Der Cirque
Pinder bietet – vom fehlenden Orchester abgesehen – exakt das,
was Circusfreunde heute in der Regel unter „klassischem
Großcircus“ verstehen, was sie andernorts vielfach vermissen:
ein reines, aber umso stärkeres Nummernprogramm. Mit Pferden,
Elefanten, Raubtieren und Exoten, Musikal-Clownerie, Flugtrapez
und einer weiteren Truppe, zusammengehalten vom
Sprechstallmeister bzw. – in Frankreich – Mr. Loyal. Ein wahr
gewordener Circusfreundetraum also? Nicht ganz. Dazu hapert es
leider an der Gesamtpräsentation des Programms.
Wir
erlebten das Unternehmen in Metz, zum Beginn eines neuen
Tourneeabschnitts, der während der Sommermonate mit vielen
Eintagesgastspielen in zahlreiche Badestädte an der Küste führen
wird. Hierfür wird ein etwas kleineres und niedrigeres Chapiteau
als im bisherigen Tourneeverlauf eingesetzt. Von außen
beeindruckt Pinder mit einem großen, modernen Wagenpark in den
Hausfarben rot-gelb und vielen bunten Circus-Motiven - schon
das zeigt, dass das Unternehmen vor allem auf
Familienunterhaltung setzt. Recht schmucklos zeigt sich der
Circus allerdings im Inneren des Chapiteaus – die Tribüne mit
Holzbänken und die Logen sind einfach gehalten, ebenso der
samtrote Vorhang des Artisteneingangs, der aber immerhin ein
ruhiges Bild abgibt. Das Todesrad liegt ohne Not während der
kompletten Vorstellung gut sichtbar rechts neben dem
Artisteneingang parat, links ist der Schlagzeuger platziert.
Ansonsten kommt die Musik vom Band – im Verlauf der Vorstellung
in stark differierender Qualität und Lautstärke. Die
Schwankungsbreite reicht von guter, angemessen lauter Begleitung
(etwa beim Jongleur) bis zu einer kaum hörbaren Einspielung
bekannter Circusmusik in minderer Qualität beim Flugtrapez. Es
sollte für ein Unternehmen dieser Größenordnung eigentlich ein
leichtes sein, wenn schon kein Orchester spielt, zumindest für
durchgängig gute Konservenmusik zu sorgen. Schade. Die
Lichtanlage ist für die Sommertournee reduziert, auch
Juniorchefin Sophie Edelstein tritt mit ihren Großillusionen im
Juli und August nicht auf.
Frédéric Edelstein, Sacha
Houcke, Gaby Dew
So wenig die
Gesamtpräsentation überzeugen kann, so sehr tun es die einzelnen
Darbietungen. Ein Höhepunkt gleich zur Eröffnung ist die
Raubtierdressur mit 16 (!) Tieren des Juniorchefs Frederic
Edelstein. Die neun Löwinnen und drei Löwen betreten zunächst
alleine den Zentralkäfig – beschnüffeln sich, rangeln ein wenig.
Eine Manege voller großer Katzen – was für ein imposantes Bild!
Edelstein kommt hinzu, greift ordnend ein und dirigiert die
Tiere zu ihren Postamenten. Die vier Tiger gesellen sich dazu.
Aber nicht nur Masse bietet diese Dressurschau, sondern auch
Klasse. Pyramide, Sprünge, achtfache Hochsitzer, Vorwärts- und
Rückwärtssteiger gehören zum Repertoire. Besonders
beeindruckend: der Fächer mit acht Löwen und Edelsteins
beherzter Sprung auf den Teppich abliegender Löwen. Überhaupt
wissen alle Tierdarbietungen in diesem Programm in besonderer
Weise zu überzeugen. Sacha Houcke präsentiert zunächst die
beiden Elefantendamen des Unternehmens in einer trick- und
temporeichen Dressurfolge und nach der Pause kein bloßes „Tableau“
exotischer Tiere (Fjordpferde, Lamas, Esel, Kamele, Zebra),
sondern eine ausgefeilte Dressurleistung mit anspruchsvollen
Tricks – zum Beispiel einem Karussell, bei dem auf der äußeren
Bahn die vier Lamas die abliegenden Kamele überspringen, während
innen die Fjordpferde ihre Runden drehen. Ein Augenschmaus ist
auch Gaby Dews Achterzug brauner und weißer Pferde mit
anspruchsvollem Repertoire.
Akaena, Los Mendes, Frères Martis
Es gibt
sie noch, die waschechten Circusnummern - das beweist zum
Beispiel die fünfköpfige kubanische Truppe „Los Mendes“. Während
es manchmal scheint, als könne man am Russischen Barren nur in
kunstvoll-schwermütiger Manier arbeiten, setzt die Truppe, deren
Repertoire bis zum Dreifachen reicht, voll auf südamerikanische
Fröhlichkeit und Temperament. Das gilt auch für ihre
Seilspring-Darbietung, mit der sie im zweiten Teil wiederkehrt.
Effektvoll und beeindruckend der Schlusstrick: Einer der Herren
trägt die Partnerin auf den Schultern sowie zusätzlich zwei
Zuschauerinnen auf den Hüften und springt dann Seil. Ein
waschechter Circusklassiker ist auch die Flugtrapez-Darbietung
der Flying Costa. Ein Herr und eine Dame aus der von Barum
bekannten Besetzung sowie zwei neue Artisten bilden nun diese
Truppe, die aufgrund der Personalwechsel vielleicht noch nicht
ganz ihr früheres Leistungsniveau wieder erreicht hat. Dennoch
bieten die Costas eine attraktive Pausennummer, natürlich
inklusive „Dreifachem“. Eine ungewöhnliche kraftvolle
Luftring-Arbeit, zudem verkauft mit viel erotischer
Ausstrahlung, präsentiert Akaena. Eher unterhalb des
Genre-Standards bleiben dagegen die Brüder Martis mit ihrer
Hand-auf-Hand-Darbietung inklusive recht hektisch ausgeführtem
Stuhltrick.
Ray Navas,
Francois Bori, Romina
Die
einzige artistische Darbietung im Programm, die eher
künstlerischen Varieté-Charakter hat, ist Rominas Kombination
von Hula Hoop und kontorsionistischen Elementen – die
verführerische Frau mit endlos langen Haaren macht daraus eine
echte Augenweide. Eine der schönsten und stärksten Hula
Hoop-Darbietungen überhaupt, wenngleich die Nummer 2008 bei
Barelli, mit schwungvoller Livemusik anstelle der eher
schwermütigen Bandeinspielung, stärkere Publikumsreaktionen
erzielte. Ebenfalls von Barelli bekannt ist ihr Lebensgefährte
Francois Bori mit seiner starken Jonglage mit bis zu sieben
Keulen. Den umjubelten Schlusspunkt setzen dann die Brüder Navas
auf dem Todesrad – Blindlauf, Seilspringen und sehr hohe Sprünge
gehören zum Repertoire, während der Frühjahrstournee im höheren
Zelt wurden auch Salti auf der Außenseite des Rades gezeigt.
Damit haben – neben Crazy Wilson und den Flic Flac-Hasardeuren –
mittlerweile mindestens drei Todesradnummern diesen Spitzentrick
im Repertoire. Was die Navas zusätzlich auszeichnet, sind das
südamerikanische Feuer in Musikbegleitung und Verkauf.
Wortreich, sympathisch und stilvoll moderiert wird das
Circusprogramm von Frédéric Colnot. Die Musikalclownerie der
vierköpfigen Truppe Hariazov (plus zwei Reprisen) bietet Klamauk
der schrillsten Sorte und kommt ohne echte Gags aus. Im kurzen
Finale präsentiert Frédéric Edelstein noch vier Tigerbabys in
einem Korb. |