Von der nächstgrößeren Stadt Cheltenham fährt der Bus eher
sporadisch nach Winchcombe, dem zum Schloss gehörenden Ort. Dort angekommen, ist
man mitten in der beliebten Ferienregion Cotswolds. Kleine Steinhäuser,
wunderschön gepflegte Gärten, Pubs. England aus dem Bilderbuch eben.
Dann geht es vorbei an Wiesen hinaus in die Natur. Und auf einmal
stehen da auf einer Wiese Wagen und Zelte. Alles ist liebevoll gepflegt
und wie aus einer anderen Zeit. Dabei haben Nell Gifford und ihr
damaliger Verlobter Toti den Circus erst 2000 gegründet. Der Circus
Roncalli war die Inspirationsquelle, wie das Programmheft schreibt. Als
Teil des Teams von Pferdetrainerin Yasmine Smart war Nell Gifford dort
engagiert. Jetzt ist sie selbst Direktorin.

Chapiteau und Kassenwagen
Mittelpunkt
des Platzes ist das Chapiteau. Der Zweimaster wurde zu Beginn der
Saison in Betrieb genommen und bietet Platz für rund 600 Zuschauer.
Diese dürfen allesamt auf den Bankreihen sitzen. Unterschiedliche
Kategorien gibt es nicht. Die Tickets dafür sind am kleinen Kassenwagen
direkt davor erhältlich. Er ist wie der gesamte Fuhrpark in einem
dunklen Rot lackiert. Die Schriften und Ornamente darauf sind in Creme
sowie Hellblau gehalten. Ein Teil der Wagen ist wirklich historisch,
der andere wurde im alten Stil nachgebaut, wie Nell Gifford erzählt.
Einer beheimatet eine Pizzabäckerei, an einem anderen werden Souvenirs
verkauft, und ein dritter dient als Barwagen, der allerlei Leckereien
bereithält. Noch mehr kulinarische Genüsse werden in zwei weißen Zelten
angeboten, auch diese historisch gestaltet. Das eine ist permanent
geöffnet. Hier locken Zuckerwatte und weitere Süßigkeiten. Das andere
öffnet nur zur Pause. Dann gibt es dort Tee aus Porzellankannen und
hausgemachten Kuchen. In einem weiteren Zelt wird nach Voranmeldung ein
mehrgängiges Menü serviert, das in einer rollenden Küche frisch
zubereitet wird. An langen Holztischen sitzen die Gäste und speisen
gemeinsam. Die Mannschaftswagen und einige der Wohnwagen komplettieren
die Szenerie. Die Caravans der Artisten wurden quasi in zweiter Reihe
aufgestellt. Überall auf dem Platz sind - zumeist junge - Menschen
unterwegs, um das Publikum zu betreuen. Sie tragen liebevoll
geschneiderte historische Uniformen. So herrscht eine wunderbare
Stimmung auf dem Circusplatz. Eben ganz so, als sei eine fahrende
Künstlertruppe im Ort zu Gast. Letztendlich ist es ja auch so.
Allerdings beinhaltet die bunte Gruppe hochkarätige Artisten, die schon
in vielen renommierten Manegen gearbeitet haben.

Orchester und Nancy Trotter Landry
Kommen
wir also zur Vorstellung. Drei Stück davon gibt es an diese Sonntag.
Alle sind sie seit Wochen ausverkauft. Das Publikum weiß ganz
offensichtlich, was es an diesem Circus hat und sorgt auch in einer
Stadt wie Winchombe mit weniger als 5.000 Einwohnern mehrfach für ein
vollbesetztes Chapiteau. Die diesjährige Produktion nimmt uns mit in
die 1930er Jahre. Melodien von George Gershwin, Cole Porter und anderen
bilden die musikalische Begleitung. Die Kostüme sind allesamt speziell
für „My beautiful Circus“ entworfen und geschneidert worden. Sie passen
ebenfalls in diese Zeit. Das Licht ist stark, aber nicht verspielt. Das
Geschehen in der Manege wird gut in Szene gesetzt. Eben den 1930ern entsprechend. Für die Regie
konnte zum siebten Mal Cal McCrystal gewonnen werden. Er hat ein
ungeheuer dichtes Spektakel inszeniert. Immer passiert irgend etwas.
Oft sind Teile des Ensembles präsent. Viele der Einlagen werden von
verschiedenen Artisten gezeigt. Die Künstler sagen sich gegenseitig an.
Hier ist also wirklich eine Künstlergemeinschaft zu erleben. Zu Beginn
der Show wird ein Campingwagen in den Farben des Circus in die Manege
gerollt. Bewohnt wird er offensichtlich von Alfredo und Pozo. Die
beiden Herren mit den trainierten Körpern waren 2017 mit einer
kubanischen Truppe bei Giffords Circus engagiert. Immer wieder sind sie
im Laufe des Nachmittags präsent. Davor trainiert Tweedy Abschläge mit
Golfball und Golfschläger. Tweedy ist hier seit über zehn Jahren als
Clown engagiert, hat aber auch schon in den USA bei Ringling
gearbeitet. Er ist ein etwas verschrobener, durchaus grober Typ. Aber
mit dem Herz auf dem rechten Fleck und auf seine ganz eigene Weise
sympathisch. Für seine Golfübungen holt er sich einen Jungen aus dem
Publikum. Zur weiteren Unterstützung leiht er sich einen Föhn aus dem
Wohnwagen. Die Begrüßung übernimmt Dany Reyes im edlen, aber recht
farbenfrohen Zwirn. Daraufhin erscheint das Orchester unter der Leitung
von James Keay durch den Artisteneingang mit dem großen Union Jack. Die
vier Herren tragen Frack und Zylinder, die beiden Damen elegante
Abendkleider. Im Zentrum ihres Podiums steht ein großer Flügel, was für
ein reisendes Circusunternehmen ungewöhnlich ist. Ihre musikalische
Begleitung ist vom Feinsten, ein Genuss. Komplettiert wird das Ensemble
durch Nancy Trotter Landry. Im silbernen Glitzerkleid und mit
Federschmuck am Kopf erleben wir sie singend, tanzend und in
verschiedenen anderen Rollen. Dazu später mehr.
  
Nell Gifford, Curatola Brothers, Dany Reyes
Die
erste eigenständige Nummer gehört Frau Direktor. Nell Gifford führt
liebevoll sechs gescheckte pocket ponies, übersetzt also Ponys im
Westentaschenformat, vor. Die kleinen Pferde fegen in verschiedenen
Formationen durch die Manege und springen über eine Hürde. Die Curatola
Brothers kennen wir von Engagements bei verschiedenen Unternehmen. Die
kraftvolle Hand-auf-Hand-Akrobatik wirkt durch die neu gestaltete
Aufmachung natürlich ganz anders als gewohnt. Ihre Tricks überzeugen
aber wie immer. Nachdem Tweedy mit seinem Dudelsack zunächst gesaugt
und dann musiziert hat, gehört das Scheinwerferlicht Angela und Evelin
aus der Dias Family. Eine der beiden liegt auf der Trinka und
balanciert mit den Füßen eine Leiter. Ihre Schwester zeigt am oberen
Ende unter anderem das Drehen einer Walze mit den Füßen im Handstand
sowie einen Einarmer. Nach dieser eher ruhigen Nummer sorgt Jongleur
Dany Reyes wieder für Tempo. In flotter Folge schickt er Keulen und
Bälle auf variantenreiche Touren. Kleine Tanzeinlagen geben seinem
Auftritt einen zusätzlichen Pfiff. Neu ist das Spiel mit drei
Strohhüten. Dieses hat er zu Beginn der Saison neu in sein Repertoire
aufgenommen und will es weiter ausbauen. Dann wird wieder der Camper
hereingebracht. Er bildet die Kulisse für die abgefahrene
Illusions-Show von Tweedy, Nancy Trotter Landry und Company. Das
Hervorzaubern einer Banane und das Zerschießen eines Luftballons mit
einer Armbrust gehört da noch zu den harmloseren Tricks. Herrlich
komisch wird es, wenn Tweedy seine Partnerin mit einer Stichsäge
zerteilen will. Vorab möchte er sie hypnotisieren, versetzt dabei
allerdings das gesamte Ensemble in Trance. Einen lebensgroßen
Plüschbären inklusive.
  
Diana Vediashkina, Pausen-Tee, Truppe Cretu
Nell
Gifford und Dany Reyes kündigen gemeinsam die Pausennummer an. Darin
präsentiert Diana Vediashkina ihre Dackel. Die Dressur dieser
Hunderasse ist sicherlich eine Rarität in der Circuswelt. Es ist auch
zu drollig, wenn die Vierbeiner unter der Anleitung ihrer hübschen
Trainerin Slalom laufen, Hindernisse überspringen oder sich auf eine
Wippe legen. Zur Ankündigung der Pause stehen Nell Gifford und Dany
Reyes wieder auf der kleinen Bühne neben dem Artisteneingang, der
inzwischen von der britischen Nationalflagge befreit wurde. Alfredo und
Pozo machen akrobatische Posen, ein Nummerngirl annonciert auf
Schildern das Angebot für die folgende Viertelstunde. Der Wagen für
Candyfloss ist passenderweise Teil der Kulisse im Chapiteau. Ihm
entsteigt ein zur Zuckerwatte gewordenes Männchen, welches aufgebracht
durch die Manege springt. Nach diesem turbulenten Spaß ist eine
Erfrischung höchst willkommen, zumal die Temperaturen drinnen wie
draußen recht hoch sind. Während die Zuschauer nach und nach wieder auf
dem Gradin Platz nehmen, bieten Alfredo und Ponzo vier Kindern aus dem
Publikum einen besonderen Service. Sie dürfen sich auf kleine
Korbstühle setzen, die wiederum mit Seilen an einer Stange befestigt
sind. Diese ruht auf den Schultern einer der beiden starken Männer.
Durch das Drehen um die eigene Achse kommen die jungen Besucher in den
Genuss einer Karussellfahrt. „Offiziell“ eröffnet wird der zweite Teil
mit der Truppe Cretu. Die Formation besteht derzeit noch aus sechs
Artisten. Hinzu kommen drei Mitglieder des Ensembles. Sie beginnen mit
Handvoltigen. Der Kern ihres Auftritts besteht aber aus Akrobatik am
Schleuderbrett. Immer höher hinaus geht es. Furioser Schlusspunkt ist
der Sprung zum Vier-Personen-Hoch, der mittels Perchestange gehalten
wird. Folkloristische Tanzeinlagen der rumänischen Artisten runden die
energiegeladene Darbietung gekonnt ab.
  
Dany Cesar, Lisandra Austin, Dias Brothers
„Noblesse
obliege“ heißt es, wenn Dany Cesar die Hohe Schule reitet. Wir konnten
ihn vor vielen Jahren gemeinsam mit Yasmine Smart bei Busch-Roland
erleben und später als Tierlehrer bei Fliegenpilz. Hier nun reitet er
souverän und mit großer Leichtigkeit auf „Diamond“. Besonders
publikumswirksam ist der Steiger, bei dem Cesar im Sattel sitzt. Noch
einmal Dany Reyes. Diesmal jongliert er mit Zigarrenkistchen und
erklärt dabei Tweedy leicht überheblich, dass eine solche Leistung nur
mit sehr viel Übung möglich ist. Zu Reyes Verblüffung beherrscht der
Clown das Spiel mit den Kistchen perfekt. Die Rache wird kurz vor dem
Finale folgen. Danach erleben wir eine circensische Sensation nach
Gifford-Art: Nancy Trotter Landry präsentiert ihren „sprechenden
Truthahn“. Während der Vogel über das Sägemehl läuft, wird er durch das
Orchester begleitet. Und tatsächlich gibt der Truthahn auf Kommando
Laute von sich, die man mit etwas gutem Willen als Sprechen oder Singen
bezeichnen kann. Action ist angesagt, wenn Tweedy sich als
Trapezkünstler versucht. Mehrere Artisten sind im Einsatz, um ihn an
das Requisit zu bringen. Auch das ein oder andere Kleidungsstück muss
dran glauben. Wie eine formvollendete Luftnummer aussieht, zeigt uns
darauf Lisandra Austin. Die Kubanerin erfreut uns mit einer schönen Kür
an den Tüchern. Der Auftritt vor dem Finale gehört den Dias Brothers.
Das Duo ist noch recht jung, begeistert aber schon jetzt mit Ikarischen
Spielen. 2014 gewann es beim Festival „New Generation“ in Monte Carlo
Gold. Die Portugiesen haben starke Sprungkombinationen im Gepäck, die
sie mit jugendlichem Charme verkaufen. Sehenswert sind der auf den
Füßen gestartete und gelandete Salto sowie zig Doppelsalti. Vor dem
Finale revanchiert sich Dany Reyes bei Tweedy. Zumindest versucht er
es. Der Clown muss drei Nummern aus der Show aufführen. Beim
Schleuderbrett-Sprung mit der Truppe Cretu bricht das Brett. Bei den
Leiterbalancen bildet Dany Reyes den Untermann. Die größte
Herausforderung aber stellen die Ikarischen Spiele dar. Hier
kapituliert Tweedy und holt sich zwei der Jungs aus dem Publikum, die
ihn schon bei anderen Einlagen unterstützt haben. Die beiden wehren
sich mit Händen und Füßen. Doch dann machen sie auf der Trinka eine
glänzende Figur. Kein Wunder, gehören die beiden doch ebenfalls zur
Familie Dias. Das Finale ist sehr geschickt gestaltet. Fröhlich tanzt
das gesamte Ensemble in wunderbaren Choreographien, kleine Zugaben
kommen hinzu. Das Publikum wird eingeladen, mit den Artisten zu tanzen.
Schnell füllt sich die Manege. Während immer mehr Zuschauer
hinzukommen, verschwinden die Künstler. So feiern die Gäste ausgelassen
das Ende der Show.
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