Nun haben
sich Jocelyne und Heinrich Gasser mit ihrem „Cirque Starlight“
der Legende der Octavius angenommen, die nach ihrem Verschwinden
angeblich Nacht für Nacht von Hafen zu Hafen fuhr, ohne dass sie
jemals jemand sah. Mit der Umsetzung in ein Bühnenstück im Stile
des Cirque Nouveau franko-kanadischer Prägung wurde der
aus Buenos Aires stammende Regisseur Emiliano Sanchez Alessi
beauftragt. Alessi lebt
inzwischen seit 13 Jahren in Europa. Er hat sich in bildender
Kunst, klassischer Musik, Fotografie, Tae-Kwan-Do, Tanz und
Choreographie, aber auch an diversen Circusschulen in Akrobatik,
Kreation und Regie ausbilden lassen. Seine eigene Kompanie „ES“
ist mit verschiedenen Shows auf Tournee, und in vielen Projekten
rund um zeitgenössischen Circus und ebensolchen Tanz führte er
Regie. Beim Cirque Starlight stand ihm, neben Direktionssohn
Christopher Gasser als Co-Regisseur, ein ganzes Kreativteam zur
Seite. Dazu gehörten die Kostümbildnerinnen Ava O. und Lucille
Kern, Komponist und Musikproduzent Thierry Epiney, Lichtdesigner
Pierre-Nicolas Moulin sowie Bühnenbildner Frédéric Baudouin.
Während einer achtwöchigen Probenphase entstand die Show, die
jetzt vier Monate lang auf Tournee ist: Schon dieses zeitliche
Verhältnis macht deutlich, welch hoher Aufwand hinter der
Produktion steckt. Es zeigt aber auch, dass das Konzept nicht in
allen Landesteilen der Schweiz Anklang findet. Während man in
der französischsprachigen und auch französisch geprägten
Westschweiz und im Tessin, wo Italienisch gesprochen wird, seit
Jahren sehr erfolgreich ist, stehen in der Deutschschweiz nur
Brig und Ulrichen sowie das an der Sprachraumgrenze gelegene
Fribourg auf dem Tourneeplan.
Matthew Brouillard, Loϊc Amaury del Egido Champod,
Laurence Tremblay-Vu
Es ist ein
überaus buntes Völkchen, das hier an Bord des Schiffes geht. Zu
den ersten Passagieren gehört Loϊc Amaury del Egido Champod, der
ausdauernd und sicher bis zu drei Diabolos in der Luft hält.
Dass bei Starlight Circus deutlich gegen den Strich gebürstet wird,
äußert
sich schon darin, dass drei ähnliche Disziplinen der
Luftakrobatik im Programm vertreten sich – Vertikalseil, Tuch
und Strapaten –, die auch noch jeweils von Männern ausgeübt
werden. Matthew Brouillard zeigt vor der Pause über dem
„Wellengang“ aus wehender Plastikfolie kraftvolle
Strapatenakrobatik und kehrt später mit Tuchakrobatik zurück.
Der kräftige, maskuline Typ wagt hier eine Trickfolge, wie sie
sonst weiblichen Artisten vorbehalten ist. Die Ankerkette der Octavius wird zum Vertikalseil, an dem Laurence Tremblay-Vu
schnelle, dynamische Positionswechsel und Abfaller einstudiert
hat und
seine hohe Beweglichkeit demonstriert.
Jonah Katz, Laurence Tremblay-Vu,
Laurie Roger, Faeble Kievmann
Auf dem Drahtseil dreht
er im zweiten Programmteil unter anderem Pirouetten oder lässt
sich in den Spagat gleiten. Jonah Katz kombiniert Bouncing-Jonglagen mit bis zu fünf Bällen und Stepptanz, so dass
die Tanzschritte und das Aufprallen der Bälle einen gemeinsamen
Rhythmus ergeben. Ein
„Kräftemessen“ zwischen dem Kapitän (Faeble Kievman) und zwei
Passagieren (wiederum Jongleur Jonah Katz, Laurie Roger)
entwickelt sich in einer etwas zu lang gezogenen Spielszene zu
einer Wurf- und Partnerakrobatik-Darbietung. Diese bezieht ihren
Humor und Witz auch aus der körperlichen Ungleichheit des stämmigen
Kapitäns und der beiden zierlichen Passagiere, die sich eben
nicht in der Rollenverteilung widerspiegelt – hier darf jeder
mal den Obermann geben.
Isabel Lopez Saiz und Luis
Gonzales Gomez, Faeble Kievmann
Dank Faeble
Kievmanns Jonglage mit großen Tonvasen, die er mit dem Nacken
fängt oder auf dem Kopf balanciert, ist auch ein äußerst selten
zu sehende artistisches Genre im Programm vertreten.
Ein großer Spaß ist das äußerst temperamentvolle Tellerdrehen,
das von Isabel Lopez Saiz und Luis Gonzales Gomez präsentiert
wird. Eine der Stangen, auf der die weißen Teller kreiseln, ist
hier auf der obersten Stufe der neuen, u-förmigen
Klappsitztribüne untergebracht, so dass Luis Gonzales Gomez
immer wieder treppauf- und treppab hasten muss, um dem Geschirr
neuen Schwung zu verleihen und Abstürze zu vermeiden. Dazu gibt
es nach vielen eher sperrigen Tönen in dieser Show ganz
eingängige Musik, die wirklich ins Ohr geht. Im ersten
Programmteil wussten beide bereits mit ihrem heiteren
Glockenspiel zu überzeugen, bei dem unter anderen „Raindrops are
falling on my head“ unterm Regenschirm gespielt wird.
Million Haylemariam, Angesom
Haftu Weldegiorgs, Mulualem Demewez Mengesha, Yibralem Fitsum
Assefa
Immer
passiert während der artistischen Darbietungen auch etwas im
Hintergrund: Mal feuern zwei Beobachter aus den Schiffsbullaugen
begeistert an, mal beobachten vier Afrikaner unter Regenschirmen
schweigend das Spektaktel und reichen Jonglierbälle an, mal legt
oben am Schiffsdeck der DJ an den Turntables auf, mal macht
einer der Akteure Musik auf einer Trommel aus Rohren.
Interessanterweise sind heuer in gleich drei Schweizer Circussen
äthiopische Artisten zu sehen, womit nach der Kuba-Welle
vielleicht schon ein neuer Trend begründet ist. Die Artistin
Yibralem Fitsum Assefa und ihre männlichen Kollegen Million
Haylemariam, Angesom Haftu Weldegiorgs und Mulualem Demewez
Mengesha zeigen, neben Passingjonglagen mit Keulen als
Zweitnummer, vor dem Finale begeisternde ikarische Spiele. Die
zwei Untermänner sowie Fliegerin und Flieger präsentieren mit
zwei Trinkas eine ganze Reihe von Tricks, bei der Positionen
vertauscht werden. Dazu gehören eine Passage ebenso wie ein
„Drei-Mann-Hoch“, aus dem der mittlere Artist herausspringt und
auf der benachbarten Trika gefangen wird. |