CHPITEAU.DE

Circus Starlight - Tour 2014
www.circus-starlight.ch ; 60 Showfotos

Genf, 18. April 2014: Meeresrauschen und der Klang eines Nebelhorns füllen das Zelt des Schweizer Cirque Starlight. Im Hintergrund der rechteckigen Bühne ist ein großer Schiffsbug zu sehen; der Kapitän leuchtet mit einer Laterne in die Dunkelheit hinein. Langsam treffen die Passagiere mit ihren Gepäckstücken ein – bereit zur Abfahrt mit der „Octavius“. Der Legende nach war dieses Passagierschiff 13 Jahre lang in der Arktis verschollen, ehe es 1775 von der Besatzung eines Walfängers vor Grönland entdeckt wurde. Die schaurige Geschichte diente 200 Jahre später auch als Romanvorlage.

Nun haben sich Jocelyne und Heinrich Gasser mit ihrem „Cirque Starlight“ der Legende der Octavius angenommen, die nach ihrem Verschwinden angeblich Nacht für Nacht von Hafen zu Hafen fuhr, ohne dass sie jemals jemand sah. Mit der Umsetzung in ein Bühnenstück im Stile des Cirque Nouveau franko-kanadischer Prägung wurde der aus Buenos Aires stammende Regisseur Emiliano Sanchez Alessi beauftragt. Alessi lebt inzwischen seit 13 Jahren in Europa. Er hat sich in bildender Kunst, klassischer Musik, Fotografie, Tae-Kwan-Do, Tanz und Choreographie, aber auch an diversen Circusschulen in Akrobatik, Kreation und Regie ausbilden lassen. Seine eigene Kompanie „ES“ ist mit verschiedenen Shows auf Tournee, und in vielen Projekten rund um zeitgenössischen Circus und ebensolchen Tanz führte er Regie. Beim Cirque Starlight stand ihm, neben Direktionssohn Christopher Gasser als Co-Regisseur, ein ganzes Kreativteam zur Seite. Dazu gehörten die Kostümbildnerinnen Ava O. und Lucille Kern, Komponist und Musikproduzent Thierry Epiney, Lichtdesigner Pierre-Nicolas Moulin sowie Bühnenbildner Frédéric Baudouin. Während einer achtwöchigen Probenphase entstand die Show, die jetzt vier Monate lang auf Tournee ist: Schon dieses zeitliche Verhältnis macht deutlich, welch hoher Aufwand hinter der Produktion steckt. Es zeigt aber auch, dass das Konzept nicht in allen Landesteilen der Schweiz Anklang findet. Während man in der französischsprachigen und auch französisch geprägten Westschweiz und im Tessin, wo Italienisch gesprochen wird, seit Jahren sehr erfolgreich ist, stehen in der Deutschschweiz nur Brig und Ulrichen sowie das an der Sprachraumgrenze gelegene Fribourg auf dem Tourneeplan.


Matthew Brouillard, Loϊc Amaury del Egido Champod, Laurence Tremblay-Vu

Es ist ein überaus buntes Völkchen, das hier an Bord des Schiffes geht. Zu den ersten Passagieren gehört Loϊc Amaury del Egido Champod, der ausdauernd und sicher bis zu drei Diabolos in der Luft hält. Dass bei Starlight Circus deutlich gegen den Strich gebürstet wird, äußert sich schon darin, dass drei ähnliche Disziplinen der Luftakrobatik im Programm vertreten sich – Vertikalseil, Tuch und Strapaten –, die auch noch jeweils von Männern ausgeübt werden. Matthew Brouillard zeigt vor der Pause über dem „Wellengang“ aus wehender Plastikfolie kraftvolle Strapatenakrobatik und kehrt später mit Tuchakrobatik zurück. Der kräftige, maskuline Typ wagt hier eine Trickfolge, wie sie sonst weiblichen Artisten vorbehalten ist. Die Ankerkette der Octavius wird zum Vertikalseil, an dem Laurence Tremblay-Vu schnelle, dynamische Positionswechsel und Abfaller einstudiert hat und seine hohe Beweglichkeit demonstriert.


Jonah Katz, Laurence Tremblay-Vu, Laurie Roger, Faeble Kievmann

Auf dem Drahtseil dreht er im zweiten Programmteil unter anderem Pirouetten oder lässt sich in den Spagat gleiten. Jonah Katz kombiniert Bouncing-Jonglagen mit bis zu fünf Bällen und Stepptanz, so dass die Tanzschritte und das Aufprallen der Bälle einen gemeinsamen Rhythmus ergeben. Ein „Kräftemessen“ zwischen dem Kapitän (Faeble Kievman) und zwei Passagieren (wiederum Jongleur Jonah Katz, Laurie Roger) entwickelt sich in einer etwas zu lang gezogenen Spielszene zu einer Wurf- und Partnerakrobatik-Darbietung. Diese bezieht ihren Humor und Witz auch aus der körperlichen Ungleichheit des stämmigen Kapitäns und der beiden zierlichen Passagiere, die sich eben nicht in der Rollenverteilung widerspiegelt – hier darf jeder mal den Obermann geben.


Isabel Lopez Saiz und Luis Gonzales Gomez, Faeble Kievmann

Dank Faeble Kievmanns Jonglage mit großen Tonvasen, die er mit dem Nacken fängt oder auf dem Kopf balanciert, ist auch ein äußerst selten zu sehende artistisches Genre im Programm vertreten. Ein großer Spaß ist das äußerst temperamentvolle Tellerdrehen, das von Isabel Lopez Saiz und Luis Gonzales Gomez präsentiert wird. Eine der Stangen, auf der die weißen Teller kreiseln, ist hier auf der obersten Stufe der neuen, u-förmigen Klappsitztribüne untergebracht, so dass Luis Gonzales Gomez immer wieder treppauf- und treppab hasten muss, um dem Geschirr neuen Schwung zu verleihen und Abstürze zu vermeiden. Dazu gibt es nach vielen eher sperrigen Tönen in dieser Show ganz eingängige Musik, die wirklich ins Ohr geht. Im ersten Programmteil wussten beide bereits mit ihrem heiteren Glockenspiel zu überzeugen, bei dem unter anderen „Raindrops are falling on my head“ unterm Regenschirm gespielt wird.


Million Haylemariam, Angesom Haftu Weldegiorgs, Mulualem Demewez Mengesha, Yibralem Fitsum Assefa

Immer passiert während der artistischen Darbietungen auch etwas im Hintergrund: Mal feuern zwei Beobachter aus den Schiffsbullaugen begeistert an, mal beobachten vier Afrikaner unter Regenschirmen schweigend das Spektaktel und reichen Jonglierbälle an, mal legt oben am Schiffsdeck der DJ an den Turntables auf, mal macht einer der Akteure Musik auf einer Trommel aus Rohren. Interessanterweise sind heuer in gleich drei Schweizer Circussen äthiopische Artisten zu sehen, womit nach der Kuba-Welle vielleicht schon ein neuer Trend begründet ist. Die Artistin Yibralem Fitsum Assefa und ihre männlichen Kollegen Million Haylemariam, Angesom Haftu Weldegiorgs und Mulualem Demewez Mengesha zeigen, neben Passingjonglagen mit Keulen als Zweitnummer, vor dem Finale begeisternde ikarische Spiele. Die zwei Untermänner sowie Fliegerin und Flieger präsentieren mit zwei Trinkas eine ganze Reihe von Tricks, bei der Positionen vertauscht werden. Dazu gehören eine Passage ebenso wie ein „Drei-Mann-Hoch“, aus dem der mittlere Artist herausspringt und auf der benachbarten Trika gefangen wird.

Die Reise auf der „Octavius“ ist wieder halb moderner Circus, halb kreativ umgesetztes Theaterstück. Die Familie Gasser hat damit ihren Weg und ihre konzeptionelle, aber auch geografische Nische am Schweizer Circusmarkt gefunden, sich ein treues Stammpublikum erspielt – und leistet ihren ganz eigenen Beitrag zur großen Vielfalt heutiger Circuskunst.

__________________________________________________________________________
Text: Markus Moll; Fotos: Tobias Erber