Umso
gespannter waren wir auf das neue Programm „tourbillon“. Es
feierte nun in Montis Heimatstadt Wohlen im Aargau Premiere,
erstmals im August anstatt schon im März. Tatsächlich waren am
dritten Gastspieltag der Saison keinerlei Abstriche an der
gewohnten Qualität zu erkennen. Wiederum war rund sieben Wochen
lang mit allen Artisten geprobt worden, wurden wieder
hochwertige Fotos fürs edle Programmheft aufgenommen, wurde
eigene Musik und ein tatsächlich noch aufwendigeres Bühnenbild
geschaffen. Die runde Manege wurde erstmals als leicht erhöhte
Bühne ausgestaltet und bietet so noch bessere Sicht. Für
Konzept, Regie und Choreographie wurden die Kanadier Marie-Josée
Gauthier und Sylvain Lafortune verpflichtet.
Charlie Mach, María José Cázares Goody, Julie Dionne
„Tourbillon“
spielt zunächst in einem Wartezimmer mit großem Schreibtisch. In
dieser Szenerie überrascht zunächst Charlie Mach (Frankreich)
mit seiner außergewöhnlichen, an der Circusschule Montréal
entwickelten Stuhlakrobatik. Da zeigt er eine Art Flugrolle über
einen Stuhl. Steht auf einem Stuhl und schlägt einen
Rückwärtssalto, den er dann im Sitzen beendet. Oder schlägt
mitsamt Stuhl einen Salto – und sitzt am Ende wieder darauf. In
diesem rätselhaften Wartezimmer tippt die Empfangsdame (alias
Julie Dionne, Kanada) eifrig auf der Schreibmaschine und lässt
immer wieder Wartende eine imposante Tür passieren. Was sich
dahinter verbirgt, erfahren wir nicht. Doch Oscar, Hauptfigur in
dieser Geschichte, will es genauer wissen. Aus dem Schreibtisch
erscheint eine geheimnisvolle Frau (María José Cázares Goody,
Mexiko). Mit ihrer Mischung aus Kontorsion, Handständen und Tanz
entfacht sie Oscars Neugier immer mehr – und somit gerät er in
einen Wirbelwind („Tourbillon“). Bildlich dargestellt wird
dieser durch bunte Vertikaltücher, die vom Ensemble
herumgewirbelt werden. Wie „Alice im Wunderland“ findet Oscar
sich nun in einer schrägen Parallelwelt wieder. Dabei wird einer
seiner beiden roten Schuhe gestohlen. Wie er diesen
zurückerobert und auch andere Figuren nach ihren richtigen
Schuhen jagen, das ist der rote Faden der Inszenierung. In
dieser trifft Oscar auf eine ganze Reihe außergewöhnlicher
Gestalten. Die erste von ihnen ist die Empfangsdame aus dem
Wartezimmer, die sich in eine Badenixe verwandelt hat. Hoch
unter der Monti-Kuppel „schwimmt“ und „taucht“ sie am
Vertikaltuch. Oscar verliebt sich in sie, doch aus einem Kuss
wird zunächst einmal nichts. Vielmehr entspinnt sich eine wilde
und rasante Verfolgungsjagd, in der das ganze Ensemble den
vertauschten Schuhen hinterherhetzt.
Baptiste Clerc,
Mario Muntwyler,
Emma Stones
Gleich
noch einmal geht es in die Luft. Am weit ausschwingenden Trapez
zeigt Emma Stones (Kanada) Drehsprünge, Pirouetten und Abfaller.
Viele „Aaahs“ und „Oohs“ sowie der bis dahin stärkste Applaus
sind der verdiente Lohn. Der Großteil der Familie Muntwyler
verzichtet dagegen heuer auf direkten Beifall: Vater Johannes
kümmert sich um die Umstrukturierung des Unternehmens, seine
Lebensgefährtin Armelle Fouqueray betreut das Artistenteam, und
der ältere Muntwyler-Sohn Tobias hat den Logistik-Bereich in der
Zeltvermietung übernommen. Und so ist heuer nur Mario Muntwyler
in der Manege zu erleben. Über die Jahre hat der junge Mann sich
zum versierten Jongleur entwickelt und dabei von wechselnden
Partnern profitiert. Heuer jongliert er solo – drei Keulen und
einen Schuh, dann auch vier, fünf und sieben Keulen. Starker
Applaus ist der Lohn. Außergewöhnlich in Szene gesetzt ist die
Mastakrobatik des Schweizers Baptist Clerc. Die Hauptrollen,
neben kraftvoller Artistik natürlich, spielen hier eine
Glühbirne und ein Sessel, welche am Requisit hinauf- und
hinanwandern und in die Darbietung einbezogen werden.
Aaron Marquise und Olivia Weinstein
Zwei
wundervolle Clownsfiguren geben die beiden US-Amerikaner Aaron
Marquise und Olivia Weinstein. Ihre hinreißend komischen Szenen
lassen Kinder vor Begeisterung kreischen und bei Erwachsenen die
Augen leuchten. Am stärksten in Erinnerung bleibt ihre Parodie
auf eine Raubtierdressur mit strenger Dompteuse und einem
Raubtier, das zunächst nicht so recht fauchen mag. Also werden
die Rollen getauscht. Witzig ist vorher auch die Szene, in der
die klein gewachsene Olivia quasi in einen großen Lkw-Reifen
„taucht“, wie ein Klappmesser gefaltet darin steckt oder auf dem
aufrecht stehenden Reifen balanciert.
Jason
Bruegger, Ensemble, Emilie Mathieu
Der
Kanadiers Emilie Mathieu wagt bei seiner Einrad-Artistik hohe
Sprünge sowie die Fahrt über einen Balken. In „tourbillon“
spielt er so etwas wie den Schurken bei der Schuhjagd.
Folgerichtig wird er am Ende aufgehängt wie ein Sack Süßigkeiten
im Kinder-Partyspiel „Pinata“, der lateinamerikanischen Variante
des Topfschlagens. Die übrigen Ensemblemitglieder hauen mit
Schaumstoffstangen auf der menschlichen „Pinata“ herum. Zuvor
darf der junge Schweizer Jason Bruegger noch die dritte
Luftnummer dieses Programms zeigen, eine kraftvolle und
leistungsstarke Arbeit an
den Strapaten. Nachdem der Bösewicht gefangen ist und alle
Schuhe wieder an den richtigen Füßen stecken, setzt ein zweiter
Wirbelwind ein und versetzt alle wieder zurück ins Wartezimmer.
Als Schlussnummer lassen sich Oscar alias Jérémie Robert und
Stuhlakrobat Charlie Mach mit dem Schleuderbrett in die Luft
katapultieren und landen auf einer großen Matte. Nun könnte
Oscar eigentlich die geheimnisvolle Tür durchschreiten. Doch
diese befindet sich plötzlich eine Etage höher! Auch dieses
Hindernis wird schließlich überwunden, und dem ersten Kuss mit
der Empfangsdame steht nichts mehr im Wege. So rasant und
überraschend, wie der „Monti“ seine Unternehmensstruktur
verändert hat, so rasant und überraschend ist auch dieses
Programm. Noch dazu sprüht es vor Witz und kreativen Einfällen.
Und all dies wird vom sechsköpfigen Orchester unter der Leitung
von Piotr Gunia und mit den schwungvollen Originalkompositionen
von Lukas Stäger noch unterstrichen. |