisser Weise doch, denn auf die außergewöhnliche Inszenierung
zu Mozart-Melodien wird verzichtet. Die Truppe hat stattdessen
edle Circus-Livrees in rot, schwarz und gold sowie neue Musik
erhalten. Und nach wie vor beherrscht sie ihre dichte Abfolge
von Spitzenleistungen. Dazu gehören Sprünge auf Menschentürme,
zur Bodenmatte und in den Sessel. Flüge und Landungen auf einer
und auf zwei Stelzen dürfen ebenso wenig fehlen wie ans obere
Ende einer abenteuerlichen Konstruktion aus Russischem Barren,
Stelzen und Perchestange mit Sessel. Im Jubiläumsjahr hat der Circus
Knie besondere Stars der Schweizer Comedy-Szene engagiert – für
die Deutschschweiz Viktor Giaccobo und Mike Müller. Sie waren
von 2006 bis 2016 Gastgeber einer satirischen Late-Night-Show
auf SRF 1 und sorgen nun für ein Wiedersehen mit einigen ihrer –
in der Schweiz – sehr bekannten Comedy-Figuren. Dazu zählt
Hanspeter Burri, der seinem Sprachfehler zum Trotz gerne über
die schwierigsten Themen doziert. Hier legt er die 100-jährige
Geschichte des National-Circus dar. Fredi Hinz, gespielt von
Viktor Giaccobo, ist derweil mehr oder minder engagiert auf
Stellensuche. Die quengelige Frau Grütters (Giaccobo) hätte
gerne, dass ihr Sohn Armin (Müller) sich beim Ponyreiten
erproben darf. Er tut es auf einem veritablen Pferd. Als
Lebemänner Boppeler und Stark schwadronieren die Komiker über
ihr Catering-Unternehmen, das auch Mahlzeiten „Veggie vegan
plus“ anbietet. Die zwei Mini-Schweine in der Manege schlachten
mag keiner von beiden. Ungeheuer witzig schließlich ist ihr
letzter Auftritt, in dem Mike Müller eine großartige Kopie von
Promi-Wahrsager Mike Shiva gibt. Sein Assistent Fredi Hinz soll
Kandidaten im Publikum finden, die Antworten auf ihre
Zukunftsfragen suchen.
Yann Rossi, Davis
Vasallo und Francesco Fratellini
Giaccobo/Müller treten nur in den
Abendvorstellungen auf, an den Nachmittagen erhalten die
traditionellen Clowns mehr Platz. Aus Yann Rossi als wundervoll
stilvollem Weißclown, Davis Vasallo und Francesco Fratellini
wurde ein Clowns-Trio in klassischer Besetzung zusammengestellt.
Abends haben sie nur einen größeren Auftritt als
„Papageienjäger“. Und sie spinnen den Handlungsfaden, der sich
durchs ganze Programm zieht: Francesco und Davis liefern sich in
mehreren kurzen Szenen einen witzigen Wettstreit mit Chanel Knie
um den Besitz der blauen Feder, die ihr im Opening zugefallen
ist. Zum emotionalen Höhepunkt dieser
Vorstellung wird das Finale, in dem Tanja Dankner abermals auf
mitreißende Art den Circus Knie besingt. Fredy Knie jun.
übernimmt – auf einem schwarzen Friesen sitzend – die
Verabschiedung mit einer bewegenden Schlussansprache. Seine zwei
größten Wünsche im Leben seien in Erfüllung gegangen: dass er
selbst Circus machen durfte und dass die nachfolgenden
Generationen es dürfen. Nun sei es an der Zeit für ihn, die
Verantwortung für den Circus abzugeben an die 7. und 8.
Generation. Der Patron der Familie steigt vom Pferd und setzt
Chanel darauf. Und steckt dem Pferd die blaue Feder an, der
seine Enkelin seit ihrem Traum im Opening hinterhergejagt ist.
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