Zumindest für
zweieinhalb Stunden. Dem Direktionsteam des Circus Herman Renz gelingt
dies im 102. Jahr seit Gründung ganz fabelhaft. Schon das Betreten des
Spielzelts ist ein kleines Erlebnis. Der Besucher läuft durch ein
Spalier von Requisiteuren und wird nach Vorzeigen der Eintrittskarte zu
seinem Platz geleitet. Kronleuchter sorgen für eine schöne Atmosphäre
schon bevor die Vorstellung startet. Das Orchester begrüßt musikalisch
und wird gleich die gesamte Show hindurch wunderbar begleiten. Den
sieben Musikern um Kapellmeister Robert Rzeznik sei einmal mehr ein
großes Lob ausgesprochen. Ebenso Lichtdesigner Gilbert Weiser, der der
bestens ausgestatteten Lichtanlage bunte Meisterwerke entlockt hat. Die
Regie von „Viva Niño“ hat Marc Boon übernommen.
Milko, Opening, Germaine
Delbosq
Beim Opening,
einer weitgehend eigenständigen Interpretation des
Larible-Roncalli-Auftakts, entdeckt Milko einen beleuchteten
Schminkspiegel. Mittels eines Leierkastens lockt er den
Sprechstallmeister herbei. Und den gibt es in diesem Jahr wieder
standesgemäß im roten Frack und mit schwarzem Zylinder. Verkörpert wird
er von Frenky, der schlechte Nachrichten hat, denn der Clown ist nicht
aufzutreiben. Nachdem die Suche im Publikum erfolglos endet, springt
Milko ein. Nach und nach kommen immer mehr Artisten herein, bringen
Requisiten und helfen beim Schminken. Es entsteht ein buntes Opening,
bei dem sich alle Mitwirkenden schon einmal vorstellen. Nachdem diese
durch den Vorhang des prunkvollen Artisteneingangs verschwunden sind,
gehört die Szene Michel Jarz und seiner Vorführung von sechs
Andalusiern. Es ist eine sehr ansprechende Freiheitsdressur, die
bereits mit dem Flechten von jeweils drei Tieren beginnt. Als da capi
zur umfangreichen Laufarbeit werden nicht nur Steiger sondern zudem die
Kapriole gezeigt. Im Anschluss an Frenkys Spiel mit einem Lichtpunkt
fegt eine flotte Motorradfahrerin auf ihrer Maschine herein. Begleitet
wird sie von einem vierköpfigen weiblichen Ballett in schwarzen
Lederjacken. Die Lady auf dem heißen Ofen ist Germaine Delbosq. Im
Folgenden nutzt sie das Motorrad als Trinka für ihre Antipodenspiele
mit Walze, Bällen und einem Würfel. Den effektvollen Schlusspunkt setzt
sie mit einem Feuerkreuz.
Francisco Arano Aleman, Frenky, Indian Spirit
Nun
wechselt das Outfit der Akteure von schwarz zu weiß. Zaida tanzt dabei
ausgelassen-fröhlich mit ihrem Partner Francisco Arano Aleman. Der
Kubaner versprüht zusammen mit Zaida nicht nur viel lateinamerikanische
Lebensfreude, sondern beweist sich zudem als eleganter und kraftvoller
Artist am Masten. Seine starken Tricks präsentiert er immer mit einem
Lächeln, wenn nicht gar einem Lachen. Das Ballett trägt kurz darauf
Torero-Kostüme und nimmt es mittels Tüchern mit imaginären Stieren auf.
Diese stürmen gleich darauf die Manege, zumindest fast. Vielmehr sind
es drei temperamentvolle Kühe, deren Aufsicht Milko und Frenky
übernehmen. Sie haben sich ebenfalls als Toreros gewandet. Ziegen,
Schweine und Gänse komplettieren diesen spanischen Bauernhof. Während
die Requisiten abgebaut werden, starten das Trio Indian Spirit seine
argentinische Folkloreshow im Zuschauereingang. Das ist nur einer von
vielen sinnvollen Kniffen der Regie, die dem Programm zu einem
fließenden Ablauf verhelfen. In der Manege setzen Gabriel, Germaine
Delbosq und eine Partnerin ihr Trommeln fort. Es folgen variantenreiche
Bolaspiele. Dies sogar mit brennenden Schnüren. Das Feuer
Argentiniens wird somit gleich im doppelten Sinne in die
Niederlande transportiert. Bei seinem Solo kämpft sich Milko
im Torero-Kostüm mit einer erstaunlich selbständigen Gitarre
ab. Das Publikum darf sich ebenfalls hörbar beteiligen, die
Musik greift die spanische Grundstimmung auf. Interessante
Geräusche kann man auch mit einem Klebeband machen. Die können
musikalisch sein oder aber so klingen, als seien sie mit dem
Verdauungsapparat erzeugt. Milko führt uns (leider) beide
Varianten vor.
Duo Stauberti, Pause, Elizabeth Axt
Das
Duo Stauberti wurde noch kurzfristig zu Saisonbeginn ins Programm
genommen und hat es gleich zur Pausennummer gebracht. Dimitri und
Enrica zeigen eine wirklich ausgefallene Perche-Artistik. Dimitri
balanciert die Stirnperche auf einem Einrad fahrend, während seine
Schwester oben einen Einarmer zeigt. Bein einem anderen Trick steht er
auf einer freistehenden Leiter, während er die Stange mit seiner
Schwester am anderen Ende balanciert. Zur Pause wird ein Zuschauer auf
eine Schaukel gesetzt, vom Ballett mit Popcorn beschenkt und dann unter
die Kuppel gezogen. Dank eines ausgerollten Transparents kann jeder im Chapiteau lesen, was nun folgt. Im geräumigen Vorzelt locken nicht nur
Speisen und Souvenirs zum Konsum, sondern ebenfalls ein großes
Karussell. Wurde der erste Teil quasi mit einer Luftnummer beendet,
beginnt der zweite ebenfalls mit einer solchen. Jetzt allerdings
höchst professionell, denn die Akteurin heißt Elizabeth Axt. Am
Washington-Trapez lässt sie sich auf und ab ziehen. Dabei zeigt sie
variantenreich Kopf- und Handstände, bei denen sie teilweise zusätzlich
Reifen kreisen lässt. Zum Abschluss schwingt sie weit im
Kopfstand. Das alles wohlgemerkt ungesichert. In ihrem nächsten
Auftritt versuchen sich Milko und Frenky als weiße „Engel der Liebe“.
Milko mit Harfe, Frenky mit Pfeil und Bogen. Für zwei Herren aus
dem Publikum schießen sie Amors Pfeile auf hübsche junge Damen. Im
ersten Fall gelingt dies, im zweiten weniger.
Yasmine Smart, Francois
Borie, Milko und Frenky
Das nach
den Bolaspielen zweite südamerikanische Schaubild vereint Tango mit
Hoher Schule. Gabriel und Germaine Delbosq heißen unter anderem die
Tänzer, Michel Jarz und Yasmine Smart die Reiter. Es ist eine besondere
Freude, die englische Circusprinzessin wieder einmal auf dem
europäischen Festland erleben zu dürfen. Wenngleich sie in diesem
Tableau nicht besonders herausgestellt wird, ist sie es doch, die die
Blicke auf sich zieht. Sie vereint nach wie vor ganz exzellent
Sachverstand im Umgang mit Tieren und Showmanship. Insgesamt wird so
das vielleicht schönste Bild dieser Produktion geschaffen. Nach einer
Einlage von Frenky, bei der er einem Mädchen zum Auftritt als Jongleuse
verhilft, entert ein wahrer Profi dieses Genres die Manege. Francois
Borie beschränkt sich bei seinem Auftritt auf ein Requisit, nämlich
Keulen. Das kann er auch guten Gewissens machen, denn damit zeigt er
solch vielfältige Touren wie andere mit verschiedenen Gegenständen
nicht. Der junge Franzose verkauft sich zudem gut, wenngleich
vergleichsweise zurückhaltend. Borie ist halt einfach sympathisch. Und
seine Jonglagen sind großartig. Ganz gleich ob er sieben Keulen
jongliert oder in rasantem Tempo drei. Natürlich bringen Milko und Frenky wieder ein großes Entree. Erst zersticht Frenky den
Ballettmädchen ihre Luftballons, dann werden beide als Sprayer
auffällig. Das ruft eine Polizistin auf den Plan, die verlangt, dass die
Hauswand unverzüglich gereinigt wird. Als das auch mit Unmengen von
Wasser nicht gelingt, gehen die beiden dazu über, die Schmierereien
einfach zu überkleben. Will heißen, es wird tapeziert. Die riesengroße
Sauerei, die Milko und Frenky produzieren, ist somit programmiert.
Enrica Stauberti
Ein weiteres Mal sehen wir Enrica Stauberti. Nun fliegt sie an ihren
Haaren aufgehängt durch die Luft. Zunächst wechselt sie sehr effektvoll
die Kostüme, um schließlich als Schmetterling zu schweben. Dann
jongliert sie mit Reifen sowie beleuchteten Stäben und lässt Bänder
kreisen. Durchgestylt ist die Handstandakrobatik des Trio Liazeed. Omar
Liazeed, Tochter Zaida und ihr Partner Francisco bieten eine
abgerundete Vorstellung. Spezialität ist der Handstand mit mehreren
Personen, der von einem Artisten getragen wird. So ist es zum Abschluss
Francesco, der im Handstand seine beiden Partner trägt, die jeweils den
Körper eines anderen umschlingen. Soweit die Programmfolge, in der in
diesem Jahr Wildtiere fehlen. Pressesprecher Mathijs te Kiefte
begründet dies damit, dass die Stadt Amsterdam Auftritte mit Wildtieren
verbiete, ohne bislang eine Begründung geliefert zu haben. Da diese
Stadt für das Unternehmen von besonderer Bedeutung sei, habe man auf
der gesamten Tournee auf eine derartige Nummer verzichtet.
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