Gleichzeitig versucht man, mit
weniger Plastik und veganen Speisen auf den „Zeitgeist“
zuzugehen. Letztere waren bei unserem Besuch in Ludwigsburg
jedenfalls nicht zu entdecken. Bei allen
nachvollziehbaren Gründen, die bei den engen Innenstadt-Plätzen
für einen Verzicht auf Tiere sprechen, ist klar: Wer diese Entscheidung
trifft, sollte sich damit nicht auf Kosten anderer Unternehmen
profilieren. Doch nicht nur der Name des Unternehmens wurde zum
Saisonbeginn 2018 verändert. Auch das Programm ist neu. Es trägt
den Titel „Storyteller. Gestern - Heute – Morgen“. Es soll eine
Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Circus
schlagen. Um es vorneweg zu sagen: Diese neue Inszenierung
überzeugt deutlich mehr als die Vorgängerproduktion „40 Jahre
Reise zum Regenbogen“.
  
Adèle Fame, Quincy
Azzario, Hologramm-Show
Eröffnet wird die Show durch die
als Weltpremiere angekündigte Hologramm-Technik. Eine filigrane
Leinwand wird dafür ähnlich einem Netzgitterkäfig aus der Piste
gezogen. Leider wirkt die Projektion mit insgesamt elf Beamern
aus unserer Perspektive eher wie ein normaler Film. Zu Beginn
hören die Besucher die Stimme von Bernhard Paul, der aus dem Off
die Entstehungsgeschichte des Circus vor 250 Jahren erzählt.
Dazu galoppieren Pferde scheinbar durch die Luft. Dann kommt ein
handgefertigtes Pferd in die Manege, das von Figuranten getragen
wird. Der Moment, in dem ebenjenes „Tier“ steigt, ist der
Tiefpunkt der Inszenierung. Der Auftritt wirkt eher wie eine
Persiflage denn eine Hommage an den klassischen Circus.
Anschließend schwimmt noch ein Fisch über die Leinwand, ehe ein
Elefant darauf einen Kopfstand zeigt. Dann schwebt der vom
Plakatmotiv bekannte Heißluftballon mit Bernhard Paul als Zippo
ein, und die Besucher werden von Weißclown Gensi als Hologramm
begrüßt. Den zweiten Teil seiner Begrüßung übernimmt er dann
physisch auf dem Gradin. Ganz klassisch marschieren die vier
Ballettdamen und vier Artistinnen im Reiterdress in die Manege.
Dabei werden sie von Clown Paolo Carillon auf dem Dudelsack
begleitet. Im Hintergrund stellt sich Jemile Martinez mit den
Requisiteuren auf. Er begleitet mit toller Gestik als wortloser
Ringmaster durch das Programm. Im Kontrast zu diesem Opening
steht die modern verpackte Strapatenakrobatik von Adèle Fame. Zu
packender Musik zeigt sie zahlreiche Aufschwünge, Abfaller und
lässt sich freihändig in den Spagat gleiten. Ihr expressiver
Verkauf fördert die Wirkung in idealer Weise. Damit setzt die
junge Französin ein erstes artistisches
Ausrufezeichen. Und davon folgen gerade im ersten Programmteil
noch einige. Roncalli setzt dabei auf geballte Frauenpower. Drei
Saisons lang war Quincy Azzario mit ihrer Schwester Katie mit
Roncalli auf Tour. Seit 2015 ist sie mit ihrer eigenen
Solodarbietung unterwegs. Und diese steht inzwischen der
Hand-auf-Hand-Darbietung mit ihrer Schwester in nichts nach. So
wie Adèle Fame an den Strapaten präsentiert auch sie ihre
Handstandequlibristik packend, modern und flott. Zu „Arena“ von
Lindsey Stirling beginnt sie auf dem glatten, sich drehenden
Podest, ehe sie auf dem Piedestal weiterarbeitet. Höhepunkt ist
der Klötzchenabfaller, der äußert selten von Frauen gezeigt
wird. Chapeau!
  
Bello Sister,
Cedenos, Chistirrin
Nicht zu verstecken brauchen sich
auch die drei Bello Sisters, deren Partnerakrobatik sich zwar
durchaus an das Trio Bellissimo anlehnt, aber auch eigene
Akzente setzt. Wenn man bedenkt, dass die Jüngste der Schwestern
erst zwölf Jahre alt ist, sind die Leistungen mehr als
beachtlich. Die einzige artistische Darbietung ohne weibliche
Beteiligung vor der Pause zeigen die Cedenos. In Ludwigsburg
erleben wir nur zwei der vier
Brüder, denen von einer mexikanisch angehauchten Ballettszene
der Weg bereitet wird. Auch so werden alle wesentlichen Tricks
einer guten Ikarier-Nummer, inklusive Doppelsalto, gezeigt.
Zudem erleben wir drei der Brüder gemeinsam mit Clown Chistirrin
nach der Pause mit einem komischen fliegendem Trapez, das sich
klar an Tito Medinas Version dieses Genres orientiert.
Beispielsweise bei der „Krabbel-Passage“.
  
Vivian Paul und
Natalia Rossi, Kong Haitao, Mike Chao
Gemeinsam mit Natalia Rossi hat
Vivian Paul, die ältere Tochter von Bernhard Paul, eine
Luftnummer am Kronleuchter einstudiert. Als „Queens of Baroque“
zeigen die beiden Artistinnen unter anderem den
Genickhangwirbel. Das Ganze ist mit Requisiten und Ballett
stilvoll dem barocken Thema entsprechend inszeniert. Die toll
gespielte, mit einem rockigen Einschlag versehene Musik des
Orchesters unter Georg Pommer macht diese Szene endgültig zu
einem Erlebnis. Eines der Mankos des letzten Programms war das
Fehlen einer wirklich herausragenden artistischen Darbietung.
Diese gibt es nun. Was Kong Haitao bei seiner Stuhlbalance
leistet, ist unglaublich. Nachdem er sieben Stühle unter der
Circuskuppel gestapelt hat, zeigt er verschiedene Handstände auf
einem Stab. Doch der Gewinner des diesjährigen „Cirque de Demain“
in Paris setzt noch einen drauf: Auf einem achten Stuhl stapelt
er Klötzchen, stößt diese auf der einen Seite weg und zeigt
einen einarmigen (!) Klötzchenabfaller. Der Jubel im Publikum
ist logischerweise riesig. Zum Glück arbeitet er ab der Mitte
der Darbietung mit einer Longe. Durch die ganz unterschiedlichen
Stile der Darbietungen bestätigen sich glücklicherweise die
Befürchtungen nicht, dass das Programm mit Kong Haitao, Quincy
Azzario und den Bello Sisters zu „handstandlastig“ wirkt. Zu all
den starken artistischen Darbietungen kommt Mike Chao, dessen
mit viel Fingerfertigkeit erzeugte Illusionen zwar durchaus
poetisch verkauft werden, aber in der von allen Seiten
einsehbaren Manege eine besondere Herausforderung für den
Künstler sind.
  
Robert Wicke und
Kai Eikermann, Anatoli Akermann und Eddy Neumann, Zuschauer mit
Anatoli Akermann
Noch nie zuvor gab es so viele
Komiker in einem Roncalli-Programm. Insgesamt harmonieren die
verschiedenen Charaktere gut. Der erste Auftritt gehört Kai
Eikermann. Der Sinn seiner Reprise mit einer Cola-Dose
erschließt sich zumindest mir nicht so ganz. Lustiger ist seine
Rolle in der Reprise vor der Pause, bei der neben ihm auch Eddy
Neumann, Anatoli Akerman, Paolo Carillon, Chistirrin, Robert
Wicke und das Ballett mitwirken. Als vermeintlicher Besucher
begeistert er mit Breakdance-Einlagen, ehe er sich am Ende als
Kai Eikermann entpuppt. Wie schon erwähnt, sind Anatoli Akerman
und Eddy Neumann wieder einmal mit Roncalli auf Tour. Gemeinsam
zeigen sie eine komische Zauberei, bei der Anatoli als Assistent
dem Zauberer Eddy jeden Trick vermasselt. Damit schließen sie
perfekt an den direkt davor arbeitenden Mike Chao an. Gegen Ende
des Programms überbrücken sie noch den Aufbau für Kong Haitao
mit der „Reparatur“ einer scheinbar lockeren Lampe, in die ein
Zuschauer einbezogen wird.
  
Paolo Carillon,
Fabrini, Chistirrin und Gensi
Nicht ganz optimal direkt nach
dem ersten Auftritt von Akerman und Neumann platziert ist das
kreativ umgesetzte „Das Musizieren ist hier verboten“ von Gensi
und Chistirrin. Nichtsdestotrotz ist dieses klassische Motiv
hier verspielt und liebevoll umgesetzt. Der junge Mexikaner, der
laut Programmheft von Bernhard Paul vom „Rohdiamanten zum
Diamanten“ geschliffen wird, ist ein echter Publikumsliebling.
So kommt Gensi nie dazu, seine eigene Zauberei zu zeigen.
Prolongiert wurde Beatboxer Robert Wicke, der heuer nur einen
eigenen Auftritt als Pausennummer hat. Wie schon im
Vorgängerprogramm hat er damit das Publikum auf seiner Seite und
leitet damit ideal zur schon beschriebenen Pauseneinleitung
über. Eine ähnliche Wirkung wie der Auftritt der Pferdefigur
entfaltet das Erscheinen zweier Elefantenfiguren mit Hamza
Benini und Moustapha Niasse. Diese Hommage an Footit und
Chocolat geht zudem als Umbaupausenüberbrückung nach dem
Flugtrapez etwas unter. Genauso wie Robert Wicke prolongiert
wurde Paolo Carillon, der in seiner wunderbar poetischen Art und
Weise mit einem Zug auf seinem Hut spielt. Damit fügt er sich
hervorragend in die typische Roncalli-Atmosphäre ein. Schon
einmal mit Roncalli auf Tournee waren die Brasilianer Vic &
Fabrini. Sie kombinieren „Mensch oder Puppe“ mit komischer
Zauberei. Einziges Manko aller humoresken Auftritte insgesamt
ist, dass sehr oft Magie persifliert wird und dadurch gewisse
thematische Ähnlichkeiten auftreten. Der Epilog nach dem ganz
klassisch zelebrierten Finale gehört dann Gensi und dem
singenden Chistirrin. |