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Circus Starlight - Tour 2007
www.circus-starlight.ch

Neuchatel, 7. April 2007: Ein besetztes Haus nennt sich in der Szenesprache „Squat“, und „Squat“ ist auch das Motto des Programms 2007 im Schweizer Circus Starlight. Das Bühnenbild soll eine alte, ungenutzte Lagehalle zeigen, die von einer Truppe aus Gauklern, Musikern und anderen Individuen erobert wird, allesamt auf der Suche nach Spaß, Freundschaft, Glück und Abenteuer. Um ehrlich zu sein: Ohne die Erläuterung im edel gestalten Programmheft hätten wir nicht verstanden, von was das Programm handelt.

Dass die Macher moderner Shows ihrem Publikum mit solchen Interpretationshilfen auf die Sprünge helfen müssen, ist freilich aber kein unbekanntes Phänomen. Gelungen ist die 7. Regiearbeit des Kanadiers Yves Dagenais für den Schweizer Circus aber allemal: „Squat“ vereint hochklassige Artistik und Comedy in einer stimmigen Inszenierung mit fließenden Übergängen und eigens einstudierten Ensembleszenen, eben ganz im kanadischen Stil. Trotz Hausbesetzungs-Motto herrscht in dem kleinen Viermaster, besucht beim Gastspiel auf dem Hafenplatz in Neuchatel, übrigens eher intime Wohnzimmer-Atmosphäre – die besten Plätze bieten Sofas direkt auf der Spielfläche. Das Publikum reagierte begeistert, uns eingeschlossen. Das moderne Konzept des Direktionsehepaars Jocelyne und Heinrich Gasser und ihrer Kinder geht offensichtlich auf. In diesem Jahr feiert das schmucke Unternehmen übrigens seinen 20. Geburtstag.

 
Yi Shen, Konrad Utzinger und Jonas Egli, Xiangye Li und Jing Xu

Die jüngste Gasser-Tochter Jessica eröffnet den Reigen der artistischen Darbietungen. Es ist ganz und gar erstaunlich, was die erst 12-Jährige am Solotrapez alles zeigt – von kontorsionistischen Tricks bis hin zu variantenreichen Abfallern am schwingenden Trapez. Auch die folgende Darbietung wird von Schweizern gezeigt: Konrad Utzinger und Jonas Egli lassen Diabolos durch die Luft fliegen, in schwierigen Kombinationen, einzeln und zu zweit – unter großem Jubel aus den Zuschauerreihen. Ganz klassische Disziplinen demonstrieren Artisten aus China: Xiangye Li liegt auf dem Rücken auf einem Podest; mit ihren Füßen balanciert sie einen Turm aus neun Holzbänken, den ihre Partnerin Jing Xu errichtet und auf den diese hinaufklettert – bis sie auf der obersten Bank unter anderem einen einarmigen Handstand zeigt. Der Chinese jongliert im Anschluss eine Vase auf dem Kopf, die er mit leichtem Kopfnicken bewegt, und fängt eine große Vase, eher schon einen „Blumenkübel“, mit dem Nacken.


Marie-Andrée Lemaire, Darkan Kambyshev

Schön, dass es auch im modernen Circus etwas zu lachen gibt: Die Kanadierin Marie-Andrée persifliert im langen blauen Kleid und mit Stola um den Hals eine Pop-Sirene à la Whitney Houston – große Gefühle, noch größere Gestik und zunehmend schräge Töne vereinen sich zu einer hinreißend lustigen Comedy-Nummer. Später erzählt die Künstlerin in mehreren Auftritten mit Partner die Geschichte einer Braut, die sich doch noch einmal nach einem anderen umsieht. Nach der Pause schwebt Darkan Kambyshev an Strapaten unter dem Zeltdach, während einige Mitglieder des Ensembles scheinbar noch schlafen. Zu ruhigen Tönen à la Buena Vista Social Club zeigt er seine kräftezehrende Arbeit. Ein besonders interessanter Trick: Der Kasache wickelt die Bänder um seine angewinkelten Ellenbogen, bis er in mehreren Metern Höhe hängt und saust dann kopfüber an den Strapaten in die Tiefe.


Terry Crane, Joachim Ciocca

Der Schweizer Joachim Ciocca ist nach einem kurzen Auftritt im ersten Programmteil nun noch einmal auf dem Einrad zu sehen. Er bewegt das Rad teilweise nur mit einem Fuß, den er direkt auf den Reifen setzt, und glänzt mit einem „abgefahrenen“ Repertoire. Hoch hinaus geht es wieder bei der Doppeltrapez-Arbeit der jungen Chinesinnen Chen Xi (17) und Chang Liu (13). Sehr sicher präsentiert die Kanadierin Marie-Ève Dicaire ihr anspruchsvolles Repertoire der Handstandartistik. Nur das „Trainings-Outfit“, das ihr für die Show verpasst wird, trübt den Gesamteindruck – auf dem Foto im Programmheft trägt sie ein hübsches Kleid. Ein besonderes Ausrufezeichen setzt dann noch Terry Crane aus Großbritannien am Vertikalseil – er nutzt den Klassiker wie ein ganz neues Requisit, mit Fesslungen und Entfesslungen, die sich von der üblichen Vertikalseil-Arbeit stark unterscheiden und daher positiv überraschen.

Für ein wirbelndes Schlussbild versammelt sich das Ensemble zu einer temporeichen Gruppenjonglage mit Passings bis zum doppelten Zwei-Mann-Hoch. Nach dem Finale mit vielen Zugaben und noch mehr Applaus können die Besucher im Vorzelt noch mit den Artisten plaudern – eine schöne Idee, die die familiäre Atmosphäre trotz „Hausbesetzer-Thema“ unterstreicht.

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Text: Markus Moll; Fotos: François Dehurtevent und Sven Rindfleisch